DIE FURCHE · 3 6 Das Thema der Woche Mörder eines Menschheitstraums 18. Jänner 2024 Von Katharina Tiwald Sie sind Leserinnen und Leser einer Qualitätszeitung, wie Sie soeben beweisen. Sie alle kennen dennoch meinen Mann, Anton Wurmitsch, aus den Chronikseiten des Boulevards, denn der Boulevard ist überall. Über alle Wege kriecht er in die Hirne. Sie wissen daher: diese gewisse Körperverletzung. Lassen Sie mich erzählen, wie das blaue Auge von Klaus Maria Brandauer entstanden ist. Lassen Sie das meine kleine Revolution sein. Ich kommuniziere sonst knapp, unliterarisch und über Funk (ich bin Fluglotsin), und beim Stichwort „Lenin“ hätte ich beim „Activity“-Spielen vor zwei Jahren noch die Fahnen gestrichen; mittlerweile weiß ich, dass es harmlose Träumer gibt. Und gefährliche. Es ist nichts als die Wahrheit, dass Anton ein Filmfreak ist, als Kind verwachsen mit einer Super 8, als junger Erwachsener mit Videorekorder am Auge unterwegs, jetzt, ergrauend, mit der Digitalisierung dieser Materialien beschäftigt – und im Werbefilmbusiness hängengeblieben. Bewegte Bilder, bewegter Mann! Er wollte die österreichische Politgeschichte mehrteilig verfilmen, aber mehr als ein interessiertes Nicken von Gerhard Zeiler beim Stichwort „Schärf“ ist dabei nicht herausgekommen. Wenn er abends anfing, schweigend in sein Weinglas zu starren, brachte ich ihn oft zum Lachen: Gene Hackman als Bruno Kreisky. Margaret Rutherford, die Schwarzweiß-Miss-Marple, als Johanna Dohnal. Arnold Schwarzenegger als Jörg Haider. Zum permanenten Erinnern verdammt Irgendwer hat auf einer Zoom-Party, als uns allen die Themen ausgingen (Corona), nebenbei erwähnt, dass Brandauer Ähnlichkeit mit Lenin hat. Und wissen Sie was? Das stimmt. Die Augen: als wären sie Brüder. Kaum waren wir in dieser Nacht in der REM-Phase angelangt, schnellte Anton hoch: „2024! Ist! Lenin-Gedenkjahr!“, rief er. Natürlich war ich auch wach; wenn er eine Idee gebiert, rennt er auf und ab, unsere Wohnung ist nicht allzu groß. „Wir haben noch Vorlaufzeit“, schwärmte er und wiederholte ständig dieses „2024! 2024!“. Unsere Kultur ist ja zum permanenten Erinnern verdammt, alle Bücher, alle Filme stützen sich auf die Vergangenheit, wie mir scheint. Alle hatten viel Zeit zum Verschicken von E-Mails, noch war Lockdown. Ich lächelte schmerzhaft-verstellt, als Anton eines Morgens meldete, ein Freund Lesen Sie dazu im FURCHE- Navigator auf furche.at auch den Report „Die Gestalt Lenins im Film“ (30. April 1970) von Goswin Dörfler. Unsere Autorin lässt in ihren Werken lebende Prominente auf historische Figuren treffen. Was, wenn Klaus Maria B. Wladimir Iljitsch L. verkörperte? Ein fiebrige Fiktion. Lenin von der Rolle habe Kontakt zu Daniel Kehlmann hergestellt, der wie kein anderer dazu bestimmt sei, das Drehbuch für KMB als Lenin zu schreiben. Und siehe da, Kehlmann „biss an“, wie es so schön heißt. „Er sagt“, erzählte mir Anton triumphierend, „dass er den Film schon vor sich sieht. Lenin im Exil in der vermeintlich ruhigen Schweiz, wo es von Spionen wimmelt. 1914: Das pazifistische Getue seiner Sozialistenkollegen stößt ihn ab. Er will Bürgerkrieg. Nur mit Gewalt ist der Imperialismus zu stürzen! Die Macht des Geldes! Er ist ein Getriebener. Close-up auf Schweizer Uhren. Zu Hause wartet die Krupskaja, während Lenin sich in den Bibliotheken seine Ideologie anliest und über Papierkaskaden reproduziert (übrigens müsste die Krupskaja von Maggie Smith gespielt werden, die haben auch die gleichen Augen). Dann der Zug nach Russland, gesponsert vom deutschen Wilhelm. Eine Szene im Kabinett „ Irgendwer hat auf einer Zoom-Party nebenbei erwähnt, dass Brandauer Ähnlichkeit mit Lenin hat. Und wissen Sie was? Das stimmt. Die Augen: als wären sie Brüder. “ des Kaisers, wie er seinen Kaffee trinkt, die Uhr hört man ticken, es tickt und tickt, dann Überblendung mit dem Bummbumm des Schlachtfelds. Weiter! Brandauer-Lenin entsteigt dem Zug. Menschenmengen wie die Wassermassen der Newa. Überblendung! Weiter! Weiter!“ Unsere Wohnung füllte sich mit Lenin, wie andere sich mit Buddha füllen. Unser Buddha war allerdings nicht rundlich und Bild: Bild: Getty Images / Hulton Archive / Express/ John Downing (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Diktator sein! Der britische Schauspieler Frank Windsor (1928–2020) in der Maske für seine Rolle in Tom Stoppards Stück „Travesties“, aufgeführt von der Royal Shakespeare Company am Aldwych Theatre in London im Mai 1974. lächelte, sondern trug Schnurrbart und schaute stechend. Bücher von und über Lenin begannen erst die Regale zu verstopfen, dann wucherten sie auf die Korridore. Wussten Sie, dass Lenins gesammelte Werke auf Englisch 55 Bände umfassen? Jetzt wissen Sie’s. Anton wurde immer röter, aber er soff nicht, es kam von innen. Wie besessen las er, notierte er, schrieb. Ich wich aufs Brotbacken aus. Anton begann über die inzestuöse Filmbranche zu wettern, die zu zerschlagen sei; ich belegte einen Online- Heilkräuterkurs. Mir schwante Schlimmes. Eines Tages gestand Anton mir, dass Kehlmann seit Langem seine E-Mails nicht beantwortete. Als er sich schließlich mit Corona infizierte – es muss bei einem der Rundgänge durch die Wiener Antiquariate passiert sein, er durchforstete sie regelmäßig nach Spuren von Wladimir Iljitsch – fasste ich mir ein Herz: mein rotes, schlagendes Herz. Ich wartete, bis Anton eingeschlafen war, und ging an seine E-Mails (nach zwei Anläufen hatte ich das Passwort geknackt: rührend, es war mein Vorname). Kaum hatte ich Kehlmanns Handynummer gefunden, rief ich ihn an. Es stimme, druckste Kehlmann herum, er sei … erkaltet. Erstens habe er sich an der Geschichte des Filmregisseurs G. W. Pabst festgebissen, der aus Hollywood nach Nazideutschland zurückgekehrt sei. Und zweitens habe er mit Brandauer gesprochen. Der habe keinerlei Interesse gezeigt – „in Zeiten wie diesen“, sagte Kehlmann, „meint er, er spielt keinen russischen Schwerverbrecher, und schon gar nicht, wenn in der Regie der Wurm drin ist“. „Brandauer-Lenin befiehlt den Roten Terror“, flüsterte Anton, während ich, Maske vor Mund und Nase, ihm den Schweiß von der Fieberstirn tupfte, „Massenerschießungen, vom Schreibtisch aus angeordnet, Papier und Blut, Papier und Blut, Überblendung …“ Er wurde gesund. Kehlmann ließ ihn anlaufen, drückte Telefonate weg, legte spätestens nach „Hallo“ auf, wenn Anton von einer fremden Nummer anrief. Dann kam der Abend, an dem Brandauer eine Lesung im Burgtheater gab. Wen wird Kickl spielen? Ich erkannte meinen Mann nicht wieder, obwohl er mir in gesteigerten Dosen immer mehr von sich gezeigt hatte. Er kletterte. Jawohl, er kletterte. Er erklomm die Fassade des Burgtheaters, um ein Transparent zu entrollen: BRANDAUER MUSS LENIN SEIN, aber bevor er es vollständig entfalten konnte, war die Polizei schon da. Samt Feuerwehr, mit Hebebühne. Schwer atmend und Parolen skandierend – Anton hatte ein Megafon dabei, „Klaus ist Wladimir!“, schrie er – wurde ein hochroter Anton Wurmitsch von der Burg geangelt. Im entstehenden Menschengewirr fand sich auch Brandauer ein, der wissen wollte, wer ihm vor den Theatertoren die Show gestohlen hatte. Die Menge teilte sich vor dem Granden der Schauspielkunst, der auf meinen Mann zutrat und ihn fragte, welcher Vogel Strauß ihn gepeckt habe. Daraufhin hat Anton ausgeholt. Hat, bevor man ihm Handschellen anlegte, weitere Leute verletzt, auch ein Kind. Aber Brandauer kam danach in den Medien prominenter vor. Gestern habe ich Anton im Gefängnis besucht. Er ist nicht ganz bei sich, selbst auf meinen Vorschlag, Austrofred könne Stalin spielen, hat er nur müde gelacht. Aber als ich ging, schrie er mir nach: „Du weißt aber schon, wen der Kickl spielen wird! Du weißt schon, wen der Kickl spielen wird!“ Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich fühle eine Mischung aus Aufregung, Angst und Hass auf alle Männer. Nichtsdestotrotz: Gerade habe ich Kehlmanns Nummer ins Handy getippt. Vielleicht kann man den eitlen Herbert mit einem Drehbuch ködern. Eine andere Karriere schmackhaft machen. Die Autorin ist Slawistin, Schriftstellerin und unterrichtet aktuell Tolstojs „Krieg und Frieden“ an der Uni Klagenfurt. Ihre Theaterstücke „Stalins Heiliger“ und „Marinas letzte Briefe“ drehen sich um russische historische Figuren. Letzter Roman: „Mit Elfriede durch die Hölle“ (Milena 2021). Nächste Woche im Fokus: Das Gedächtnis ist ein Wunderwerk: Erlebnisse bleiben oft über Jahrzehnte detailgetreu erhalten. Wie ist das bei Missbrauch und Trauma? Die Frage nach der Erinnerung wird heiß umkämpft, wenn es Täter und Opfer gibt. Über Geschichte und Gegenwart der „Memory Wars“.
DIE FURCHE · 3 18. Jänner 2024 International 7 Trumps Vorwahltriumph in Iowa befeuert die Polarisierung und die Radikalisierung weiter. Die US-Initiative „Braver Angels“ versucht, gegenzuhalten und Menschen an einen Tisch zu bringen. Inspiration für Österreich? Ist die Kluft noch zu überwinden? Von Sieglinde Rosenberger Die Politik am rechten Rand zeigt starke Radikalisierungstendenzen. Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Hetze und Gebrüll gegen Menschenrechte ebenso wie Gewaltfantasien mehren sich – in den USA wie auch in Europa. Die Teilnehmer des mehr oder weniger konspirativen Treffens illustrer Rechtsradikaler in Brandenburg – mit prominenter österreichischer Beteiligung der Identitären – planten konkrete Strategien zur Vertreibung von Menschen. Die Berichte rütteln wach, denn sie zeigen, wie rasch Polarisierung in politische Radikalisierung und Gewalt münden kann, wie nahe Meinung und Handlung beisammenliegen. Polarisierte Meinungen, die zunehmend in der politischen Mitte angekommen sind, werden von politischen Akteuren initiiert und von Teilen der Medien befeuert. Mehr und mehr politische Themen – bei Weitem nicht mehr nur Migration und Flucht, sondern auch Covid, Kriege und Klima – sind von einer Stimmung der Unvereinbarkeit erfasst und vergiften persönliche Beziehungen in Familien, zwischen Freunden und im Arbeitsalltag. In diesem Umfeld neigen Menschen dazu, Gespräche und Beziehungen zunehmend zu meiden, sich aus Debatten zurückzuziehen. Extreme Ideen in der Mitte Ein Revival als Albtraum Bei den Vorwahlen der Republikaner in Iowa setzte sich Donald Trump mit 51 Prozent klar gegen Ron DeSantis (21 Prozent) und Nikki Haley (19 Prozent) durch. Das Duell Trump– Biden von 2020 dürfte sich – weiter radikalisiert – wiederholen. Wie diese Dynamik der Polarisierung und Radikalisierung stoppen? Wie zivilgesellschaftlich intervenieren, damit die politisch extremen Ideen nicht in die soziale Mitte einsickern? Ein Beispiel für eine zivilgesellschaftliche Initiative, die sich dieser Aufgabe seit mittlerweile acht Jahren stellt, sind die „Braver Angels“ (mutige Engel) in den USA. Als überparteiliche Basisbewegung 2016 im Vorfeld der Präsidentschaftswahl gegründet, versucht man, Brücken zwischen einander politisch unversöhnlich, oft wütend Gegenüberstehenden zu bauen bzw. zu erhalten. „Braver Angels“ depolarisieren in einer politisch-emotional hoch aufgeladenen Atmosphäre mit dem Ziel, soziales Vertrauen in persönliche Beziehungen und insbesondere in die Säulen der Demokratie wiederherzustellen. „Braver Angels“ agieren an der Basis, sie treffen Menschen, die unversöhnliche, ja messianische Ideologien aufgesaugt, geschlossene Politikbilder entwickelt und den Respekt gegenüber anderen Meinungen verloren haben. Ableger arbeiten mittlerweile im ganzen Land. Finanziert über Spenden, beruhen sie auf ehrenamtlichem Engagement und bieten alle ihre Aktivitäten kostenfrei an. Lokal, in Gemeindezentren (townhalls), in Kirchen, in bestehenden Initiativen bringen sie Leute an einen Tisch, organisieren Gesprächsrunden, Workshops, Seminare, Vorträge, Filme mit anschließenden Gesprächsrunden. „Braver Angels“ öffnen Räume für Debatten und setzen an thematischen Triggerpunkten an, wollen kommunikative Schalter umlegen, andere Meinungen und Informationen hören. Ihr Repertoire umfasst: · Informationsveranstaltungen über politisch strittige Themen und Maßnahmen wie soziale Verteilung und Diversität in der Gesellschaft; · Kommunikationstrainings, um die eigenen Positionen auch in einem Umfeld der Nichtübereinstimmung auszudrücken und dabei Stereotype und Dämonisierungen zu vermeiden; · Gesprächs- und Argumentationsrunden, um geteilten Erfahrungen, Meinungen und Werten auf den Grund zu gehen; d. h., um „ ,Braver Angels‘ depolarisieren in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre – mit dem Ziel, Vertrauen in Beziehungen und die Demokratie wiederherzustellen. “ herauszufinden, unter welchen Bedingungen und bei welcher konkreten Politikausgestaltung Menschen gemeinsame Vorstellungen haben und folglich politische Kompromisse auch mög lich wären. Die Formate der „Braver Angels“ geben Menschen Wertschätzung. Denn die Erfahrung fehlender Wertschätzung ist ein Aspekt, der als Erklärung für die Unterstützung von rechtsextremen Gruppen und Meinungen immer wieder angeführt wird. Auch die soziale Mitte fühlt sich in vielen Gegenden Europas, im Norden Frankreichs, im Osten von Deutschland und auch in Österreich, abgehängt und ist so KLARTEXT von extremen, nationalistischen Führern erreichbar. Wie oben erwähnt, gibt es zahlreiche Themen, über die viele Menschen nicht mehr reden wollen oder können. In diesem Klima ziehen sich vor allem liberal, sozial eingestellte Menschen aus Debatten zurück. Die oft konstatierte Politikmüdigkeit mündet so praktischerweise in einer „Demokratiemüdigkeit“, in der die Auseinandersetzung gescheut wird, um sich selbst und die privaten Beziehungen zu schonen oder weil das Reden „eh nichts mehr bringt“. Exakt in dieser Situation werden die rechtsextremen Demokratieverächter lauter, werden rechtsradikale Positionen und Wie viel Zensur brauchen wir? Das vergangene Zensurproblem war einfach: keine staatliche Bevormundung. Es gelten Meinungsund Pressefreiheit, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Das Zensurproblem hat sich jedoch gedreht. Der Vorwurf lautet: Die sozialen Medien zensurieren zu wenig, sie sind langsam bei der Eliminierung von Hassreden, Bösartigkeiten, Mobbing, Wahnsinn. Es wird effizientere Zensur gefordert; in diesem Fall nicht durch staatliche Behörden, sondern durch Konzerne, die ihr Geld mit Informationshandel verdienen. Eine Welle neuer Tabus rollt durch ehemals liberale Gesellschaften (wie USA oder GB). Viele Menschen in gehobenen Positionen, die das „Falsche“ sagen, verlieren Job und Reputation. Amerikanische Universitätspräsidentinnen wurden bei einer Anhörung gefragt, ob es gegen universitäre Richtlinien verstoße, einen Aufruf zum „Völkermord an den Juden“ zu unterstützen – und sie eierten herum. Mit der Uni-Leitung war es vorbei. Doch in der Tat hängt es vom Kontext ab: Wann kollidiert eine Foto: Getty Images / Bloomberg / Al Drago Lesen Sie auf furche.at auch „Verschwörungsmythen und Polarisierung: Freund, Feind, Ohnmacht“ (4.2.2021) von Markus Pausch. deren Träger zunehmend offen auch von der bürgerlichen Mitte unterstützt. Die Identitären etwa können sich „normalisieren“, ihre Aktionen und Masterpläne bekommen eine mediale Bühne, über sie wird berichtet, parlamentarische Parteien wie FPÖ und AfD versuchen gar nicht mehr, sich von ihnen zu distanzieren. Im Gespräch bleiben, das ist zunehmend mühsam. Ohne Zweifel. Aber das Ins-Gespräch-Kommen ist dann alternativlos, wenn der Lauf der illiberalen Demokratie, der Gewalt, der Menschenverachtung, des Faschismus noch gestoppt werden soll. Zwar können auch die „Braver Angels“ die Welt der Demokratie nicht gewährleisten, wie wir in den USA sehen; aber sie tragen ein wenig dazu bei. Alle Nuancen gehen verloren Die konkreten Aktivitäten der „Braver Angels“ sind nicht eins zu eins auf Österreich übertragbar. Zu unterschiedlich sind die politischen Kontexte. So gibt es in Österreich nicht (mehr) die zwei großen politischen Lager, die sich konträr gegenüberstehen würden, das Parteiensystem ist ausdifferenzierter und besteht aus einigen mittlerweile ähnlich großen Parteien. Dennoch breitet sich in den letzten Jahren eine Haltung aus, in der Nuancen verlorengehen, die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit fehlt, ja mehr noch: in der wesentliche demokratische Grundpfeiler infrage gestellt werden. Verschwörungstheorien und eine wachsende Zahl von Menschen, die sich abgehängt, nicht respektiert, sondern ungleich behandelt fühlen, sind der Boden, auf dem tiefe Klüfte entstehen und sich verfestigen. Diese Klüfte werden von Parteien miterzeugt, in der Folge aufgegriffen und mit Inhalten außerhalb des demokratischen Wertekanons gefüllt. Wenn der soziale Friede, wenn Grundwerte und demokratische Selbstverständlichkeiten im Rutschen sind, braucht es zivilgesellschaftliche Initiativen, die dagegenhalten. „Braver Angels“ – mutige Engel – können Anregungen, Ideen und Praxen für Gegenintervention geben. Die Autorin ist Professorin i. R. für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Von Manfred Prisching derartige Unanständigkeit mit den Prinzipien von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit? Schließlich dürfen in den USA auch Naziparteien ihre Propaganda verstreuen, und es werden ungustiöse Imperialismus- und Kolonialismustheorien gelehrt. In Deutschland diskutiert man ein Verbot der AfD. Heißt „wehrhafte Demokratie“: unerfreuliche Parteien einfach verbieten? Soll man eine Forderung nach Einführung der Scharia strafrechtlich ahnden? Noch unhandlicher wird die Aufgabe, soziale Mobs und Pogrome zu bändigen, die in sozialen Netzen ihren Blutdurst ze lebrieren. Wir sind derzeit in ziemlicher Verwirrung, wie wir mit verschiedenen Formen von Zensurmaßnahmen in der Informations- und Wissenswelt umgehen sollen, um sie nicht in die eine oder andere Richtung „ent gleisen“ zu lassen. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Uni Graz.
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