DIE FURCHE · 3 4 Das Thema der Woche Mörder eines Menschheitstraums 18. Jänner 2024 DAS ERWARTET SIE IN DEN NÄCHSTEN WOCHEN. Die FURCHE nimmt in den kommenden Ausgaben folgende Themen* in den Fokus: Justiz im Vormarsch Nr. 5 • 1. Februar Staatsanwaltliche Ermittlungen und Anklagen dominieren die Innenpolitik. Und weltweit werden Prozesse für Minderheitenrechte und Klimaschutz oder gegen Kriegsverbrecher geführt. Gehen wir in ein Zeitalter des Rechts? Generation Tiktok Nr. 7 • 15. Februar Nicht nur viele Eltern und Lehrkräfte, auch Verlage und die Politik stehen den Mediengewohnheiten junger Menschen anno 2024 ratlos gegenüber. Was braucht und wie erreicht man die „Generation Tiktok“? Zukunft der Zeitung Nr. 9 • 29. Februar Seit Jahrzehnten wird die gedruckte Zeitung totgesagt. Und ebenso wird das bestritten. Sicher ist, dass Digitalisierung und Internet die Medienwelt radikal verändert haben. Was bedeutet dies fürs klassische Medium Zeitung? Was wir essen werden Nr. 11 • 14. März Der Zukunft der Ernährung widmet sich das diesjährige Symposion Dürnstein. Die nationale und globale Ernährungssicherheit steht ebenso im Fokus wie die Folgen der Lebensmittelindustrie für die Biodiversität. Gott – (k)eine Frage Nr. 13 • 28. März In säkularen Gesellschaften spielt Religion eine immer geringere Rolle. Was bedeutet das für die Gottesfrage? Hat sich der Glaube an ein übergeordnetes und übernatürliches Wesen erübrigt? Oder kommt er wieder – und ganz neu? Wie geht Verzeihen? Nr. 15 • 11. April Kaum eine Beziehung kommt ohne Verletzungen aus. Versöhnung kann helfen, um einen Neustart zu wagen. Aber haben wir das Verzeihen in Zeiten von immer extremeren Positionen bereits verlernt? Wie es dennoch gelingt. *Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten. Aus vollem Hals Nr. 6 • 8. Februar Lachen ist ansteckend, heißt es, und es ist gesund. Es kann gegen Schmerzen helfen und verbessert die Gehirnfunktion. Doch aus vollem Hals zu lachen, gehört nicht immer zum guten Ton. Über die Kulturgeschichte der Freude. Was ist der Mensch? Nr. 8 • 22. Februar Nicht nur Künstliche Intelligenz und Transhumanismus, auch die „Genschere“ CRISPR oder seit jeher umstrittene Themen wie Eizellspende und Leihmutterschaft werfen bioethische Grundsatzfragen auf. Ein Tag für Frauen Nr. 10 • 7. März Entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Forderung nach einem Wahlrecht für Frauen, bat in den 1970ern eine UN- Resolution, einen Tag des Jahres zum „Tag der Vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden“ zu erklären. Waldland Österreich Nr. 12 • 21. März Zum internationalen Tag der Wälder richten wir den Blick auf das Waldland Österreich: Fast die Hälfte des Staatsgebietes ist bewaldet, doch das „grüne Herz“ gerät zusehends in Klima-, Energie-, Bau- und Freizeitstress. Diagonale Nr. 14 • 4. April Österreichs Filmbranche versammelt sich in Graz zur großen Werk- und Leistungsschau. Wie hat sich das Filmland Österreichs im letzten Jahr entwickelt? Und was wird anders unter der neuen Diagonale-Intendanz? Der Aufklärer Nr. 16 • 18. April Am 22. April jährt sich der Geburtstag Immanuel Kants zum 300. Mal. Wie kaum ein anderer hat der Königsberger das Denken revolutioniert. Wie steht es heute um den Ausgang aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“? ALLES AUCH DIGITAL AUF FURCHE.AT Podcasts, Videos, E-Paper und alle FURCHE-Artikel seit 1945 JETZT 77 Jahre Zeitgeschichte im NAVIGATOR. FORTSETZUNG VON SEITE 3 „ Die KPÖ braucht eine Entleninisierung. Denn sie macht im Parlament Sozialpolitik und damit das, was Marx nicht wollte. Marx argumentierte, dass man damit das System stütze. “ proletarische Revolution hinarbeiten, möglicherweise auch gewaltsam. Dass die KPÖ zumindest in Graz und Salzburg erfolgreich ist, führe ich auf eine Praxis zurück, die sehr an die sozialdemokratische Politik der 1960er/1970er Jahre erinnert. Die KPÖ gibt sich als soziale Kümmerpartei. Gerade Elke Kahrs KPÖ ist dafür ein Paradebeispiel. Sie macht das, wofür lange die SPÖ stand: Bürgernähe, Sozialberatung, Mieterberatung, vor Ort sein. Und das wird deshalb honoriert, weil es der SPÖ nicht mehr zugetraut wird. Weil sie ähnlich der SPD oder der Labour Party in den vergangenen 20, 30 Jahren, eine Wende zum Neoliberalismus gemacht hat und erst seit einigen Jahren einen Richtungswechsel versucht. Da ist viel Kredit verspielt worden in der politischen Linken. Und die Leute suchen nach einer Alternative. DIE FURCHE: Zum 90. Todestag von Lenin veröffentlichte die Grazer KPÖ eine Lenin-Lobschrift auf ihrer Homepage, die auch heute noch zugänglich ist. Zu lesen ist dort: „Es liegen mindestens 100 Gründe vor, weshalb die Menschheit von Glück sagen kann, dass es Lenin gegeben hat, und mindestens noch einmal 100 dafür, dass man sich wünschen muss, es gäbe ihn wieder.“ Dörr: Ich finde das relativ krank. Ich kann Ihnen 100 Gründe nennen, warum wir froh sein sollen, dass wir Lenin nicht mehr haben. Was die KPÖ hier macht, zeigt ihren Widerspruch in sich. Sie setzt in der Öffentlichkeitsarbeit theoretisch Revolutionsrhetorik ein, aber sie bereitet mitnichten eine Revolution vor. Das wäre auch lächerlich. Aber vor allem ältere Genossen ticken hier noch anders und huldigen einem Diktatoren. Wenn sich die KPÖ langfristig in der politischen Landschaft Österreichs durchsetzen will, dann muss sie sich von diesen kommunistischen Begrifflichkeiten verabschieden. Sie braucht eine Entleninisierung. Denn sie macht in der Praxis, im Parlament Sozialpolitik und damit eigentlich genau das, was Marx nicht wollte. Marx hatte argumentiert, dass man damit nur das System stütze. Vielmehr müsse man versuchen, das System zu zerstören, damit etwas Neues entstehen kann, eine Revolution. Und die KPÖ ist natürlich Teil des Systems und hat dadurch sogar Erfolg. „ Elke Kahr macht das, wofür lange die SPÖ stand: Bürgernähe, Mieterberatung, Sozialberatung, vor Ort sein. Und das wird deshalb honoriert, weil es der SPÖ nicht mehr zugetraut wird. “ DIE FURCHE: Wie interpretieren Sie die Tatsache, dass die KPÖ immer noch an dieser Rhetorik festhält. Ist das nur ein Storytelling, das bei einem Teil der Bevölkerung einfach gut zieht? Oder steckt dahinter echter Idealismus? Warum lässt man eine Lenin-Huldigung auf der Homepage stehen? Dörr: Zwei, drei echte Fundis sind mit Sicherheit in der Führungsetage der KPÖ zu finden. Das ist auch der Grund, warum Foto: Privat Nikolas Dörr, Historiker und Politikwissenschafter an der Hochschule der Polizei in Baden-Württemberg. diese Parteien über Jahrzehnte ein Randdasein geführt haben. In Wahrheit hat aber der Flügel der Reformer für den Erfolg gesorgt. Warum diese Huldigung auf der Homepage steht, ist schwer zu sagen. Entweder aus Gedankenlosigkeit oder aber, weil man tatsächliche echte Lenin-Anhänger damit adressieren wollte. DIE FURCHE: Weg von der KPÖ, hin zur SPÖ. Als der neue Chef Andreas Babler gekürt wurde, gab es viel Wirbel um ein Interview, das er als Traiskirchner Bürgermeister in seinem privaten Wohnzimmer gegeben hatte. Der Autor des Interviews beschrieb in dem Text eine Lenin-Büste, die Babler in einem Regal stehen hatte. Zwar dürfte es sich eher um eine Gag-Miniatur aus Plastik gehandelt haben, aber zumindest hatte es Babler wohl damals nicht gestört, dass diese ein Journalist zu Gesicht bekommt. Wie bewerten Sie das? Dörr: Einerseits sollte man das jetzt nicht überwerten. Andererseits: Auch ein kleiner Lenin ist nicht witzig. Lenin war ein Diktator, ein Massenmörder. Marx im Kleinen könnte ich akzeptieren. Der hat keine Menschen umgebracht. Ich finde es unangemessen, so etwas herumstehen zu haben. Dann könnte man auch einen kleinen Gulag aus Plastik danebenstellen und das lustig finden. Ich finde, Andreas Babler sollte diese Figur wegwerfen. DIE FURCHE: Denken Sie, hinter dieser Büste steht eine Art Unaufgeklärtheit seitens Bablers, oder liebäugelt er wirklich mit Lenins Gedankengut? Dörr: Babler ist jemand, der in der Arbeiterbewegung sozialisiert ist. Der wird sich mit Lenin ganz gut auskennen. Ich könnte mir vorstellen, dass es einfach so Reminiszenzen sind, an den antifaschistischen Widerstand oder Ähnliches, die er da hochhält. Oder an den Antiimperalismus anknüpfen will, den Lenin vertreten hat. Dennoch will ich klarstellen: Babler ist für mich kein Leninist, und die SPÖ orientiert sich auch nicht an Lenin. Man sollte diese Causa auch nicht überdramatisieren. Da habe ich ehrlich gesagt andere Probleme mit seiner Politik. DIE FURCHE: Welche denn? Dörr: FPÖ und ÖVP haben in den Umfragen mehr als das Doppelte an Prozentpunkten. Dass Babler es nicht schafft, mehr Wähler an sich zu binden, liegt an seiner Strategie. Er gräbt zu wenig Wasser ab für die FPÖ in puncto Migrationspolitik und fährt einen Kurs, der nicht breit genug ist. DIE FURCHE: Wo sehen Sie Parteien wie die KPÖ langfristig? Dörr: Ich kann mir vorstellen, wenn sie diese soziale Kümmerpraxis weiter durchzieht und das mit einer Ökoorientierung fusioniert, dann könnte das bei der Jugend, bei nachfolgenden Generationen, durchaus zu Erfolg führen. Hier gibt es definitiv ein Wählerpotenzial. Wie politisch künftige Generationen dann wirklich sind, ist schwer abzusehen. Dass Lenin bei einer solchen KPÖ noch eine Rolle spielt, bezweifle ich. Es kommt immer darauf an, wie viel Raum die Sozialdemokratie einer kommunistischen Partei lässt. Aktuell lässt sie ihr sehr viel.
DIE FURCHE · 3 18. Jänner 2024 Das Thema der Woche Mörder eines Menschheitstraums 5 Ein Blick mit theologischer Brille auf Lenin zeichnet ein vielschichtigeres Bild als jenes des doktrinären Atheisten: Lenin interessierte sich für sozialistisches Kirchenleben, ließ sich von der Bibel inspirieren, machte aber gegen „Gotterbauer“ in seiner Partei mobil. Der Gott aus der Wodkaflasche Von Wolfgang Machreich Schwer vorstellbar, aber Lenin war ein Kirchgänger. Nicht nur als Kind Wladimir Iljitsch Uljanow beim Besuch orthodoxer Gottesdienste; nicht nur als marxistischer Theoretiker Wladimir Iljitsch Lenin im Züricher Exil, wo er in der zur Stadt bibliothek umgewidmeten Wasserkirche die Lektürebausteine für seine ideologischen Hauptwerke zusammensuchte; sondern auch als Berufsrevolutionär mit Decknamen Dr. Jacob Richter besuchte er während seines London-Aufenthalts 1902/03 Gottesdienste. Besonders die „Seven Sisters Church“ hatte es ihm angetan, weil sich an die Gottesdienste in dieser „Sozialisten Kirche“ Diskussionen anschlossen, schreibt seine Frau Nadeschda Krupskaja 1930 in einer Rückschau auf ihr Leben mit Lenin. „Iljitsch mochte diese Debatten besonders gern, weil einfache Arbeiter daran teilnahmen.“ Einmal, erinnert sich Krupskaja, gab es nach einem heruntergeleierten Bibeltext eine Predigt, die den Exodus aus Ägypten ins gelobte Land mit dem Exodus der Arbeiter aus dem Königreich des Kapitalismus ins Reich des Sozialismus verglich. Danach standen alle auf, schreibt sie, und bekräftigten den Predigttext mit dem Lied: „Führe uns, o Herr, vom Königreich des Kapitalismus zum Königreich des Sozialismus.“ Roland Boer, australischer Theologe mit Spezialgebiet Marxismus, nahm diese Beschreibung Krupskajas zum Anlass, sich in mehreren Publikationen mit Lenins Verhältnis zur Religion zu beschäftigen. Denn, so Boer, „Lenin ist kein doktrinärer Atheist, der keine Zeit für Religion hat, sondern seine expliziten Äußerungen zur Religion lassen eine weitaus komplexere und ambivalentere Position erkennen“. Lenins Interesse und Sympathie für Londons christliche Sozialisten blieb nicht einseitig. Als 1907 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands einen sicheren Exiltreffpunkt für ihren fünften Parteitag suchte, bot die bis heute existierende „Brotherhood Church“ Lenin und seinen Genossen Asyl. Lenin als KP-Paulus Bild: iStock/ChEvgeny (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Vor dem Blick auf Boers Lenin-Exegese noch ein Hinweis auf den Exegeten. Xinhua, die staatliche Nachrichtenagentur Chinas, nennt Boer einen Top-Experten für Marxismus weltweit; und der deutschsprachige Wikipedia-Eintrag über Boer betont, dass er nach Lehraufenthalten an anderen Orten als erster nichtchinesischer Bürger an einer Schule für Marxismus in China („Dalian University of Technologyʼs School“) unterrichtet. In seiner Rezension über Boers Buch „Lenin, Religion, and Theology“ (New York, 2013) schreibt der US-Historiker Paul Le Blanc, der selbst zu Lenin, Leo Trotzki oder Rosa Luxemburg publiziert hat: „Bei der Lektüre dieses Buches (was er sicherlich getan hätte) hätte sich Lenin über Boers Begabung für unglaublich Komisches amüsiert und sich vielleicht über die allzu treffende Erkennung der religiösen Dimensionen seiner revolutionären Perspektiven gekränkt gefühlt.“ Boers Kenntnis der christlichen Theologie sowie sein Respekt vor Lenin und dessen Denken ergeben für Le Blanc „einen frischen, provokanten Beitrag zur Geistesgeschichte, Religionswissenschaft und marxistischen Wissenschaft“. Neben Lenins in London gewecktem Inter es se an Anknüpfungspunkten zum sozialistischen Christentum verweist Boer bei seiner Gottsuche in Lenins Gedankenwelt auf den französischen Philosophen Alain Badiou. Der vergleicht Lenins Rolle für den Kommunismus mit der des Apostels Paulus für das Christentum. Karl Marx steht, dieser Analogie folgend, als Art Religionsgründer auf einer Stufe mit Jesus Christus. Boer widerspricht. Er sieht hingegen Parallelen zwischen Lenin und Christus. Dabei denkt er nicht so sehr an Christus als Erlöser und Teil der Dreifaltigkeit, „sondern an den Jesus der hintergründigen Sprüche und Gleichnisse“ aus den Evangelien. Diese Texte, angereichert mit russischen Traditionen, hätten Lenin „so sehr inspiriert, dass er aktiv seine eigenen Gleichnisse schuf“. Besonders Jesu Gleichnis vom Sämann (Matthäus 13), in dem Saatgut verdorrt, von Vögeln gefressen oder von Dornen überwuchert wird, aber ein Teil des Samens vielfache Frucht bringt, überträgt Lenin in seinen Schriften und Reden gerne auf die Partei. Vor allem Gleichnisse und Sprüche mit landwirtschaftlichem Hintergrund haben es Lenin angetan und sind ihm eine Fundgrube, zeigt Boer: „Lenin erweist sich nicht nur als kreativer und innovativer Exeget, der sich die biblischen Texte aneignet, sie neu ausrichtet und aus neuen Blickwinkeln betrachtet, sondern er setzt auch die Gattung der Gleichnisse in seinen Schriften ein.“ Tolstoi und Gorki in Ungnade Daran anschließend liegt es nahe, dass Lenin innerparteiliche Gegner als „Unkraut“ bezeichnete. Boers Schilderung über Lenins Interesse an sozialistischen Christen im Kopf, überrascht es jedoch, dass Lenin zu den Feinden der Partei auch die verschiedenen Erscheinungsformen der religiösen Linken zählte. Besonders gegen die von Leo Tolstoi mit Sympathie beschriebene Tradition des christlichen und bäuerlichen Sozialismus verwahrte er sich. Tolstoi habe zwar die richtigen Fragen gestellt, so Lenins Kritik, aber seine Antworten seien unzureichend. Noch vehementer in Widerspruch stand Lenin zu den Vertretern des „Gotterbauertums“, zu denen auch Freunde und Mitrevolutionäre wie Anatoli Lunatscharski oder Maxim Gorki gehörten. Sie plädierten dafür, Gott nicht in der Transzendenz zu suchen, sondern in der menschlichen Gemeinschaft zu bauen. Für Lenin ein Irrweg. Obwohl oder gerade weil selbst „Gotterbauer“, war Lunatscharski als erster Minister für Bildung und Aufklärung nach der Revolution 1917 dafür zuständig, das alte Gottesbild aus den Köpfen der neuen Sowjet menschen rauszuschulen. Gewaltsame Mittel lehnte Lunatscharski als kontraproduktiv ab, sie würden nur Märtyrer Eine tiefgründige Analyse zu „Kommunismus und Religion“ (2.4.1953) von Hans Schwann lesen Sie auf furche.at. „ Jesu Sprüche und Gleichnisse aus den Evangelien, vor allem das Gleichnis vom Sämann, haben Lenin so sehr inspiriert, dass er seine eigenen Gleichnisse schuf. “ STREITFALL LENIN-MAUSOLEUM Das „heilige Grab“ Lenin fragte sich, warum die Religion nach der Revolution fortbesteht. Sein Nachfolger Stalin gab eine Antwort, indem er für Lenin ein heiliges Grab errichten ließ. schaffen. Seine Nachfolger werden dieser Logik nicht lange folgen. Laut Boer kiefelte Lenin jedenfalls intensiv an der Frage, warum die Religion nach der Revolution fortbesteht. Von Marx übernimmt Lenin die Beschreibung von Religion als „Opium des Volkes“. Da er aber näher an der russischen Lebenswelt ist, nennt er sie auch einen spirituellen Schnaps, eine Art göttlichen Wodka, „in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenbild, ihre Forderung nach einem mehr oder weniger menschenwürdigen Leben ertränken“. So wie Religion, schreibt Boer, ist für Lenin Alkohol beides: Erleichterung für die Müden, Beistand für die Unterdrückten und sozialer Mittler, aber auch eine Quelle der Sucht, die Sinne abstumpft, Kraft und Entschlossenheit verschwendet. Nur logisch, dass Lenin gleichzeitig mit der Religion auch dem Wodka den Kampf ansagt – und sich seines Erfolges da wie dort nicht sicher ist. Nicht zufällig schreibt er 1921, vier Jahre nach der Revolution und drei Jahre vor seinem Tod: „In gewisser Hinsicht ist eine Revolution ein Wunder.“ Hundert Jahre Pilgerstätte und Satanstempel Beim roten Granitbau am Roten Platz sah Boris Jelzin rot. Nie war das Lenin-Mausoleum gefährdeter, nicht nur seine Mumie zu verlieren, sondern geschliffen zu werden, als in den Anfangsjahren des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Russlands. Der Rote Platz sei kein Friedhof, argumentierte Jelzin. Unterstützung suchte er in Russlands Intelli genzija. Umsonst: Erst 1990 war der Rote Platz in den UNESCO-Weltkultur-Adel aufgestiegen; letztlich zog nur die Ehrenwache ab. Seit der Amtsübernahme Wladimir Putins 1999 hat Wladimir Lenin im Mausoleum wieder eine sichere Bleibe. Russisch-orthodoxe Bischöfe im Ausland und Monarchisten im Inland wettern zwar regelmäßig gegen diesen „Tempel Satans“, doch Patriarch Kyrill I. (auch er ein Wladimir) hält seine schützende Hand über Lenin, der viel lieber neben seiner Mutter in Sankt Petersburg bestattet werden wollte. (wm)
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