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DIE FURCHE 18.04.2024

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REZENSION EIN KOLLEKTIV

REZENSION EIN KOLLEKTIV DER GLÜCKSELIGEN ENTSTEHT MICHAEL SCHARANG ENTWIRFT IN „DIE WAGENBURG ODER DIE FLÜCHTLINGE VON RATZ“ DIE IDYLLISCHE UTOPIE EINER ERNEUERTEN DEMOKRATIE. Von Anton Thuswaldner W ürde ich mich an die Mengen von Wein und Slibowitz halten, die im jüngsten Roman von Michael Scharang wie nebenbei vertilgt werden, wäre die Rezension jetzt nicht geschrieben. Es wird ein Ritual daraus gemacht, bei jedem erfreulichen und bedrängenden Ereignis sich zusammenzusetzen, um bei Brot, Schinken und reichlich Alkohol die Lage zu besprechen. Und zu besprechen gibt es tatsächlich genug, herrscht doch der Ausnahmezustand in der österreichischen Provinz nahe der tschechischen Grenze. Das Mahl und das Gespräch bilden eine unauflösbare Einheit, die für Zusammenhalt und Austausch steht. Eine Leichtigkeit kommt ins Spiel, die Erträglichkeit schafft, wo es eigentlich brennt. Denn Scharang macht ernst damit, literarisch durchzuspielen, wozu die Gesellschaft nicht bereit ist, seine Vorstellung einer idealen Gemeinschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Das ist ohne Widerstand gegen die Verhältnisse, wie sie nun einmal sind, nicht zu haben. Mit leichter Hand wird subversives Gedankengut gestreut, ein echter Scharang eben. In diesem Jahr ist er 83 Jahre alt geworden, zu seinen Ideen in jungen Jahren steht er immer noch. Vor sieben Jahren hätte Michael Scharang mit dem Goldenen Ver - dienst zeichen der Stadt Wien ausgezeichnet werden sollen. Er lehnte die Ehrung mit folgender Begründung ab: „Von Kindheit an habe ich als ungerecht empfunden, dass körperliche Arbeit weniger geschätzt wird als geistige. Für mich ist eine gute Straßenbeleuchtung ebenso wertvoll wie ein guter literarischer Text.“ Das sagt etwas darüber aus, wie Scharang Demokratie versteht. Genauer unternimmt er seine Bestimmung von Demokratie im neuen Roman. „Die Wagenburg oder Die Flüchtlinge von Ratz“ spielt in einer österreichischen Gemeinde unserer Zeit, in der Rechtsparteien Hetze für eine legitime Form des Einspruchs halten und so eine schleichende Aushöhlung von Menschenrechten betreiben. Scharang nimmt diese Verhältnisse zum Anlass, einen Gegenentwurf zum Klima der Ausländerfeindlichkeit zu erfinden, eine Utopie, zu schön, um wahr zu sein. Das macht aber nichts, der Roman als Denkspiel bildet ja nicht österreichische Verhältnisse ab, sondern nimmt diese zum Anlass, auf diesem Hintergrund eine mögliche andere, ideal gezeichnete Wirklichkeit auszugestalten. Theoretisch hat Scharang diese Chance der Umdeutung der Welt in seinem Essay „Was ist Kunst?“ schon vorbereitet. Würde sich Kunst damit begnügen, „Abbild, Widerspiegelung zu sein, käme kein Kunstwerk zustande“. Der Doppelcharakter mache sie aus, „Spiegel der Natur zu sein und Neues zu schaffen“. Die Demokratie, zu deren Kernstück die Charta der Menschenrechte zählt, ist in Gefahr, das macht den Abbildcharakter des Romans aus. Die List der Demokratie besteht darin, sich dagegen zur Wehr zu setzen und die Polit-Randalierer auflaufen zu lassen. Daraus entsteht das Neue. Eine Gesellschaft wird porträtiert, in der jeder Einzelne an der großen Idee eines Kollektivs teilhat, in dem alle gleichberechtigt sind und Gewalt oder Verbrechen aus ge spart bleiben. Voraussetzung für die so allumfassende friedliche Gesinnung ist das Bezahlsystem, das keine Unterschiede zwischen geistiger und körperlicher Arbeit zulässt und geschlechterneutral ist. Etwas gar lieb kommen die Pioniere einer erneuerten Demokratie schon rüber, wenn sie mit Eifer und Begeisterung für ihre Sache brennen „Würde sich Kunst damit begnügen, ‚Abbild, Widerspiegelung zu sein, käme kein Kunstwerk zustande‘. Der Doppelcharakter mache sie aus, ‚Spiegel der Natur zu sein und Neues zu schaffen‘.“ und Konflikte ausbleiben. Nur einmal wird ein junger Mann, der sich verächtlich gegenüber Frauen verhält und kein Einsehen kennt, des Dorfes verwiesen. Und schon ist Frieden eingekehrt. Wir haben es mit einer Art Robinson Crusoes zu tun, die vom Nullpunkt an nach und nach eine unerprobte Form komplexen Zusammenlebens riskieren. Ratz ist ein verwahrloster Ort, die Bevölkerung ist abgesiedelt, die Weinhänge und Äcker sind verkommen, eine sterbende, kümmerliche Gegend befindet sich im Dämmerzustand. Ein illegaler Flüchtling taucht auf, kommt mit dem Pfarrer ins Gespräch, der aus dem Kongo stammt. Der nützt die Gelegenheit, überredet ihn, die aufgelassene Bäckerei zu betreiben. Allein schafft er das nicht, also werden weitere illegale Flüchtlinge als Gehilfen geholt. Das reicht nicht. Die Fleischhauerei soll neu aktiviert werden, Wirtshäuser werden aufgemacht, die Bauern fordern Personal für ihre Betriebe, eine Fabrik wird gebaut. Die Folge: Die Insel der Hunderten von Illegalen läuft Gefahr, zerstört zu werden. „Die ausländerfeindliche Partei stellte im Parlament eine dringliche Anfrage an den Innenminister.“ Nicht, dass eine Wüste in ein florierendes Wirtschaftsgebiet verwandelt wurde, zählt, sondern die Anwesenheit der Illegalen, die unter Generalverdacht stehen, Unheimliches zu verantworten zu haben. Starke Verbündete stellen sich ein. Der berühmte Schauspieler Otto Schrank, ein leicht verfremdeter Otto Schenk, und der Großbauer Mattaschütz, die Anlehnung an den verstorbenen Getränkefabrikanten ist Absicht, verteidigen das verbotene Gesellschaftsexperiment vehement. Bei Scharang 8

REZENSION „DIE SPRACHE DER LANDSCHAFT“ Von Anton Thuswaldner ist Mattaschütz ein geläuterter Widerling, so viel Ironie darf sein, wenn man an den Betrieb des Dosenmillionärs denkt, der nicht einmal einen Betriebsrat duldete. Der große literarische Wurf ist der Roman nicht geworden, allzu idyllisch gestaltet sich das Dorfleben. Keine Figur bekommt eine besondere Identität mit eigener Geschichte, die über Andeutungen hinausgeht, alle werden nur in ihrer Funktion innerhalb des Gemeinwesens betrachtet. Das ist denn doch des Kollektivgedankens zu viel. Welche Filme werden den Flüchtlingen gezeigt, um Österreich zu verstehen? Am beliebtesten sind „Mein Mörder“, „Schöne Tage“ und „Die Kameraden des Koloman Wallisch“. Einer stammt von Michael Scharang, ein anderer von ihm und seiner Tochter. Mit gutem Willen lassen wir das als ironische Volte durchgehen. Helleborus niger M it Naturgedichten ist das so eine Sache. Das Preislied auf Schönheit von Wald und Wiese mündet schnell in ein Waldund-Wiesen-Allerlei, verlogen schon deshalb, weil die Gefährdung der Natur ausgespart bleibt. Mit dieser Art von Lyrik, sowieso in keinem Verlag mit ernsthaften Absichten zu finden, muss sich niemand länger aufhalten. Marianne Jungmaier, 1985 in Linz geboren, leistet etwas anderes, auch wenn ihre Bewunderung für die Flora in jeder Zeile aufscheint. Sie himmelt sie nicht auf naive Weise an, lieber stellt sie eine Beziehung her zwischen einem lyrischen Ich als Beobachter und der Pflanzenwelt. Es bleibt ein Spalt zwischen Ich und Welt, in dem sich die Fremdheit eingenistet hat. Sosehr das Ich auch angewiesen ist auf die Natur, um zu sich selbst zu kommen, es weiß, dass sie stets das Andere, das eigentümlich Besondere bleiben wird. Zwei Wege findet die Autorin, sich mit dieser fernen Nähe abzufinden. Einmal taucht sie kindlich ab im Blätterwerk eines Baumes, der als Requisit fürs Spiel genutzt wird. Das Kind findet „Äste / tief genug, Stufen zu sein / und Reckstangen / und / pathways to escape“. Dort verschwindet das Kind auf unbestimmte Zeit, „bis man / (wieder und wieder) / meinen Namen / und mich damit / zurück / in die Wirklichkeit rief“. So sieht die lebenspraktische Art der Naturaneignung aus, in der schon der Vorschein dessen steckt, was der Erwachsenen wichtig werden wird: Kontemplation. In beiden Fällen geht es um die Ausbildung einer eigenen Welt, fern von den Zumutungen der Welt der Pflichten und Bestimmungen. Dann geht es darum, „die Sprache der Landschaft“ zu entziffern, wenn ein Baum mit „hängenden Armen“ für „eine Öffnung und Einladung / zu schweigen“ steht. Mit einer „Matrjoschka“, einer Puppe in der Puppe in der Puppe, vergleicht das Ich die Natur. Das „Insektengetummel“ ist ein Hinweis darauf, dass es „eine Welt in der Welt“ gibt: „hier könnte ich / wenn es das gäbe / ewig bleiben / und sein“. Es braucht nicht viel, um zu verstehen, dass von Marianne Jungmaier noch einiges zu erwarten sein wird. Die Wagenburg oder Die Flüchtlinge von Ratz Roman von Michael Scharang Czernin 2024 240 S., geb., € 25,– Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens Gedichte von Marianne Jungmaier Mit Illustrationen von Ursula Kiesling Otto Müller 2024 64 S., geb., € 24,– 9

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