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DIE FURCHE 18.04.2024

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REZENSION Von Maria

REZENSION Von Maria Renhardt „V ater schwer krank! Komm rasch!“, heißt es in einem Telegramm der Mutter an die Tochter, die im fernen Kasachstan einen obligatorischen Arbeitsdienst absolviert. Noch ahnt man nicht, dass die Rückkehr zur Familie unter einem ominös agierenden diktatorischen Machtapparat langwierig und gefährlich werden wird. Zugleich aber bietet diese Heimreise einen umfassenden Einblick in die gesellschaftspolitische Situation der soeben begonnenen nachstalinistischen Ära. Der österreichische Autor Vladimir Vertlib mit russisch-jüdischen Wurzeln ist im einstigen Leningrad geboren. Als Kind emigriert er mit seinen Eltern und lebt danach zehn Jahre in unterschiedlichen Ländern, bevor er in Österreich Fuß fassen kann. In einer Vorbemerkung zu seinem Roman verweist er auf den „realen historischen Hintergrund“ dieser Prosa. Sie sei inspiriert „von Erzählungen“ seiner „Mutter und anderer Verwandter“. Bei einer Lesung im Literaturhaus Salzburg sagt Vertlib, dass die Geschichten seiner Mutter für ihn immer eine Art „Fluchtpunkt in ein fiktives, projiziertes Russland“ gewesen seien, quasi eine Art „Gegenheimat angesichts der tristen Realität der Migration“. Für seinen Roman habe er den Stoff komprimiert und mit Fantasie angereichert. Im Mittelpunkt der Rahmenhandlung steht Lina, eine Studentin, die die Geschichte der Mutter repräsentiert. Nach dem Erhalt der Nachricht macht sie sich sofort auf den Weg, in der Hoffnung, ihren kranken Vater noch einmal zu sehen. Sie verlässt den Arbeitsdienst, das „epochale[n] Projekt“ zur „Neulandgewinnung“, zu dem man sich „freiwillig“ angemeldet hat, um „der hellen Zukunft ein paar Schritte näher zu kommen“. Die erste Etappe der Reise bewältigt sie als Beifahrerin auf einem Traktor. Die kleine Propellermaschine, die sie danach hätte mitnehmen sollen, versäumt sie. Stattdessen fährt sie mit einem jungen Lastwagenfahrer mit, um zum nächsten Bahnhof zu gelangen. Doch nach einem verschmähten Verführungsversuch setzt er sie mitten in der Einöde an einer verlassenen Haltestelle aus. Lina weiß nicht, wo sie sich befindet und wo es den nächsten Ort der Zivilisation geben würde. Als sie sich schon fast aufgegeben hat, nähert sich ein Zug. Sie steigt ein und findet sich inmitten einer Schar von Theater leuten wieder, die nach einer Kontrolle durch die Staatssicherheit in diesen Zug zu einer „Bahnfahrt ins Ungewisse“ umgeleitet wurden. Die Reise geht abenteuerlich und in geradezu kafkaesker Manier weiter. Politische Überwachung durch willfährige Gefolgsleute, Schikanen und Zumutungen evozieren ein Gefühl des Ausgeliefertseins, das sich jedoch letztlich in großen Mut verwandelt. Linas Heimreise verbindet Vertlib mit zahlreichen Rückblenden in Familiengeschichten und mit einer scharfzüngigen Analyse des Sozialismus. Obgleich der Handlungszeitraum nur eine kurze Zeit des Jahres 1956 umfasst, entfaltet sich hier das Lebensgefühl zweier Generationen in der damaligen Sowjetunion. „MANCHMAL WAR ES FALSCH, DAS RICHTIGE ZU TUN“ „Obgleich der Handlungszeitraum nur eine kurze Zeit des Jahres 1956 umfasst, entfaltet sich hier das Lebensgefühl in der damaligen Sowjetunion.“ WILLKÜR, ÜBERWACHUNG, SCHIKANEN, ANTISEMITISMUS – ALL DAS HINDERT MENSCHEN IN DER SOWJETUNION DER 1950ER JAHRE NICHT DARAN, MUT ZU ZEIGEN. VLADIMIR VERTLIB GEHT IN SEINEM NEUEN ROMAN „DIE HEIMREISE“ BIOGRAFISCHEN SPUREN SEINER MUTTER NACH. Das Verschweigen und Vertuschen, etwa von Naturkatastrophen, Kranken und Toten, gehört zur politischen Strategie ebenso dazu wie Deportationen und Arbeitslager, das Ausnützen von Machtpositionen verbunden mit sexueller Erpressung, Vergewaltigung oder Haftstrafen. Omnipräsent ist der Antisemitismus, aber auch die Gefahr, sich mit den „falschen“ Leuten zu umgeben und somit erst recht das Straflager zu riskieren. Aufgrund der vielen getarnten Spitzel ist es kaum möglich, in der Öffentlichkeit über Wesentliches zu reden. Auch in den eigenen vier Wänden dürfen kritische Bemerkungen nur geflüstert werden. Trotz großer Einschränkungen und des massiven Hineinregierens in das Leben des Einzelnen gibt man nicht auf, und manche setzen sich sogar der Lebensgefahr durch Flucht aus. Im Salzburger Literaturhaus verweist Vertlib auf die Zäsur des Jahres 1956. Damals habe die „Entstalinisierung“ begonnen, eine Umbruchszeit, der die „Ambivalenz von Angst und Hoffnung“ eingeschrieben war. Ehemalige politische Gefangene seien damals entlassen worden, niemand habe aber gewusst, in welche Richtung es gehe. Mit rauschendem, frischem Erzähltempo vermag Vertlib die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten, selbst wenn das Geschehen in Seitenarme mäandert und immer wieder neue Ungeheuerlichkeiten zutage gefördert werden, während sich mit diesen Fenstern in die Vergangenheit eine Epochenskizze entblättert. Zugleich erhellt sich die Sicht auf eine Welt, die gebrochen durch den Spiegel der Zeit erschreckend aktuell erscheint und zum Teil sogar an heutige politische Mechanismen erinnert. Die Heimreise Roman von Vladimir Vertlib Residenz 2024 350 S., geb., € 25,– 12

REZENSION Atropa belladonna Selbe Stadt, anderer Planet Roman von Dominika Meindl Picus 2024 205 S., geb., € 22,– DAS DOPPELTE HALLSTATT Von Anton Thuswaldner W as verbindet die Figuren in diesem Roman, denen Dominika Meindl in ihrem literarischen Debüt „Selbe Stadt, anderer Planet“ ihre Aufmerksamkeit schenkt? Johanna kommt nach dem Tod ihrer Eltern nach Hallstatt zurück, um als praktische Ärztin ins Haus ihrer Kindheit einzuziehen. Mit ihrer Zwillingsschwester, die sich als Tischlerin nie aus dem Ort fortbewegt hat, findet sie sofort wieder zu einem vertraulichen Verhältnis. Schnitt: Andrej, ein Slowene, zieht mit seiner Familie nach Hallstatt, Integration kein Problem, seine Frau stirbt, er ist der gute Kerl, rundum beliebt. Schnitt: Der Chinese Ren treibt sich in der Gegend um, klar, dass er etwas vorhat. Die Einheimischen, die Zugereisten, der Fremde, das ist die Konstellation, aus der Meindl einen Heimat roman mit Widerhaken entwickelt. Der Chinese steht in Diensten seiner Regierung, um sein Land mit touristischen Innovationen nach vorn zu bringen. Er, heimlich als Kundschafter unterwegs, steht für den klassischen Typus, für den die Geldvermehrung zählt und dem dafür keine Idee zu blöd ist. Hallstatt hat er im Auge, weil es als Attraktion in China nachgebaut werden soll. Seitenverkehrt zwar, aber was macht das schon, wenn man sich damit eine Reise nach Europa spart. Gleichzeitig soll die Kopie als „riesiges Wohnprojekt für die wachsende chinesische Mittelschicht“ Profit einbringen. Andrej dagegen arbeitet mäßig erfolgreich an Konzepten für einen sanften Tourismus, er findet die Idee des doppelten Hallstatt im Sinne verkürzter Reisestrecken nicht einmal so übel. Die Zwillingsschwestern machen Ernst, schauen sich das potemkinsche Dorf der erschwindelten Authentizität selbst an und erschaudern ob dessen Banalität. Das ist erfrischend unterhaltsam erzählt. Die Figuren bekommen eine eigene Identität, indem sie alle in ihrer eigenen Geschichte stecken, sodass sie mehr sein dürfen als reine Funktions träger in einem Thesenroman über Wahrheit und Fälschung. Gern gibt sich Dominika Meindl im Zeichen des Witzes sprachlich etwas überkandidelt: „Meine Zunge lag wie eine fette, tote Muräne in ihrer Höhle.“ Aber das ist eben Meindl, das kann man ihr nicht nehmen. PANORAMA DER NEUNZIGER JAHRE Von Katharina Tiwald G ott sei Dank gibt es Zeitungen. Wo wäre sonst Platz für die Kunst der Kolumne? „Kleine Prosa“ ist der zu Unrecht bescheidene Untertitel dieses Bands von FURCHE-Redakteurin Manuela Tomić. Er enthält die Texte, die unter dem Titel „mozaik“ alle zwei Wochen in der FURCHE erscheinen und genau das sind: ein großes Ganzes in Einzelteilen. Hier wird der Spielplatz „Kolumne“ mit seiner Offenheit in Richtung literarischer Zyklus bestmöglich genutzt. „In der ersten Schulklasse stammelte ich“, so beginnt diese Saga eines Kindes, das aus Bosnien stammt und mit noch nicht ganz sieben Jahren in eine Kärntner Schule gesteckt wurde. „Die Zunge zauderte“: Durch all die Blitzlichter, die sich zu einer Collage fügen, zieht sich diese poetische Bewegung – vom Hindernis zur sprachlichen Möglichkeit. Tomić nutzt die Zwischenräume, schafft ein Kippbild zwischen dem Da und dem Dort, leichtfüßig, die Tür zum Surrealen angelehnt und mit herrlicher Selbstironie. In einem der Texte lesen wir vom Scheitern der werdenden Journalistin, als sie eine Kollegin nach Sarajevo begleitet. Das Fazit am Ende der Seite, nämlich: „Ich korrespondiere lieber im Inland mit meinem ausländischen Selbst“, benennt punktgenau das ästhetische Programm dieses Kolumnenkosmos. Der Krieg, der den Umzug ins neue Leben nach Österreich notwendig machte, ist im Hintergrund immer präsent. Wir lesen ihn mit: im mit Festtagsessen gefüllten Kühlschrank, der zurückgelassen werden muss, in den Dinaren, die Großvater Ivo müde schlichtet. Gleichzeitig öffnet sich hier ein Panorama der 1990er Jahre, das vielen bekannt vorkommen wird: das Amalgam im „elfjährigen Mäulchen“, die „militante Turntante“, Gameboy und Bravo – und das Liederbuch „Komm, sing mit“ samt „Mannesmut“, damals unhinterfragt. Das alles liest sich schwerelos, als würde weder Mühe dahinterstecken noch die Zumutung des Erlebten. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich die Komponente, die diese Leichtigkeit erzeugt: in jedem Text setzt sich die Erzählerin in Beziehung zu anderen. Es sind Einlassungen des sanften Wunderns, aber vor allem Zuneigung zu allem Menschlichen. Zehnfingermärchen Kleine Prosa von Manuela Tomić Wieser 2024 108 S., geb., € 21,– 13

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