DIE FURCHE · 3 8 International 18. Jänner 2024 Das Kreuz im Sejm dürfte bis auf Weiteres hängen bleiben. Der Einfluss von Jarosław Kaczyński dagegen schwindet in Polen und damit auch in der EU von Tag zu Tag mehr. Von Jan Opielka Es handelt sich zwar nur um eine Unterrichtsstunde, doch sie hat Symbolkraft. Polens neue Bildungsministerin, Barbara Nowacka von der größten Regierungspartei, der Bürgerkoalition (KO), hat als eine der ersten Amtshandlungen angekündigt, den Religionsunterricht an staatlichen Schulen alsbald von zwei Einheiten auf eine zu reduzieren. Nur in Kommunen, die das selbst entscheiden und finanzieren, könnten weiterhin zwei Stunden angeboten werden. Der Religionsunterricht ist seit Jahrzehnten Streitthema, doch bis vor Kurzem war es nur die Linke, ebenfalls Koalitionär in der neuen Regierung von Donald Tusk, die eine Abschaffung des Unterrichts forderte. Doch die Beteiligung an dem freiwilligen Fach sinkt seit Jahren massiv, zeitgleich hat die katholische Amtskirche massiv an Ansehen verloren. Laut Umfragen wünschen sich nur noch etwa 30 Prozent katholischen Religionsunterricht an der Schule, 60 Prozent wollen ihn lieber in Kirchengemeinden organisiert sehen. Das Episkopat reagierte auf Nowackas Vorstoß barsch – und realitätsfern. „Der Wunsch der Mehrheit der Eltern, Katholiken, der Mehrheit der Gesellschaft ist, dass es Religion in der Schule gibt“, heißt es in einer Stellungnahme. Pädophiliefälle unaufgearbeitet Auch wenn es dazu noch Gespräche geben soll: Der Schritt scheint beschlossene Sache – und ist kein Ausreißer. Denn Polens neue Mitte-Regierung will ideologisch so weit von der Amtskirche entfernt regieren wie noch keine zuvor seit 1989. Regierungschef Tusk hat bereits angekündigt, einen noch von den Kommunisten im Jahr 1950 eingerichteten, staatlichen Sozialversicherungsfonds für Geistliche aufzulösen. Statt seiner sollen die Mittel laut Plänen künftig über Steuerabschreibungen fließen, die jeder Steuerzahler aber separat deklarieren müsste. Kirchenkritiker hoffen, so das wahre Ausmaß der Kirchenbindung kennenzulernen – laut Kirchenstatistiken nehmen nur noch 29 Prozent der Menschen an den Sonntagsmessen teil (2018: 38 Prozent). Das „ Ministerpräsident Donald Tusk will einen – noch von den Kommunisten im Jahr 1950 eingerichteten – staatlichen Sozialversicherungsfonds für Geistliche auflösen. “ Lesen Sie hierzu den Text: „Missbrauch in Polen: Blockieren, vertuschen, wegducken“, ebenso von Jan Opielka (2.2.2022) auf furche.at. Weniger Religion in der Schule, politische Distanz zur Amtskirche, ein liberaleres Abtreibungsgesetz, die Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Ehen: Polens neue Mitte-Regierung setzt auf eine weltanschauliche Wende. Das ideologische Erdbeben Foto: Getty Images / NurPhoto / Jakub Porzycki verwundert kaum. Denn die Hierarchen haben in den vergangenen acht Jahren nicht nur durch pu blik gewordene, aber kaum aufgearbeitete Pädophiliefälle den Widerwillen vieler Polen auf sich gezogen. Auch und vor allem die teils nahezu symbiotische Beziehung mit der abgewählten, rechtskonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hat ihr letztlich mehr geschadet denn genützt. Zwar hat die PiS Ende 2020 den langjährigen Herzenswunsch des Episkopats erfüllt und über das PiS-hörige Verfassungsgericht das schon bis dahin restriktive Abtreibungsrecht nochmals verschärfen lassen. Doch weil dies der PiS, wie Studien belegen, nachhaltig schadete, hat sich die Partei von Jarosław Kaczyński bereits im Wahlkampf kaum mehr im Umfeld der Kirchenoberen gezeigt. Die neue Regierung hat ihrerseits weitaus mehr Pläne, die der traditionell klerikalen Kirche im Land – das Gros der Erzbischöfe ist Papst Franziskus gegenüber kritisch eingestellt – schlaflose Nächte bereiten dürften. Denn das Bündnis aus KO, dem Dritten Weg (TD) sowie der Neuen Linken (NL) steht en gros stärker für die (groß-) städtische, liberalere und säkular eingestellte Wählerschaft. Lediglich TD – bestehend aus der Bauernpartei und der liberalkonservativen Partei Polen 2050 – hat kirchennahe Abgeordnete in ihren Reihen. Diese dürften auch entscheidend dafür sein, ob ein weiteres wichtiges Wahlversprechen der KO und der Linken umgesetzt wird: die Legalisierung von Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche. TD möchte statt der Liberalisierung per Parlamentsvotum lieber ein Referendum abhalten. Das Thema entzündet sich bereits allmählich zum Streitpunkt innerhalb der Koalition – anders als die gesetzliche Regelung von Lebenspartnerschaften, auch der gleichgeschlechtlichen. Letztere ist nicht nur eine Forderung einer knappen Mehrheit der Gesellschaft (52 Prozent), sondern auch von Seiten Brüssels. Die neue Koalition hat also viel vor – und könnte schnell an ihre Grenzen stoßen. Denn sie muss trotz deutlicher Stimmenmehrheit in beiden Parlamentskammern (Sejm und Senat) mit Staatspräsident Duda regieren – oder vielmehr: gegen ihn. Duda, der PiS entstammend, kann durch sein Vetorecht theoretisch und praktisch jedes Gesetz blockieren. Diesem Umstand ist auch geschuldet, dass die am 13. Dezember im Amt vereidigte Koalition in den ersten vier Regierungswochen mit umstrittenen Maßnahmen für Aufsehen sorgte: In einer rabiaten und rechtlich zweifelhaften Aktion hat sie den von der PiS dominierten Staatsrundfunk und die Nachrichtensendungen da rin kalt- und auf eine bislang neutrale Linie umgestellt, indem sie wichtiges Führungspersonal massenhaft ersetzte. Dies sowie die Verhaftung von zwei PiS-Politikern in der vergangenen Woche – ein Gericht verurteilte beide zu je zwei Jahren Haft – waren Anlass für eine Großdemo am 11. Jänner mit bis zu 100.000 Teilnehmenden in Warschau, zu der die PiS aufgerufen hatte. Auch im Justizwesen sind die Maßnahmen der Neuen umstritten: Eine von der PiS etablierte Richterkammer wurde in einem Sejmbeschluss faktisch zur Selbstauflösung aufgefordert, und Justizminister Adam Bodnar wechselte am vergangenen Freitag kurzerhand den Landesstaatsanwalt aus, womöglich widerrechtlich. Auch in anderen Feldern wird die Regierung versuchen, mit Verordnungen, Beschlüssen und Ministerweisungen zu regieren – um Gesetze zu vermeiden, die Duda mit seinem Veto torpedieren könnte. Ein „Nie!“ des Staatsoberhauptes dürfte auch einer gesetzlichen Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs blühen, zumal sich die Fronten zwischen Regierung und dem Präsidenten in den letzten Wochen rapide verhärtet haben. Duda bezeichnet die Regierungsweise der Tusk-Regierung inzwischen als „Terror der Rechtsstaatlichkeit“. Das ökonomische Erbe der PiS Doch neben vielen gewünschten Änderungen wird es auch einige Kontinuitäten geben. Denn jenseits weltanschaulicher Fragen: Ökonomisch hat die PiS das Land ganz und gar nicht im Desaster hinterlassen, eher im Gegenteil. Aus Sicht von Millionen von Menschen im Land bleibt als positives Erbe der PiS ein wirtschaftsund sozialpolitisch stärker intervenierender Staat. Die PiS stopfte Schlupflöcher bei der Mehrwertsteuer – die Einnahmen hieraus haben sich zwischen 2015 und 2023 mehr als verdoppelt. Hinzu kamen soziale Reformen, aktive Lohnpolitik sowie sinnvolle Ansätze, den Graben zwischen Stadt und Land sowie Arm und Reich zu verkleinern. So stand Polen 2022 bei der Ungleichheit der Einkommensverteilung gemäß dem Gini-Index deutlich besser (26,3) als der EU-Schnitt (29,6) oder auch Österreich (27,8), 2015 hatte Polen mit 30,6 im EU-Mittel gelegen. Die Arbeitslosigkeit liegt historisch niedrig. „Ein Großteil der Gesellschaft lebt heute materiell besser als vor 2015, und die wichtigste Motivation, für die PiS zu stimmen, war die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation“, schreibt der Wirtschaftspublizist Piotr Wójcik. Dies ebenso vor Augen wie die im Frühjahr 2024 anstehenden Kommunal- sowie EU- Parlamentswahlen, verwundert es nicht, dass die neue Regierung die Aufstockung des Flagschiffprogramms der PiS – das Kindergeld 500plus, nun 800plus – ohne Änderung übernahm. Und eigene Programme auflegte. Bis auf Weiteres wird auch das Kreuz, das für jeden TV-Beobachter von Parlamentsdebatten sichtbar an einer der Türen im Plenarsaal des Sejm hängt, an seiner Stelle bleiben. 1997 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion widerrechtlich von erzkatholischen Abgeordneten angebracht, wagte es bislang niemand, das Kreuz wieder abzuhängen. Auch die Tusk- Regierung wird dies wohl nicht tun – denn trotz der voranschreitenden Säkularisierung ist das Kreuz für eine Mehrheit der Menschen, zumal in ländlichen Regionen, kulturelles Ursymbol des Landes, zumal seit Papst Johannes Paul II. Und auch die weltanschauliche Wende wird zumindest bis zum Frühling 2025 weniger radikal sein, als viele hoffen. Erst dann wird ein neuer Staatspräsident gewählt, der womöglich nicht blockieren wird.
DIE FURCHE · 3 18. Jänner 2024 Religion 9 Männlich & weiblich „Männlich und weiblich erschuf er sie.“ So heißt es in der offiziellen katholischen Einheitsübersetzung 2016. Im katholischen Mainstream ist „Gender“ eine „ideologische Kolonisierung“, die bekämpft werden muss. Der Theologe Gerhard Marschütz hält in seinem neuen Buch dagegen. Von Otto Friedrich Am 8. Jänner, bei seiner Neujahrsansprache ans Diplomatische Korps, nahm Franziskus einmal mehr das G-Wort in den Mund, indem er „ideologische Kolonisierungen“ brandmarkte, unter denen, so der Papst wörtlich, „die Gender-Theorie eine zentrale Rolle spielt, die sehr gefährlich ist, weil sie mit ihrem Anspruch, alle gleich zu machen, die Unterschiede auslöscht“. Im konservativ-katholischen Kosmos, aber auch beim Papst selbst, gibt es seit Jahr und Tag ein Reizwort, mit dem man eine Gefährdung der „natürlichen“ Ordnung von Mann und Frau, der heterosexuellen Ehe und Ähnliches ausmacht: „Gender-Ideologie“ oder „Gender-Theorie“: Die damit verbundenen Tendenzen würden, so eine simple Formulierung der Kritik, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verwischen und letztlich dazu führen, dass sich jede und jeder nach Belieben das Geschlecht aussuchen oder zurechtzimmern könne. Um einen fundierten Dialog Der Wiener theologische Ethiker Gerhard Marschütz bemüht sich dementgegen ebenfalls seit Jahren, derartige Festlegungen als ideologische Verkürzung aufzuzeigen und über die Gender- Theorien (schon allein der Behauptung, es gebe bloß die eine Gender-Theorie, versucht er sich unermüdlich entgegenzustellen) in einen theologisch fundierten Dialog zu treten, ohne sie in Bausch und Bogen zu verteufeln. Nach seiner Emeritierung 2021 an der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät hat Marschütz seine diesbezüglichen Forschungen und Erkenntnisse in ein nicht nur für theologische Fachleute lesenswertes Buch einfließen lassen, das Ende 2023 erschienen ist. In „Gender-Ideologie!? Eine katholische Kritik“ stellt er die inner katholische Kontroverse konzise dar; eine Debatte, die das Zeug dazu hat, dass sich die Kirche einmal mehr in eine Sackgasse verrennt. Das, was Marschütz an der Auseinandersetzung als verstörend Gender – eine Sisyphusarbeit darstellt, ist, dass sie über weite Strecken verkürzt geführt wird und Annahmen behauptet, die die Gender-Theorien so gar nicht hergeben. Der lehramtliche Mainstream in der katholischen Kirche warnt mit den Worten des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. vor einer „anthropologischen Revolution“, welche im Widerspruch zur Schöpfungswirklichkeit stehe, nach der Gott den Menschen als „Mann und Frau“ geschaffen habe. Es gelingt Marschütz in seinem Buch, in bestechender Weise klarzulegen, dass sowohl die biblischen als auch die anthropologischen Befunde weniger eindeutig sind, als obige Festlegung und auch die landläufige Alltagstheorie glauben machen. Mar schütz führt unter anderem an, dass selbst die offizielle Einheitsübersetzung 2016 der Bibel bei der Aussage über die Erschaffung des Menschen in Genesis 1,27 nicht mehr von „als Mann und Frau“ spricht, sondern dass es dort heißt: „Als männlich und weiblich erschuf er sie.“ Solche biblischen, aber auch anthropologische Indizien führt Mar schütz an, nach denen die Frage des Geschlechts ein – gelinde gesagt – komplexes Geschehen ist. Konservative und Evangelikale Marschütz zeigt auch auf, dass an der katholischen Ideologisierung von „Gender“ – anders kann es der journalistische Beobachter nicht qualifizieren – die Pu blikationen einiger weniger Autorinnen maßgeblich Anteil haben, Marschütz nennt unter anderem die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, die katholische Konvertitin Gabriele Kuby, deren Buch „Die globale sexuelle Revolution“ von 2017 in konservativen, auch bischöflichen Kreisen weitverbreitet ist, und die Publizistin Birgit Kelle („Gendergaga“, 2015), die die ganze Gender-Debatte als „Satire- Show“ verunglimpft. Vitus Huonder, damals Bischof von Chur/CH, ließ sein Wort zum Tag der Menschenrechte 2017 gar ganz von Kelle ver fassen ... Die Verbindungen des konservativen Katholizismus hin zu den Evangelikalen sind demnach, wie Marschütz zeigt, auch durch die einheitliche Ablehnung der Gender-Debatte gekennzeichnet. Dem Autor ist es dennoch nicht primär darum zu tun, die Konservativen an den Pranger zu stellen, sondern er will eine redliche Debatte nach wissenschaftlichen Standards, die nicht mit Unterstellungen, Verkürzungen oder Halbwahrheiten arbeitet. „ Dass die katholische Kirche sich dabei im gleichen Boot mit der Reaktion sitzend wiederfindet, ist besorgniserregend. “ Foto: iStock/RyanJLane Lesen Sie zum Thema auch „‚Gender‘ als Ideologiekeule?“ von Angelika Walser am 20.9.2023, nachzulesen auf furche.at. Insbesondere der Pauschalkritik an den Werken und Aussagen der US-amerikanischen Kulturtheoretikerin Judith Butler tritt Marschütz entgegen. Er übernimmt dabei keineswegs einfach deren Aussagen. Sondern er weist zunächst darauf hin, dass mit Butlers – ursprünglich linguistischer – Unterscheidung von sozialem (gender) und biologischem (sex) Geschlecht keineswegs biologische Tatsachen geleugnet werden. Die in den „genderkritischen“ Kreisen gern bemühte Behauptung, nach Butler würde das Geschlecht zur frei wählbaren sozialen Konstruktion, weist Marschütz unaufgeregt als Unterstellung zurück. Rechtsruck in Gesellschaften Es ist dem Autor von „Gender- Ideologie?!“ darum zu tun, für den Dialog von Theologie und Ethik mit den Gender-Theorien zu werben. Das ist hoch an der Zeit, denn das Thema trägt massiv zur allgemeinen Polarisierung bei. Der Rechtsruck in den westlichen Gesellschaften findet wesentlich entlang von Gender-Debatten statt. Dass die katholische Kirche sich dabei – wieder einmal – im gleichen Boot mit der Reaktion sitzend wiederfindet, ist eine besorgniserregende Beobachtung. Gerhard Marschütz argumentiert dagegen wissenschaftlich seriös und ohne jeden Schaum vor dem Mund an. Leider ist der katholische Mainstream weltweit in der flagranten Ablehnung der Gender-Thematiken gefangen. Dabei zeigt Marschütz auf, dass – ebenso wie das Leben an sich ein komplexes Geschehen darstellt – auch die Gender-Fragen komplex und nicht apodiktisch einfach zu beantworten sind. Langsam bahnt sich in der katholischen Kirche ja die Einsicht Bahn, dass auch gleichgeschlechtlich Liebende von Gott geschaffen wurden. Noch langsamer verläuft die Akzeptanz, dass Inter-, Transsexualität oder andere Varianten gleichfalls Teil der Schöpfung sind. Aber auch wenn die inneren kirchlichen Widerstände da noch so groß scheinen: Ist es nicht Aufgabe der Theologie, Wege aus alten Denkmustern aufzuzeigen? Man ist mehr als dankbar dafür, dass sich Gerhard Marschütz diese Sisyphusarbeit antut. Gender- Ideologie!? Eine katholische Kritik Von Gerhard Marschütz Echter 2023 240 S., geb., € 29,95 Buchpräsentation Mi 24.1., 19 Uhr • Buchhandlung Herder, 1010 Wien, Wollzeile 33 • www.herder.at
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