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DIE FURCHE 18.04.2024

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REZENSION Fortsetzung

REZENSION Fortsetzung von Seite 3 die Rekonstruktion von Androtoken macht, da sie gerne einen Sohn hätte. Doch Ruth hat kein Interesse daran, da Männer im Krieg Ruths Kind getötet haben und gewalttätig sind. Sie seien ein „Fehler der Natur“, der drohte, „den Planeten in den Abgrund zu stürzen“. Die Ansichten und Kämpfe zwischen alten und jüngeren Frauen über die Zukunft spitzen sich zu, und schließlich geht es um Leben und Tod. Im Epilog wird dann der Sieg der Jungen gefeiert, es gibt Mädchen und Buben, die gemeinsam und friedlich aufwachsen. Wie die Mutation der Androtoken gelungen ist und die Autokratie beendet wurde, bleibt ein Geheimnis und die Frage offen, was uns die Autorin eigentlich erzählen möchte. Zwei Generationen von Frauen stehen im Zentrum von Stefanie Sargnagels neuem Buch „Iowa“, in dem sie ihren „Ausflug nach Amerika“ ebenso lakonisch wie unaufgeregt protokolliert. Sie soll am privaten Grinell College Creative-Writing-Kurse abhalten und hat, weil sie nicht gerne allein reist, die Berliner Musiklegende Christiane Rösinger mitgenommen, die am College ein Konzert geben wird. Sargnagel, Ende dreißig, zählt zu den Millennials, deren Blick auf die Welt von den digitalen Medien geprägt ist und die sich mit ihrem Kinderwunsch herumschlagen, die rund sechzigjährige Rösinger zur pragmatischen Generation der Boomer, die als Mutter dreier Kinder für das Alleinleben plädiert. Beide kämpfen sie mit ihrem jeweiligen Alter, und Rösinger, die sich immer wieder mit „korrigierenden Fußnoten“ in den Text Sargnagels einmischt, ist unangenehm berührt, wenn sie für „Steffis“ Mutter gehalten wird. Sargnagel bewegt sich als Ethnologin durch das ländliche Iowa und vergleicht ihre Eindrücke immer wieder mit Erinnerungen an Fernsehserien wie die „Simpsons“ oder die Realityserie „Real Housewives of Beverly Hills“. Ihr „Ausflug nach Amerika“ ist eine gelungene Roadstory über die amerikanische Provinz, voller Komik und Empathie für Menschen und für Kuriositäten wie etwa die „Outdoor World“ der Stadt Des Moines, ein Disneyland für Jagdbegeisterte. „Iowa“ ist aber auch ein Plädoyer für eine respektvolle Frauenfreundschaft auf Augenhöhe, die Distanz bewahrt und Differenz akzeptiert, und die schonungslose Selbsterkundung einer Feministin mit all ihren Wider sprüchen: „Weiblichkeit ist ein Schauspiel, das ich nicht beherrsche.“ Iowa Ein Ausflug nach Amerika von Stefanie Sargnagel Rowohlt 2023 301 S., geb., € 22,70 Eskalationsstufen Roman von Barbara Rieger Kremayr und Scheriau 2024 229 S., geb., € 24,– KEINE CHANCE ZU FLIEHEN Von Sabine Schuster K eine Chance zu fliehen hat die Erzählerin Julia im Vorspann von Barbara Riegers Roman „Eskalationsstufen“. „Ob es ein schönes Bild sein wird“, fragt sie sich noch, während sie auf einem Fell liegt, in Fesseln und mit einem Klebeband über dem Mund. Während sie hofft, dass alles nur ein Traum gewesen sein wird. Während sie wartet, dass ihr Freund Joe wiederkommt, um sie zu töten und sie anschließend zu malen. Die kurze Szene antizipiert das Ende einer toxischen Beziehung, die dem Modell von Jane Monckton Smith folgend acht Stufen durchläuft, bevor der Mann seine Partnerin umbringt. Der exzentrische Joe entdeckt die attraktive Julia bei einer Vernissage, lobt ihre Zeichnungen, lädt sie zu seiner eigenen Ausstellung ein. Er zeigt verstörende Bilder von verschwundenen und ermordeten Frauen. Julia spürt die Gefahr und ist gleichzeitig fasziniert von Joes Charisma, mit dem er sein Umfeld geschickt manipuliert. Die Erzählung vom traumatisierten Künstler, der das Verschwinden seiner Ehefrau Maria nicht verarbeiten kann, und das Helfersyndrom der engagierten jungen Deutschtrainerin greifen wie ein Uhrwerk ineinander. „Joe braucht mich, um zu überleben“, sagt Julia leise zu sich selbst, als sie, bereits in Sicherheit, ein letztes Mal zu ihm zurückkehrt. Schicht für Schicht hat Joe sie aus ihrer Partnerschaft, ihrer Familie, ihrer Arbeit herausgeschält, sie gefügig gemacht, die Schleifen um sie festgezogen. Julia hat es zugelassen. Zu Beginn der Pandemie flüchten die beiden aus der Stadt in seine Jagdhütte. Dort ist auch Maria verschwunden. „Eskalationsstufen“ ist nach „Friss oder stirb“ und „Bis ans Ende, Marie“ Barbara Riegers dritter Roman über die Abgründe menschlicher Beziehungen, und es gelingt ihr hier ganz hervorragend, das allgegenwärtige Thema Femizid zugleich sensibel und mit hohem künstlerischem Formbewusstsein anzupacken: Ihre Sprache ist rhythmisch, umkreist Gedanken in elliptischen, tastenden Sätzen, inszeniert Verunsicherung, Übergriffe und Gewalt wie einen Tanz. Ein Auszug aus dem Text wurde mit dem Frauenliteraturpreis der Stadt Linz ausgezeichnet – ein guter Anfang! 4

REZENSION DIABOLISCHE BOTANIK HELMUT EISENDLES NEU AUFGELEGTES TEUFLISCHES HANDBUCH „TOD & FLORA“ IST EINE RAFFINIERTE PROVOKATION. Von Ingeborg Waldinger D er Mensch und die Wunderwelt der Pflan - zen – was für eine abenteuerliche Geschichte! Das Wissen um ihre Genießbarkeit und um ihre Wirkung auf Organismus und Psyche wurde in einem sehr, sehr langen Prozess von „Versuch und Irrtum“ erworben. Welches Grünzeug heilt oder schadet, hängt noch dazu oft von der Dosis ab. Das wussten schon die Alten und setzten Pflanzengifte recht emsig ein: in der schwarzen Magie, als Gottesurteil oder zur Ausschaltung unliebsamer Rivalen. Hartnäckig hält sich das Stereotyp, wonach Giftmorde eine spezifisch weibliche Tötungsart seien. Es speist sich aus der traditionellen Rolle der Frau als Köchin und Krankenpflegerin, aus der Mythologie (Hekate, Kirke, Medea) wie auch aus dem Hexenwahn des Spätmittelalters. Über die Giftmischereien historischer Frauengestalten zeigt sich die Fachwelt nicht immer einig. Unstrittig pflanzenkundig war der österreichische Autor Helmut Eisendle (1939–2003). Der gebürtige Grazer hatte neben Psychologie und Philosophie auch Biologie studiert; zudem arbeitete er eine Zeitlang als Vertreter eines Pharmakonzerns. In den 1970er Jahren wandte er sich der Schriftstellerei zu, mit einem Hang zum Dialog und Disput. Aus jener Zeit stammt sein Kompendium mit dem sprechenden Titel „Tod & Flora“, das erst 2011 im Verlag Jung und Jung erschienen ist. Es wurde nun in „behutsamer Überarbeitung“ neu aufgelegt. Das Nachwort der Autorin und Juristin Astrid Wintersberger hebt die „seelenreinigende Wirkung“ und „erfrischende Amoral“ des Werks hervor, reiht es in die Tradition des schwarzen österreichischen Humors und in den rechtsgeschichtlichen Kontext der Entstehungszeit ein. „Tod & Flora“ ist ein teuflisches Handbuch, ein Mix aus Herbarium und Fallbuch (engl. casebook). Fall- bücher schlagen eine Brücke vom Buchwissen zu dessen konkreter Anwendung; insbesondere Juristen, Mediziner oder Pharmakologen setzen auf diese lösungsorientierten Lehrbücher. Helmut Eisendle nutzte das Modell des Hand- bzw. Lehrbuchs mehrfach, um seine wissenschaftlichen Kompetenzen in das Reich der Fiktion hinaus zu entgrenzen. Dem Leser wies er dabei gern einen aktiven Part zu. In den „Einleitenden Betrachtungen“ zu „Tod & Flora“ präsentiert er sein Glossar als „Werkzeug für den asthenischen Täter“. Damit meint er die kraftlose Mehrheit der Gesellschaft, die unter dem Diktat der „sthenischen“ (kraftvollen) Minderheit stehe. Mit rechtsphilosophisch-sozialpsychologischen Argumenten legitimiert der Autor die im Buch aufgezeigten Methoden „Von A wie Alraune bis Z wie Zaunrübe reicht der giftige Bogen. Selbst für Funkensehen ist ein Kraut gewachsen. Primär wird aber auf Schauriges abgezielt.“ zur Verschiebung der „Macht- und Glücksverhältnisse“ zugunsten der Schwachen. Die Anwendung bleibe allerdings „der Gewissensinstanz des jeweiligen Ausübenden“ unterstellt. Seine Zurückweisung jeder persönlichen Verantwortung ist zu lesen wie das ganze Kompendium: als eine intellektuelle Kampfansage. Eisendle war ein raffinierter Provokateur – und ein scharfsichtiger Psychologe, wovon schon seine Dissertation über das „Fehlverhalten beim Lösen von Intelligenzaufgaben als Information über die Struktur der Persönlichkeit“ zeugte. Das mit tiefschwarzer Tinte verfasste Glossar listet dreiunddreißig Pflanzen auf, mit ihren lateinischen Namen wie diversen volkstümlichen Bezeichnungen. Die schönen Illustrationen sind Sachbüchern entnommen. Eisendle beschreibt die Gewächse zunächst im Pflanzenführerstil, macht Angaben über ihre Vorkommen, Eigenschaften und Wirkungen. Der Fokus aber liegt auf ihrer „Noxe“, der Schädlichkeit. Der Absatz „Dosis minimalis/letalis“ liefert Rezepturen zum üblen Wirkungsgrad der jeweiligen Pflanze, von der leichten Vergiftung bis zum Tod. Zur Veranschaulichung wird ein entsprechender „Kasus“ erzählt, also ein Fallbeispiel. Von A wie Alraune bis Z wie Zaunrübe reicht der giftige Bogen. Die Liste der „Noxen“ macht manchmal schmunzeln. Denn selbst für Beißtrieb, Funkensehen oder Lallen ist ein Kraut gewachsen. Primär wird aber auf Schauriges abgezielt. Das Bilsenkraut etwa, im Volksmund auch Hühnergift, Toll- oder Schlafkraut genannt, bewirkt unter anderem Irrsinn, Muskelschwäche, Lähmungen, Delirien. „Zehn bis fünfzehn Blätter oder ein zerteilter Wurzelstock führen zu den genannten Symptomen, fortgesetzter Genuss zum Tod.“ Und erst die Schachblume! Verweilt diese längere Zeit in geschlossenen Räumen, kommt es bei Anwesenden zu Ausschlägen und Verätzungen der Atmungsorgane. Sonnige Nonnen eines katholischen Klosters liefern den passenden „Kasus“. Als Rache für die absurden Züchtigungsmaßnahmen ihrer Äbtissin stellen sie „der Ehrwürdigen Mutter einen Strauß wunderschöner Schachblumen in die Kammer, mit der Bitte, ihnen zu verzeihen“. Die Musterfälle zeugen von der stillen Rache zahlloser Schikanierter, Verlachter und Betrogener, darunter sogar ein Fischer, „den deutsche Urlauber seit Jahren als Sehenswürdigkeit bestaunten“. Mit dem abschließenden Register der Krankheitszeichen garantiert Eisendle dem „asthenischen Täter“ rasches Zurechtfinden. Ihnen, werte Leserin, werter Leser, sei noch empfohlen, dieses „Lehrbuch“ sicher zu verwahren – am besten im Giftschrank. Helleborus viridis Tod & Flora Ein Glossar über die Verwendung von Giftpflanzen für den asthenischen Täter Von Helmut Eisendle Jung und Jung 2024 176 S., geb., € 25,– 5

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