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DIE FURCHE 18.04.2024

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Von Christa Gürtler

Von Christa Gürtler Foto: Styria Media Group / Marija Kanizaj Publiziert mit Unterstützung des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport Brigitte Schwens-Harrant Inhalt „keine haubitzen – berberitzen / sind unser metier, statt mörsern mäusedorn; / eher muskatnuß als musketen / und malven, salven, malven!“ In Jan Wagners Gedichtband „Steine & Erden“ erläutert die Botanik ihre Strategie. Auch die Flora, die Rainer Messerklinger als Illustration für diese Buchbeilage gewählt hat, hat es (nämlich Gift) in sich. Die Natur ist auf besondere Weise im Blick literarischer Werke dieses Frühjahrs. Divers geht es auch sonst zu: Perspektiven auf Feminismen fokussiert Christa Gürtler, und zu guter Letzt wimmeln die Insekten, dass es nur so eine Freude ist. Augen auf beim Blumenpflücken und bei der Wahl der Lektüren! 4 Keine Chance zu fliehen Barbara Riegers Roman „Eskalationsstufen“ thematisiert sensibel die Gewalt an Frauen. 5 Diabolische Botanik Helmut Eisendles neu aufgelegtes teufl isches Handbuch „Tod & Flora“ ist eine raffi nierte Provokation. 6 Eine Frage der Empathie Volha Hapeyeva plädiert in ihrem Roman „Samota“ für einen anderen Umgang des Menschen mit der Natur. 8 Ein Kollektiv der Glückseligen entsteht Michael Scharang entwirft die idyllische Utopie einer erneuerten Demokratie. 10 Cyborgs und zerstörte Natur Eine Science-Fiction-Geschichte über einen Kindersoldaten erzählt Andrea Grill in „Perfekte Menschen“. 10 Unwirtliche Zeitdiagnose Elias Hirschl blickt in seinem Roman „Content“ auf ein Leben mit zunehmend neuen Technologien und KI. 12 „Manchmal war es falsch, das Richtige zu tun“ Vladimir Vertlib geht in seinem neuen Roman „Die Heimreise“ biografi schen Spuren seiner Mutter nach. 13 Das doppelte Hallstatt Erfrischend unterhaltsam ist Dominika Meindl in ihrem literarischen Debüt „Selbe Stadt, anderer Planet“. 14 Krabbler auf dem Weg in den Frühling Bilderbücher feiern hier die bunte Vielfalt, dort die Entschleunigung und Achtsamkeit der Kleinsten. 15 Die Sprache der Bilder Hinausgelesen: Anna Kim gibt in den „Stefan Zweig Poetikvorlesungen“ Auskunft über ihr Schreiben. Bild Cover: iStock / Hein Nouwens; Bilder innen: iStock/ZU_09 W as passiert, wenn sich Frauen still auf Plätze in einer Stadt legen und nichts mehr tun? Welche Bruchlinien gibt es zwischen fünf Frauen in einer Wohngemeinschaft verschiedener Generationen? Wie sieht im Jahr 2068 in einer nahezu unbewohnbaren Welt ein Zusammenleben ohne Männer aus? Wie erleben zwei feministische Künstlerinnen die amerikanische Provinz? Das sind Fragen, die in den jüngsten Büchern österreichischer Schriftstellerinnen auf ganz unterschiedliche Art und Weise verhandelt werden. Was Mareike Fallwickl, Gertraud Klemm, Lilly Gollackner und Stefanie Sargnagel verbindet, ist die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Gesellschaft, in der die Geschlechterverhältnisse nach wie vor nicht egalitär sind, aber auch die Differenzen zwischen den diversen Feminismen immer größer werden. Schon in Mareike Fallwickls Bestseller „Die Wut, die bleibt“ war Care-Arbeit zentrales Thema. Helene stürzt sich vom Balkon, ihre drei Kinder und ihr Mann können den Alltag nur bewältigen, weil die beste Freundin der Mutter ihre Rolle übernimmt. Bei Tochter Lola wird Wut zum stärksten Gefühl. In ihrem neuen Roman „Und alle so still“ entwirft Fallwickl ein ungewöhnliches Szenario des Widerstands und der Revolte. Wieder steht die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit im Mittelpunkt. Dazu sind Frauen vor allem im geringer bezahlten Dienstleistungssektor beschäftigt und angesichts des Personalmangels zumeist überfordert. Sieben Wochentage von Freitag bis Freitag markieren die Kapitel, in denen jeweils drei titelgebende Figuren begleitet und zusammengeführt werden: Elin, eine Influencerin Anfang zwanzig, Nuri, ein neunzehnjähriger Schulabbrecher, der in mehreren prekären Arbeitsverhältnissen vom Barkeeper bis zum Fahrradkurier jobbt, und Ruth, Mitte fünfzig, die als Pflegekraft im Krankenhaus arbeitet. An einem Sonntag beginnt die Revolte: Einige Frauen, darunter Elins Großmutter, legen sich vor dem Eingang des Krankenhauses, in dem Ruth arbeitet, auf den Platz. Sie sind vollkommen still und lassen sich von der Polizei wegtragen. Täglich werden es mehr Frauen verschiedener Generationen, die sich vor einer Schule, vor einem Spielplatz und an anderen öffentlichen Orten hinlegen und ihre jahrzehntelange Arbeit in Familie und Beruf niederlegen. Der Krankenhausbetrieb bricht zusammen, sie besetzen Häuser, bilden solidarische Gemeinschaften. Die Männer reagieren mit Gewalt gegen die Frauen und mit Zerstörung. Als einzige männliche Heldenfigur solidarisiert sich Nuri mit den Frauen, er rettet seine Mutter. Die Idee der Verweigerung von Frauen in allen Lebensbereichen hat Potenzial, aber leider gelingt Fallwickl keine differenzierte literarische Darstellung. Die Implosion der Revolte schon nach drei Tagen wirkt unglaubwürdig. Es ist kaum vorstellbar, dass das Leben einer Stadt so schnell zusammenbricht. Auch die holzschnittartige Zeichnung der Figuren und die Spaltung in männliche Gewalt (mit Ausnahme von Nuri) und weibliche Solidarität tragen nicht zum Gelingen 2

ESSAY AUFBRÜCHE DIE GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE SIND NACH WIE VOR NICHT EGALITÄR. NEUE PROSA VON FRAUEN MACHT ABER AUCH DIE DIFFERENZEN ZWISCHEN DIVERSEN FEMINISMEN SICHTBAR. Daphne mezereum Und alle so still Roman von Mareike Fallwickl Rowohlt 2024 368 S., geb., € 23,70 des interessanten Gedankenexperiments bei, das in ein triviales Happy End steuert. Der positive Schluss signalisiert, dass für junge Frauen die Zukunft offen ist, und das garantiert wohl viele Leserinnen. Gertraud Klemm zählt zu den wichtigsten feministischen Stimmen in Österreich. In ihrem jüngsten Roman „Einzeller“ seziert sie die diversen Feminismen von fünf Frauen verschiedener „Was Mareike Fallwickl, Gertraud Klemm, Lilly Gollackner und Stefanie Sargnagel verbindet, ist die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Gesellschaft.“ Generationen der Frauenwohngemeinschaft „Bienenstock“ mit trockenem Witz und Selbstironie. Aus der Perspektive der beiden Hauptfiguren, der ehemaligen Lehrerin und feministischen Aktivistin Simone Hebenstreit und der jungen Studentin der Volkswirtschaft Lilly, die ihre Position als Frau erst suchen muss und die schließlich in die Falle der Mutterschaft und einer Gewaltbeziehung gerät, werden entgegengesetzte feministische Positionen verhandelt. Simone und Eleonore sind seit Jahrzehnten ein „Wohnpaar“, die 34-jährige Witwe Maren, die Juristin und Scheidungsanwältin Flora sowie Lilly komplettieren die Wohngemeinschaft. Es ist Wahlkampf, die rechten und konservativen Parteien sind im Aufwind, versprechen Muttergeld bis zum Schuleintritt und Geburtenprämien, sie wollen Abtreibungen erschweren. Alle WG-Bewohnerinnen sind gegen diese Forderungen, aber sie vertreten innerhalb des Feminismus diverse Positionen, die bei ihrer Mitwirkung in der Reality-TV-Show „Big Sista“, für die sie sich entschieden haben, zu Wortgefechten vor der Kamera führen, vor allem zwischen Lilly und Simone als Repräsentantinnen von neuem und altem Feminismus. Simone Hebenstreit ist eine öffentliche Figur, sie ist gegen das Gendern und das „woke Erbsenzählen“, solidarisiert sich nicht mit „Kopftuchfrauen“ und Sexarbeiterinnen, hat aber eine Affäre mit dem konservativen Finanzminister, ihrer Jugendliebe. In den sozialen Medien wird sie nicht nur von Männern, sondern auch von jüngeren Frauen, von trans und queeren Aktivisten mit Hass und Gewalt bedroht. Den österreichischen Frauenpreis kann sie am Ende nicht mehr entgegennehmen. Was schon der gelungene und etwas rätselhafte Buchtitel „Einzeller“ signalisiert, ist die schmerzliche Tatsache, dass das Verhalten von Einzellern ohne Solidarität keinen gemeinsamen Widerstand gegen Frauenfeindlichkeit ermöglicht und die derzeitige Identitätspolitik keine demokratische Zukunft verspricht. Der Debütroman „Die Schattenmacherin“ von Lilly Gollackner führt uns von den feministischen Kämpfen der Gegenwart in eine dystopische Zukunft. Wir befinden uns im Jahr 2068 in einer Welt ohne Männer oder „Androtoken“, wie sie im Roman genannt werden. Sie sind nach einem Krieg zwei Jahrzehnte zuvor einer mysteriösen Seuche zum Opfer gefallen. Nur die künstliche Fortpflanzung sichert den Fortbestand der rund 280.000 Frauen. Doch diese bilden keine solidarische und liebevolle Gemeinschaft, wie sie von Mareike Fallwickl erträumt wird, sie ist geprägt von Kämpfen um Macht und knappe Ressourcen für das Überleben. Angesichts sengender Hitze und Wasserknappheit ist ohnehin nur mehr ein kleiner nördlicher Teil der Erde unter schwierigen Bedingungen unter Kuppeln bewohnbar. An der Spitze steht die autokratische Herrscherin Ruth, die aus Altersgründen von der jungen, ambitionierten und neugierigen Ania abgelöst werden soll, die erst geboren wurde, als es keine Androtoken mehr gab. Sie will von Ruth wissen, welche Fortschritte Einzeller Roman von Gertraud Klemm Kremayr und Scheriau 2023 308 S., geb., € 24, – Die Schattenmacherin Roman von Lilly Gollackner Kremayr und Scheriau 2024 198 S., geb., € 24,– Fortsetzung auf der nächsten Seite 3

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