REZENSION CYBORGS UND ZERSTÖRTE NATUR Von Sabine Schuster E ine atemberaubende Science-Fiction- Geschichte über einen modernen Kindersoldaten erzählt Andrea Grill in ihrem neuen Roman „Perfekte Menschen“. Ihr historisches Vorbild ist die mythische Figur des Ballaban Badera, der Mitte des 15. Jahrhunderts im albanischen Dorf Mat zur Welt kam. Auch der junge Held Michael stammt aus Mat und fällt einem zerstörerischen System zum Opfer. Gleich in der ersten Szene des Romans versinkt er, wenige Monate alt, „als silbriger Tropfen“ im Fluss vor dem Haus seiner Eltern. Diesmal kann ihn seine Mutter noch retten, doch am Tag nach dem Unfall legt sich dichter Nebel über die Gegend, die im Jahr 2050 kein abgelegenes albanisches Dorf mehr ist, sondern als Teil der EU „heillos verbunden mit dem übrigen Europa“. An diesem Tag beginnen die Entführungen – zahlreiche Buben im Alter von acht Jahren werden von bewaffneten Truppen aus ihren Familien gerissen und in ein geheimes Camp gebracht. Michael gehört dazu und erlebt Isolation, Umerziehung und körperliche Gewalt: „Nur ohne Vergangenheit und Zukunft wurde man ein vollkommener Krieger. Nur wer das Leben nicht liebte, war ein perfekter Mensch.“ Michael leistet Widerstand und kämpft mutig gegen das Vergessen, bis ihm mit zwei Kameraden eine spektakuläre, märchenhaft anmutende Flucht gelingt. Auf einem Tandem radeln die Buben aus dem brennenden Camp und – so möchte man gerne glauben – aus der ganzen Dystopie hinaus. Bye-bye, George Orwell, auf zu neuen Abenteuern! Ein Seitensprung in die Jugendliteratur, der als bunte Kinderzeichnung auf dem Buchcover leicht für Missverständnisse sorgen wird, denn natürlich gibt es kein Happy End. Bestechend sind das vielseitige Wissen und die große Erzählfreude, mit denen die Evolutionsbiologin Andrea Grill ihr von „Multi nationals“ kontrolliertes, hochtechnisiertes Europa lebendig werden lässt. Zerstörte Natur, privatisierte Wasserreserven, Cyborgs und eine ruhiggestellte Wissenschaft ergeben darin kein schönes Bild. „Speculative Fiction“ nennt Margaret Atwood diese Form des Zukunfts romans, die totalitäre Welten entwirft, denen unsere Gegenwart zunehmend nahekommt. Perfekte Menschen Roman von Andrea Grill Leykam 2024 167 S., geb., € 24,50 Datura stramonium Von Maria Renhardt „E in Listicle verhält sich zum seriösen Journalismus wie ein McDonald’s-Koch zu einem Gourmet-Chef. Wie Fließbandarbeit, nur mit noch mehr Rückenproblemen. Malen nach Zahlen, ohne jeden künstlerischen Mehrwert.“ Im neuen Roman des österreichischen Autors Elias Hirschl geht es um Content-Writing, eine eintönige, gedankenlose, stumpfsinnige Arbeit in einem Listicle-Department mit angeschlossenem Videound Meme-Department. Sein Gespür für den Puls der Zeit hat Hirschl bereits in seinem Roman „Salonfähig“ gezeigt, in dem er die Generation der Slim-Fit-Politiker satirisch porträtiert und in einer ziemlich bösen gesellschaftskritischen Karikatur aufgehoben hat. Als Vertreter der jungen Autorengeneration interessiert sich Hirschl für die Trends der Gegenwart, die dystopisch bereits düstere Schatten in die Zukunft werfen, so in seinem neuen Roman „Content“, der zum Großteil während seiner Stadtschreiberzeit 2022 in Dortmund entstanden ist. Hier präsentiert er ein monotones Arbeitsfeld in einem Büro gebäude über einer ehemaligen Kohlenzeche direkt über dem alten Förderschacht und eine Landschaft, die sich aufgrund des jahrzehntelangen Kohleabbaus stark verändert hat. Geprägt von massiver Stadtflucht wirken diese Zonen wie „abgeschaltete Satelliten“, „die ein schwarzes Loch umkreisen“, wie eine verwahrloste Geisterstadt mit 10
REZENSION UNWIRTLICHE ZEITDIAGNOSE WAS SIND DAS EIGENTLICH FÜR LEUTE, DIE LISTICLES FÜR DIGITALE WELTEN PRODUZIEREN, UND WIE LANGE DAUERT ES NOCH, BIS WIR UNS SELBST WEGRATIONALISIERT HABEN? ELIAS HIRSCHL BLICKT IN SEINEM ROMAN „CONTENT“ AUF EIN LEBEN MIT ZUNEHMEND NEUEN TECHNOLOGIEN UND KI. leeren Geschäftslokalen und vergilbten Plakaten, unter der der Boden aufgrund der Aushöhlungen zu wanken beginnt. Die Protagonistin ist neu in dieser Content-Farm. Ihre Kollegin Karin führt sie ein und verdeutlicht ihr, dass fast alle perspektivlosen Kreativen mangels künstlerischer Alternativen diese Arbeit als Übergangsjob betrachten. Das Verfassen der Listicles, in denen die Nummer sieben („sie wird Sie zum Weinen bringen“) zum „speziellen Element“ wird, fällt ihr anfangs nicht leicht. Sie macht wie alle in diesem Konzern die typische „Smile-Simile-Entwicklung“ durch. Nach der ersten Depression folgt eine Phase der Ener gie, die einem trotz der Sinnlosigkeit der Arbeit eine gewisse Erfüllung suggeriert, bis der plötzlich entstandene Flow beispielsweise in eine „nihilistische Lebensverweigerung“ oder wie bei Karin „in eine Art religiösen Wahn“ mündet. Aus unerfindlichen Gründen fügt sie sich mit einer Hydraulikpresse eine drastische Selbstverletzung zu. Das Video davon geht viral. In das Geschehen zieht Hirschl mit der Figur des Journalisten Finn Gerber subtil eine reflexive Metaebene ein, in der sich Fragen des Autors an die immer absurder werdende digitale Welt bündeln. Gerber möchte mit seinen investigativen Recherchen den sinnentleerten Tätigkeiten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Content-Farm auf den Grund gehen: „Warum dieser seltsame Stil, warum diese seltsamen Artikel und vor allem die Videos, deren Narrative keinerlei Sinn ergeben!“ Die Suche nach dem fehlenden Profit wirft Fragen nach Machenschaften auf. Ist Geldwäsche im Spiel, eine „regierungsgestützte Desinformationskampagne“, eine Briefkastenfirma? Die Protagonistin selbst zieht sich sukzessive immer mehr in eine künstliche Welt zurück. Die als Leitmotiv eingesetzten Plastikkakteen, denen gegenüber sie fast eine Art von Zuneigung empfindet, markieren den Anfang. Zu Hause experimentiert sie mit Bots, die aufgrund ihrer Program- „Höchst unheimlich belichtet Hirschl digitalen Optimierungswahn und sinnentleerte Content- Produktion in einer zunehmend bedrohten Gesellschaft.“ mierung aufeinander reagieren. Allerdings müssen sie für ihre Weiterentwicklung hin und wieder mit neuen Informationen gefüttert, zugleich aber auch zensuriert werden. Die Ich-Erzählerin beobachtet die Prozesse und bewertet die generierten Texte, die immer besser werden, ja fast schon „menschliche Wärme ausstrahlen“. Eines Tages stellt sie fest, dass sie gehackt wurde und ihre gesamten privaten Accounts von jemand anderem bedient werden. Besonders auffallend ist ihr aktiv betreuter Instagram- Account mit zahlreichen persönlichen Einblicken in ein Leben, das sich ganz woanders abspielt und sich immer mehr verselbstständigt. Die Fotos weisen Ähnlichkeiten mit realen Personen in ihrem Leben auf, aber sicher ist sie sich nicht. Mit der Zeit wird für sie sogar die Kommunikation sekundär. Irgendwann begibt sie sich in das Leben einer anderen und scheint darin aufzugehen. Hirschl lässt die Handlung an einigen Stellen bewusst ins Absurde und Skurrile ausfransen. Die technischen Innovationen verändern den Lebensalltag rasant und geraten fast außer Kontrolle, sodass Parallelwelten entstehen. Diese fundamentale Revolution manifestiert sich im Roman in der schillernden Ambivalenz der KI und in damit verbundenen Ängsten. Mit der Integration der Digitalisierung ins eigene Leben, was zunächst durchaus hilfreich und interessant erscheint, wird die Sorge um die eigene Ersetzbarkeit verknüpft: „Ein Algorithmus kriegt kein Burn-out. Eine KI sucht nicht um Krankenstand an, fordert keine Gehaltserhöhung, versucht keine Gewerkschaft zu gründen.“ In Gesprächen entstehen düstere Zukunftsvisionen, in denen die „Autarkie des Internets“ visualisiert wird. Menschliche Arbeit stellt sich bald als Ressourcenverschwendung dar. In diesem Roman spiegeln sich bizarre Zukunftsvisionen der folgenden Generationen als unwirtliche Zeitdiagnose wider. Die Natur präsentiert sich mehr als fragil, Katastrophen brechen herein, Druck und Stress führen zu Depressionen und Ängsten, Start-up-Gründer powern sich aus und kämpfen mit wirtschaftlichen Zwängen, der Mensch zieht sich aus dem Dienstleistungssektor mehr und mehr zurück, stattdessen werden Drohnen eingesetzt, Fake News und Trollfabriken bemächtigen sich medialer Räume. Höchst unheimlich belichtet Hirschl digitalen Optimierungswahn und sinnentleerte Content-Produktion in einer zunehmend bedrohten Gesellschaft. Content Roman von Elias Hirschl Zsolnay 2024 223 S., geb., € 23,70 11
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE