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DIE FURCHE 18.04.2024

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DIE FURCHE · 16 14 Literatur 18. April 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 13 „ Die Figuren reden sich ja eigentlich alle gemeinsam in das Unheil hinein. Und sie kommen dann als Gemeinschaft nicht mehr heraus. “ ich gleich viermal.“ Undsoweiter. Es musste „einmal“ und „zweimal“ sein. Erst so ist die ganze Bedeutung da. Dieses Herumdrehen an den Sätzen, die unbeholfen wirken, aber genau konstruiert und kalkuliert sind: Das war ihm sehr wichtig in der Praxis seines Schreibens. In seinen wenigen theoretischen Texten hat er von einem herabgefallenen Bildungsschatz geredet. Seine Figuren sind selbst solche Herabgefallene, die reden alle in Kalendersprüchen. Und im werkgenetischen Material kann man sehen, wie daran andauernd gedreht und gedrechselt wird. DIE FURCHE: Verändert sich auch inhaltlich etwas? Kastberger: Auffällig ist, gerade bei den großen Volksstücken, dass im Lauf des Umarbeitens die Tagespolitik aus dem Text verschwindet. Am Anfang gibt es da noch einen KPD-Funktionär oder ähnliche zeitgenössisch politische Figuren. Oder in den frühen Fassungen von „Kasimir und Karoline“ noch wirklich antisemitische Ausfälle von einzelnen Figuren. Der zeitgenössische politische Diskurs ist hier noch unmittelbar drinnen. Die Figuren stehen ganz in ihrer Zeit. Im Zuge der weiteren Bearbeitung entrückt sich der Text dann aber zusehends von seiner Herkunftszeit, ohne dass ihm das aber seine Schärfe nimmt. Eher im Gegenteil gewinnt das Ganze noch an politischer Schärfe in einer dann aber allgemein gültigeren Form. Darin sehe ich auch den Grund, dass man diese Stücke heute und seit Jahrzehnten spielen kann, weil sie sich immer auf die jeweilige zeitgenössische Situation beziehen lassen und eben nicht nur auf die 1920er Jahre. Es sind gleichsam Zeitstücke ohne Zeit. Die Problematiken sind nach wie vor da, aber die unmittelbare Datierung ist weg. Ich glaube, Horváth hat unglaublich viel von theatraler Wirksamkeit begriffen und ausgeprägt haben sich diese Formen mitten in den Werkgenesen. DIE FURCHE: Auch die Gestaltung der Beziehungen zwischen den Figuren veränderte sich während seiner Arbeit am Werk … Kastberger: Mir ist aufgefallen, dass die frühen Fassungen der Dia loge bei Horváth einem Therapeuten noch Möglichkeiten geben, zu intervenieren. Es gibt so eine Art von Miteinanderreden, das therapiefähig ist. Da könnte ein Therapeut oder eine Therapeutin noch reingehen und sagen: Überleg dir das noch einmal. Die späteren Dialoge, und gerade auch jene in „Kasimir und Karoline“ oder in „Geschichten aus dem Wiener Wald“, bieten therapeutischen Ansätzen keine Angriffspunkte mehr. Da lassen sich von außen keine Keile mehr hineintreiben, um etwas an diesen Beziehungen besser zu machen. Die Welt der Endfassungen ist imprägniert gegen den heilenden Eingriff. Klaus Kastberger ist Professor für neuere deutschsprachige Literatur am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz, Leiter des Literaturhauses Graz und Gesamtherausgeber der Ödön von Horváth-Ausgabe (De Gruyter). Es heißt ja auch, die Figuren würden sich nicht gut verstehen bei Horváth. Sie würden andauernd aneinander vorbeireden. Das glaube ich nicht. Denn die Figuren reden sich ja eigentlich alle gemeinsam in das Unheil hinein. Und sie kommen dann als Gemeinschaft nicht mehr heraus. Fatal ist an diesen Ensembles ja gerade, dass sie eine Gemeinschaft sind und ihnen eigentlich alles fehlt, was eine moderne Gesellschaft zu einem guten Leben braucht. Darunter vor allem auch eine individuelle Flexibilität des Rollenspiels in gesellschaftlichen Verhältnissen. „ Welche Bewegungen aber stecken in diesen Texten drinnen? Das ist das Spannende! Und wie sich in diesen Bewegungen neue Zugangsmöglichkeiten ergeben. “ DIE FURCHE: Wenn es so ist, dass die Entwürfe, die vielen Schritte, die zu einem Text hinführen, am Ende auch irgendwie in ihm drinnen sind, kann man damit ganz neue Facetten sichtbar machen, wenn man diese auch auf die Bühne bringt. Der Text kommt neu in Bewegung … Kastberger: Es gibt eine große Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Deutschland, wo die großen Ausgaben, die in Deutschland gemacht werden, vertreten sind. Da habe ich einmal einen Vortrag über unsere historisch-kritische Ausgabe gehalten und darauf hingewiesen, dass sich Theater auf die beschriebene Art und Weise bei den Produktionsprozessen bedienen. Da hat es eine Fraktion gegeben, die hat gesagt: Das ist ja fürchterlich, dass die nicht mit der editorischen Sorgfalt arbeiten und sich irgendwas herausnehmen und das andere wieder sein lassen. Die andere Fraktion hat gesagt: Ja, das ist gut so. Ich selbst war der Meinung, dass es das Beste ist, was einer historisch-kritischen Ausgabe passieren kann. Denn einerseits bietet eine solche Ausgabe einen gesicherten Endtext. Aber andererseits bietet sie eben auch einen Einblick in Dynamisierungen und Bewegungen des Textes. Man sieht den Text hier als eine bewegte, flüssige Masse. Und ich finde es nur legitim, sich aus dieser bewegten, flüssigen Masse, die der Text und der Schaffensprozess letztlich ist, zu bedienen und damit auch die eigenen Erstarrungszustände zu überwinden. Um etwas lesbar und darstellbar zu machen, braucht es ja einen Stillstand im Produktionsprozess. Aber sowohl im Theater als auch in der Edition kann man auch hinter diesen Stillstand schauen. Wann ist ein Text bewegt? Wann ist er lebendig? Wann hat er Sauerstoff? Und wann forme und festige ich ihn wieder so, dass ich im Diskutieren einen Zustand habe, der diskutabel ist und worauf sich dann wieder alle beziehen können. Ich habe am Anfang viel Arbeit in die Konzeption der Ausgabe gesteckt, aber ich hatte dabei immer das Gefühl, wir versehen diesen Horváth-Text jetzt noch einmal mit zusätzlicher Bewegung. Auch diese Bewegung darzustellen, ist, so glaube ich, ein Prinzip dieser historisch-kritischen Ausgabe. Das machen eigentlich alle Editoren so. Denn man könnte ja glatt verrückt werden an den Texten, etwa auch in der avancierten Nietzsche- oder Hölderlin-Ausgabe. Welche Bewegungen aber stecken in diesen Texten drinnen? Das ist das Spannende! Und wie sich in diesen Bewegungen neue Zugangsmöglichkeiten ergeben. Nicht nur am Theater, sondern auch in alltäglichen Lesarten. Foto: Brigitte Schwens-Harrant DIE FURCHE: Als Ergebnis liegt ein perfekt gestalteter Text vor, in dem die seelischen Zustände der Figuren so deutlich aufleuchten. Das zeigt doch auch, wie Literatur funktionieren kann. Denn oft wird da ja etwas verwechselt: Seelische Zustände kämen dann zum Vorschein, wenn jemand unmittelbar etwas zu Papier bringt. Hier aber ist es das Ergebnis eines langen, ganz bewusst formenden Arbeitsprozesses. „ Das Hetero gene kann nur dann friedlich zusammen sein, wenn das einzelne Ich an sich selbst begreift, dass es aus vielen möglichen Ichs gebaut ist. “ Kastberger: Diese Dichotomie zwischen Innen und Außen spielt bei Horváth eine zentrale Rolle. Es gibt bei ihm diese Fassadendramaturgie, wo das bis in die Bühnengestaltung nachvollzogen wird. Diese stille Straße im achten Bezirk. Es sind immer nur Außenfassaden, die gezeigt werden. Aber Horváth war auch ein Techniker der Seele. Bei ihm wird es oft gerade dann spannend, wenn die Figuren versuchen, in sich selbst zu gehen oder zu schauen. Das wäre so die typisch katholisch-christliche Selbsterforschung. Wo sind meine Parameter? Irgendwo tief in mir drinnen, so steht zu vermuten. In „Der jüngste Tag“, einem der wichtigsten Stücke von Horváth, geht es um eine Schuld, die jemand auf sich geladen hat, weil er eine Weiche falsch gestellt hat, da er nämlich verliebt und in der Situation nicht ganz präsent war. Techniken der Gewissenserforschung finden statt. Und da sagt der eine zum anderen: „Geh lieber in dich!“ Und der andere sagt: „Wohin soll ich gehen? In mich hinein? Was tät ich denn da finden?“ Bei Horváth gibt es diese Effekte der Tiefe, der Ehrlichkeit und der Aufrichtigkeit. Wenn man es sich aber genau anschaut, sind diese Tiefeneffekte nichts anderes als reine Oberflächenphänomene. Eigentlich hat Horváth Dichotomie von innen und außen aufgehoben, indem er gezeigt hat: Auch im Inneren ist nichts als ein Außen. Auch im Inneren der Menschen spielen sich nämlich theatrale Darstellungsprozesse ab. Die Nazis, die Volksgemeinschaft und diese ganze Schicksalsschwere, denen der autoritäre Charakter nicht entkommt, bevölkern nicht nur politische Außenwelten, sondern eben auch die Seelen. Bei Horváth kommt alles, was die Figuren innen zu glauben wissen, von außen. Das ist übrigens auch in Elfriede Jelineks Texten so. Es ist die pure Oberfläche, die hier wie da in die Figuren hineingestaffelt wird. Auch daran zeigt sich die ganze Ungeheuerlichkeit der 1920er Jahre. Das wurde damals ja auch schon von der zeitgenössischen Soziologie erkannt: Gesellschaft basiert auf Phänomenen des Theaters, auf Phänomenen des Spiels. Alle glauben aber, diese Spiele sind purster Ernst. Bei Horváth zeigt sich, dass es Spiele sind. Genau so konzipiert er seine Figuren und deren Rede. Und dieses Spielen, das Theaterspielen auch, ist nicht nur etwas, das gemacht wird, weil es da zufälligerweise eine Bühne gibt, sondern die Gesellschaft selbst braucht im Unterschied zur völkischen Gemeinschaft die Freiheiten dieses Spiels. Die Volksgemeinschaft braucht Rituale, Verschwörungen, Herstellungsakte von Einheit bis hin zu den faschistischen Masseninszenierungen, die wir alle kennen. Gesellschaft aber braucht auch die Fähigkeit, dass jedes einzelne Mitglied dieser Gesellschaft begreift, dass es nicht immer um die letzten hundert Prozent des Schicksals geht, sondern dass es Spielformen gibt und Möglichkeitsformen und dass man sich vielleicht in manchen Situationen auch ändern und verändern kann, weil man eben im Idealfall ein ganzes Register an Spielformen zur Verfügung hat. DIE FURCHE: Damit sind wir bei der Vorstellung einer modernen Gesellschaft … Kastberger: Ja, genau das ist es, was sich in den 1920er Jahren gerade auch in einer Stadt wie Berlin, wo Horváth ja zu Beginn der 1930er Jahre mit der Uraufführung seiner „Geschichten aus dem Wiener Wald“ einen seiner größten Triumphe gefeiert hat, ausprägt: eine Vorstellung von moderner Gesellschaft, die neben dem Standbein immer auch ein Spielbein braucht. Das Hetero gene kann nur dann friedlich zusammen sein, wenn das einzelne Ich an sich selbst begreift, dass es aus vielen möglichen Ichs gebaut ist. Ödön von Horváth ist einer der ersten, der dieser Kondition der Moderne einen nicht mehr zurückweisbaren literarischen Ausdruck verliehen hat. Seine Figuren hinken der Modernisierung immer um ein paar Schritte hinterher und führen, gleichsam mit alten Bleigewichten beladen, einen Tanz auf, der dem Publikum deutschsprachiger Bühnen bis heute mächtig Freude zu bereiten scheint. Und das vielleicht auch deshalb, weil wir selbst noch ein Jahrhundert später ähnliche Gewichte tragen. Die lange Wirkungsgeschichte Horváths jedenfalls und die nachhaltige Präsenz seiner Werke ist wirklich erstaunlich. Nicht zuletzt auch dies rechtfertigt den Aufwand einer solchen Ausgabe. Präsentation Von Ödön von Horváth: „Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition“ (De Gruyter). Mit Klaus Kastberger, Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar. Nikolaus Kinsky liest „Best of Horváth“. Moderation: Manfred Müller 22. April, 19.00 Uhr Österreichische Gesellschaft für Literatur, Herrengasse 5, 1010 Wien

DIE FURCHE · 16 18. April 2024 Literatur & Musik 15 Jana Scheerer unterhält mit ihrem komplexen Roman „Die Rassistin“ über polarisierende Diskurse in der aktuellen Hochschulkultur. VOLKSOPER Am Ende verfliegt sich diese „Schwalbe“ Chaos mit Methode Von Veronika Schuchter In einem Germanistikseminar der Sprachwissenschaftlerin Nora Rischer an einer Berliner Universität halten Studierende ein Referat in brüchigem Deutsch. Kommilitonen lachen, jemand sagt etwas Beleidigendes, die Dozentin greift nicht ein, aber empfiehlt den Referierenden einen Deutschkurs. Die Studierenden stammen aus China, ob sie das zu chinesischen Studierenden macht oder zu Studierenden aus der Volksrepublik China, darüber herrscht Uneinigkeit. Auch darüber, ob Rischers Verhalten skandalös, richtig oder zumindest verständlich ist, gehen die Meinungen auseinander. Für einen ausgewachsenen Shitstorm in den sozialen Medien reicht der Vorfall aber allemal. Die einen stempeln Rischer als Rassistin ab, den anderen dient die ganze Aufregung als Bestätigung, dass an den abgehobenen Unis ein Cancel-Culture- und Political-Correctness-Wahn herrscht. Während Rischer eigentlich etwas Wichtigeres zu tun hat – der Shitstorm erreicht sie ausgerechnet am gynäkologischen Stuhl einer Kinderwunschpraxis – wird die Aufregung immer größer: Die Medien werden auf den Fall aufmerksam, das Institut ist in heller Aufregung, ohne noch zu wissen, wer denn überhaupt die Übeltäterin oder der Übeltäter ist. Die Autorin Jana Scheerer kennt den Universitätsbetrieb von innen und das merkt man. Sie entwirft in ihrem Roman „Die Rassistin“ ein Durcheinander von Perspektiven, ein Stimmwirrwarr, in dem jeder etwas beiträgt, vom ehemaligen Schulkollegen, der als Rassistin gebrandmarkten Germanistin bis hin zu den wie ein Chor eingesetzten Stimmen der Lektorin, eines Literaturkritikers oder des Proktologen des Autors. Des Autors, ja, denn ein Spiel mit Autorschaft genehmigt sich Scheerer auch noch; den vorliegenden Roman habe sie gar nicht selbst verfasst, so erfährt man gleich am Anfang, sondern ihr Kollege Anton Ansbach. Während die Lektorin eine Verfechterin von Triggerwarnungen ist, der stockkonservative Literaturkritiker den Plot unglaubwürdig findet, ist der Proktologe so etwas wie die Stimme jener, die mit akademischem Gequatsche nichts anfangen können, da schaut er schon lieber Menschen in den Darm. Daneben bietet Scheerer noch einen zweiten Chor auf, nämlich jenen des Publikums, das Rischers Verhalten kommentiert und wertet, oder sind das in Wahrheit nur Stimmen aus ihrem Kopf? Das Chaos, das die Autorin sehr kunstvoll produziert, hat Methode. Es geht ihr nicht darum, am Ende zu enthüllen, wer denn nun Recht hat, ob Rischer tatsächlich eine Rassistin ist und welche Position die Autorin vertritt und ihrem Publikum nahelegt. Ihr geht es vielmehr um das Gegenteil: Es gibt keine eindeutig richtige Position und die Vehemenz, mit der in der Diskussion Gräben aufgetan werden, ist schädlich für alle. Das erzählt Scheerer augenzwinkernd und nicht auf Kosten einer Seite. Akademisches Milieu „Die Rassistin“ ist ein Diskursroman in der Tradition eines Thomas Meinecke oder Mithu Sanyals. Scheerer führt sehr geschickt die verschiedenen Perspektiven zueinander, gerade die Einschübe ihres „Chors“ sind sehr unterhaltsam. Jeder, der momentan an Universitäten unterwegs ist, wird die Kommunikationskultur und die unterschiedlichen Positionen wiedererkennen. Allerdings fragt sich damit auch, wer denn diesen Roman unterhaltsam finden sollte, außer jenen, die sich ohnehin im akademischen Milieu bewegen. „ Es gibt keine eindeutig richtige Position und die Vehemenz, mit der in der Diskussion Gräben aufgetan werden, ist schädlich für alle. Das erzählt Scheerer augenzwinkernd und nicht auf Kosten einer Seite. “ Foto: © Maximilian Merz Jana Scheerer 2004 debütierte die Autorin (geb. 1978) mit dem Roman „Mein Vater, sein Schwein und ich“, für den sie den Literaturpreis Prenzlauer Berg erhielt. Seither veröffentlicht sie Romane, Kurzgeschichten sowie Kinder- und Jugendliteratur. Mithu Sanyal hat in ihrem 2021 erschienenen Roman „Identitti“ etwas Ähnliches gemacht: Hier geht es um Saraswati, eine Star- Professorin für Postkolonialismus, die sich als Person of Colour ausgibt, aber dann als Weiße enttarnt wird, mit dem sehr deutschen Namen Sarah Vera Thielmann. Auch hier geht es um Political Correctness, die polarisierende Wirkung der Sozialen Medien, den wissenschaftlichen Diskurs und die Probleme der Identitätspolitik. Doch im Gegensatz zu Scheerers „Rassistin“ verfügt „Identitti“ auch noch über einen mitreißenden Plot. Das spricht nicht gegen Scheerers Roman, allerdings beraubt sie sich ohne diesen vielleicht eines breiteren Publikums. Die Rassistin Roman Von Jana Scheerer Schoeffling & Co. 2024 224 S., geb., € 22,70 FEDERSPIEL Über Kultur reden Es ist viel von Kultur die Rede in diesen Tagen, das heißt: Der Begriff Kultur wird oft benutzt. Trotz der Häufigkeit der Nennung wird man das Gefühl nicht los, dass dabei nicht diskutiert, sondern normativ definiert wird. Da ist von wir und uns die Rede, da werden Zuordnungen getroffen, die der Komplexität des Kulturbegriffs nicht gerecht werden. Jede dieser Zuordnungen ist durch ihre Verallgemeinerung eine Übergriffigkeit. Dies sollte eine gewisse Vorsicht heraufbeschwören oder zumindest die Einsicht, dass Kultur – wenn überhaupt so einfach definierbar – eher eine Entwicklung ist, denn ein Zustand. Entwicklung ist aber davon abhängig, dass Zustände kritisiert und überworfen werden. In der Kultur, in der ich als Kind aufwuchs, haben die Menschen Sondermüll mit dem Auto in den Wald gefahren und dort abgeladen, etliche Lehrer und Priester Kindern Ohrfeigen gegeben und die meisten Menschen gemeint, Frauen sollten zu Hause bleiben, kochen und auf Wäre der Erste Weltkrieg nicht dazwischengekommen, wäre es in Wien zur Uraufführung einer Puccini-Oper gekommen. So ging die vom Wiener Carltheater in Auftrag gegebene Lyrische Komödie in drei Akten mit Namen „La rondine“ im März 1917 in Monte Carlo zum ersten Mal über die Bühne. Dreieinhalb Jahre danach folgte die österreichische Erstaufführung an der Wiener Volksoper. Dort steht dieser Puccini seit wenigen Tagen wieder auf dem Programm. In einer Inszenierung der Prinzipalin Lotte de Beer und mit dem Puccini-Spezialisten Alexander Joel am Pult des spielfreudigen Orchesters. Mehrere Finalfassungen liegen für diese Mixtur aus Oper und Operette vor. Glücklich war man mit keiner. Deshalb hat man im Haus am Währinger Gürtel ausgehend vom Original eine weitere erarbeitet. Sie inspirierte die Regie – in den zwischendurch auch „Fledermaus“-Atmosphäre suggerierenden Fin-de-Siècle-Dekorationen von Christof Hetzer und in den dazu passenden Kostümen Jorine van Beeks – an das Ende anderer herausragender weibliche Puccini-Figuren zu erinnern, wie die Mimi, die Butterfly oder Tosca. So wirklich zündete dieser Einfall nicht, wie sich am mit einigen Buh-Rufen gemischten Schlussapplaus zeigte. Vor allem, weil er sich mehr wie eine Notlösung ausnahm als eine tragfähige Final-Pointe. Origineller erwies sich die Idee, den Text auf einer Leinwand im Hintergrund ablaufen zu lassen, dem man auch Regie-Anmerkungen entnehmen konnte; ergänzend zu den auf englisch wie deutsch präsentierten Übertiteln. Schließlich, wer kennt schon das Libretto dieser nur selten aufgeführten „Schwalbe“? Bekannt ist dagegen das Sujet, ein geradezu unverschämtes Plagiat von Verdis „La traviata“. Mit dem Unterschied, dass bei Puccini die Kurtisane, Magda, nicht an Tuberkulose stirbt, sondern ihren Liebhaber Ruggero verlässt. Mit ihrer Vergangenheit sieht sie sich außerstande, ihn zu ehelichen. Umgekehrt wär’s wohl anders, aber die Frauen kommen in dieser Oper allesamt schlecht weg. Ein Schelm, wer dieses Bild nicht mit der Einstellung des lebenslangen Womanizers Puccini in Verbindung bringt. Matilda Sterby gab der Rolle der Magda, von einigen Schärfen zu Beginn abgesehen, in dieser auf viel Tempo wie elegante Walzer-Seligkeit setzenden Produktion die entsprechende vokale Kontur. Überstrahlt von der mit besonderer Quirligkeit auffallenden Rebecca Nelson als bagschierliches Dienstmädchen Lisette. Ihre Liebespartner konnten auf diesem Niveau nicht mithalten: Ruggero fehlte es ebenso an tenoralem Glanz wie Lisettes Lover, dem von Timothy Fallon gemimten Dichter Prunier, der meist mit Schreibmaschine bewaffnet auftritt. Insgesamt stimmig besetzt präsentierten sich die übrigen Comprimarii, gut einstudiert der Chor. Aber selbst mit einer avancierteren Inszenierung und glanzvolleren Stimmen wird Puccinis Opern-Operetten-Melange wohl nie über ein Schattendasein hinauskommen. (Walter Dobner) La rondine Volksoper Wien, 18., 23., 26.4. und 3., 6., 10.5. die Kinder aufpassen. Jene, die diese Kultur verändert haben – zu etwas Besserem, wie viele heute meinen – haben sich in der früheren Kultur damit sehr unbeliebt gemacht. Das ist zu keiner Zeit anders. Wer heute glaubt, auf dem Gipfel der Zivilisiertheit zu sitzen, sitzt nur im Talnebel. Kultur bedeutet auch, Zustände in Frage zu stellen, anstatt sie als gut oder schlecht zu einem generalisierten Weltbild zu machen. Wenn etwa ein Abgeordneter sagt, er wolle die Europäische Menschenrechtskonvention ändern, so muss man gespannt sein, wie viel mehr Kultur seine Änderungsvorschläge bringen. Und es ist zu hinterfragen, wie ernst dieser Abgeordnete die Bundesverfassung nimmt, in der die EMRK verankert ist, und auf die er einen Eid abgelegt hat. Meineid ist ja auch nicht in jedem Weltbild etwas kulturell Hochstehendes. Der Autor ist Schriftsteller. Foto: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien Ein Liebespaar in Nöten. Ähnlich wie „La traviata“ und doch anders: Puccinis „La rondine“ mit Matilda Sterby (Magda de Civry) und Leonardo Capalbo (Ruggero Lastouc). Von Daniel Wisser

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