Aufrufe
vor 10 Monaten

DIE FURCHE 17.08.2023

  • Text
  • Insel
  • Franz
  • Klimaschutz
  • Thema
  • Welt
  • Politik
  • Foto
  • August
  • Furche
  • Menschen

DIE

DIE FURCHE · 33 2 Das Thema der Woche Wie anfangen? 17. August 2023 AUS DER REDAKTION Wie anfangen? Diese Frage stellt sich in unserer Branche ziemlich regelmäßig: bei jeder Ausgabenplanung, bei jedem Text, bei jedem Posting in den sozialen Medien. „Wie anfangen?“: Das fragen sich aber auch viele Menschen angesichts des nahenden Herbstes; oder vor einer Herausforderung, die zu Beginn schier unlösbar scheint. Der Neustart in einem anderen Land kann eine solche Mammutaufgabe sein; oder auch die vor uns allen liegende Transformation. Im aktuellen Fokus finden Sie drei individuelle Zugänge dazu, was das Anfangen erleichtern – oder erschweren – kann. Und im Kompass lesen Sie ein dazu passendes Streitgespräch über den globalen Klimaprotest, den eine 15-Jährige namens Greta Thunberg vor genau fünf Jahren begann. Dazwischen, im Journal, fangen wir mit der Geistigen Landesverteidigung an – und reisen dann weiter nach Australien und Fernost. Wie China denkt, beschreibt der Religionswissenschafter Franz Winter. Und Ursula Baatz skizziert, dass Christentum und Buddhismus einander näher sind, als wir meinen. Über ein Urteil, das uns als FURCHE besonders nahegeht – nämlich jenes rund um den Tod des ehemaligen Chefredakteurs Hannes Schopf –, schreibt Lydia Ninz im „Diesseits von Gut und Böse“. Und Maria Renhardt würdigt die große Herta Müller zu deren 70. Geburtstag. Sie hat zu schreiben begonnen, um ihre Würde zu bewahren. Wo endet Demokratie – und wo beginnt Diktatur? Hier gilt es, wachsam zu bleiben. (dh) Von Katharina Tiwald Ein weißes Rechteck: ein neuer Text. Fangen wir an – ganz neu. Oder wieder. Von vorne. Frisch! Manchen Anfängen wohnt nicht nur Zauber inne. Sondern der Atem von Jahrzehnten. Unsicherheit und Zweifel, viele Fragen. Oder einfach Matsch. Unsere Freundin Petra erzählt uns, ihre Nachbarin, eine alte Bäuerin, habe begonnen, ihr bei Besuchen Fragen zu stellen. Fragen nach der Natur, denn offenbar beschränkt sich das Wissen der Bäuerin auf ihren unmittelbaren Arbeitsbereich, Feldfrüchte und Nutztiere: Sie fragt beim Gang durch den Garten nach den Namen der Wiesenblumen. Und wie eigentlich Schmetterlinge entstehen. Wir staunen über diese Geschichte und freuen uns über den Beweis, dass der Durst nach neuem Wissen auch mit über achtzig nicht einschläft. Bastian, der dabeisitzt, ist noch nicht dreißig, Metallarbeiter, voll Neugier auf alles in der Welt, einer Wissbegier, die er mit Büchern und Podcasts füttert. Die Raupen von Schmetterlingen, sagt er, zersetzen sich in ihren Kokons nahezu vollständig, bevor aus wenigen Zellen der neue Körper zu entstehen beginnt: „Sie werden komplett zu Gatsch!“, in seinen faszinierten Worten. Vollkommene Metamorphose, lese ich nach. Wie das oft ist, wenn ein neuer Text beginnt, wie dieser es gerade tut, geschehen beim und vor dem Schreiben Zufälle, die so wirken, als seien sie keine: Kaum denke ich bei den Raupen in ihren Kokons an Kafkas Gregor Samsa, dessen Metamorphose die biologische Leiter hinunterführt, poppt das Mail auf, das mir meine tägliche ungarische Vokabel liefert. Diesmal: csótány – Kakerlake (ich habe, das ist ein großer Posten in der Geschichte von meinen Anfängen, mindestens dreimal von vorne begonnen, Ungarisch zu lernen, aber jedes Mal nach der Aneignung ein paar neuer Brocken die Umsetzung meines Wunsches auf eine noch zu kommende Zeit verschoben: eine ganz gute Erfahrung, was die Begrenztheit von Lernen und den Traum vom Können betrifft). Von Kafka zur Schule Nun gut, also: Kafka. Metamorphose. Insekt. Ungarisch. Lernen! Ich stricke Assoziationen: So beginnt Text, bevor ich überhaupt den Computer einschalte. In meinem Kopf reichen sich Kafka und die ungarische Kakerlake Finger und Fühler, und jetzt drängen noch meine Schüler dazu ins weiße Rechteck, das auf dem Bildschirm erschienen ist. Weil ich vom Schreiben, vom Wortestricken nicht so leben Lesen Sie dazu auch Katharina Tiwalds Essay „Wie Wiener Mittelschulkinder ihre Ferien verbringen“ (29.6.2022) auf furche.at. Langsam, ganz langsam stimmen wir uns auf das neue Schuljahr ein. Was kann ich als Lehrerin zumuten? Und was darf ich hoffen? Gedanken über das Anfangen. Immer wieder: Werden „Zwischendurch muss ich mich erholen. Dann aber immer wieder das Wachsein üben“: Katharina Tiwald in einem Steingarten auf Dugi Otok, Kroatien. kann, wie ich mir das als angenehm vorstelle, bin ich Lehrerin geworden, deswegen ist es nicht weit von Kafka zu Schule (außerdem ist die Brücke von Kafka zur Schule vielleicht ein bisschen eleganter als die vom Raupenmatsch zu den Schülern, die sich doch auch wandeln sollen). In meinen Anfängen als Lehrerin in Wien war ich noch schockiert, als Zehnjährige auf die Frage, welche Getreidesorten sie kennen, fröhlich „Mehl!“ krähten. Mittlerweile habe ich ein Sensorium dafür entwickelt, was sie wissen – manche können Traktor fahren, das kann ich zum Beispiel nicht – und was nicht. Ich begleite jeweils einen Jahrgang in verschiedenen Fächern „ Das ist der Gedanke, der mich wieder Vorfreude auf das neue Schuljahr empfinden lässt: zu merken – und zu hoffen! –, dass ich Spuren ziehe. “ durch vier Jahre Mittelschule. Das bedeutet für mich auch, die Kinder zum Lesen, zur Literatur zu verführen. In der ersten Klasse machen wir aus Goethe-Porträts Gespenster und lesen das Hexeneinmaleins; in der vierten lege ich ihnen den ersten Satz aus Kafkas „Verwandlung“ vor und frage nach Ideen, wie die Geschichte weitergehen könnte. Oft tut sich wenig. Manche meiner Schüler kommen mit magerem Deutsch aus der Volksschule, klingen wienerisch, aber können Gedanken kaum ausformulieren, weil ihnen im wahrsten Wortsinn die Wörter fehlen. Nicht wenige sind der Meinung, dass mit zwei, drei Sätzen eine Geschichte – zum Beispiel die von Gregor Samsas weiteren Erlebnissen – fertig erzählt ist, eine Einstellung, die sich in anderen kreativen Schreibeinheiten wiederholt. Auch das Lesen ist manchen kaum näherzubringen. Nach der letzten Klassenlektüre, einem ergreifenden Jugendbuch namens „Hexenfieber“, fragte mich D., ein Foto: Katharina Tiwald besessener Handynutzer, ob es einen zweiten Teil des Buches gebe. Nein, sagte ich – was er mit einem herzhaften „Na, Gott sei Dank!“ quittierte. In manchen Momenten, in denen ich meine Beobachtungen zum Lesen hochrechne, frage ich mich, ob nicht eher etwas aufhört, als dass es beginnt. Nämlich eine Lesekultur als Ganzes, geopfert auf einem riesigen Altar aus lauter Smartphones. Ein leeres Blatt Papier? Dann aber drängen sich einzelne Kinder in meine sommerliche Erinnerung. Und ich darf ahnen, dass in ihnen Anfänge stattfinden: vom Erzählen, von der Freude an Geschichten, von einer Neugier, die sich an erwachsenen Themen zu entfalten beginnt. E., der sich mit der deutschen Grammatik noch nicht tiefergehend angefreundet hat, findet wunderbare Formulierungen, schreibt vom Meer, das die Sonne reflektiert, oder vom Geruch einer besonderen Speise, der sei „das beste Parfum der Welt“. A. sucht sich in der Buchhandlung, wo ich die (spärlichen) Käufe der Kinder mit jeweils fünf Euro sponsere, einen dicken Stephen-King-Schmöker aus. Und N. ließ uns von Gregor Samsa wissen, er habe, als er aus tiefen Träumen erwachte und sich als Insekt wiederfand, beim Blick aus dem Fenster lauter Kakerlaken gesehen. In Anzügen und mit Aktentaschen. Nicht zuletzt hat Z. in einer Biblio thek Robert Crumbs graphic novel zu Kafkas Biografie aufgestöbert und fragt mich nach Einzel heiten. Es ist hochgradig romantisch und bestimmt falsch, das Lehrer-Schüler-Verhältnis als das Beschreiben eines leeren Blatts zu sehen. Aber in das vollgekritzelte Buch, das jedes Kind ist, darf auch ich mich ab und zu eintragen. Das ist der Gedanke, der mich wieder Vorfreude auf das neue Schuljahr empfinden lässt: in den vielen Gesprächen, die im Klassenzimmern und den Gängen entstehen, zu merken – und zu hoffen! –, dass ich Spuren ziehe. Pläne auf einer Flipchart Langsam, langsam stimmen wir uns auf den September ein, demnächst werden aus den Wochen, die wir zählen, Tage. Wie jedes Jahr schwinge ich Pläne, von denen viele mit dem Grad meiner Organisiertheit zu tun haben – eine übersichtliche Flipchart, auf der die Hausübungen aller Fächer verzeichnet werden. Wieder eine neue Idee zum Formatieren von Notenlisten, zur Befüllung der großen Pinnwand. Nicht zuletzt träume ich von möglichen Lektüren. Was kann ich zumuten? Was darf ich hoffen? T. hat mir vorigen Herbst gesagt, das Buch, das ich ihm in der Lesewoche in die Hand gedrückt hatte, sei das erste, das er wirklich mit Interesse und ganz gelesen habe: Shlomo Grabers Autobiografie „Der Junge, der nicht hassen wollte“. Wird mir so etwas wieder gelingen? Nicht zuletzt weiß ich um die Wichtigkeit, mein Wachsein zu pflegen. Nichts wäre einfacher, als in einen monotonen Ich-erledige-das-Modus zu verfallen, der mit sich zieht, nur mehr zu jammern, hauptsächlich über Unfähigkeiten und Unmöglichkeiten. Aber das wäre ein Verfall: mein Verfall, der Verfall meines Unterrichts. Kann man sagen, das wäre ein Kakerlakenmodus? Zwischendurch muss ich mich erholen. Atem holen, wie alle Lehrer. Eventuell im Meer schwimmen ... dann aber, das ganze Schuljahr über, immer wieder das Wachsein üben. Die Inspiration anlocken. Mensch werden, immer wieder. Die Autorin ist Schriftstellerin und Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

DIE FURCHE · 33 17. August 2023 Das Thema der Woche Wie anfangen? 3 Von Manuela Tomic Das Anfangen in einem neuen Land beginnt viel zu früh. Es beginnt, ehe man sich bewusst ist, dass dieses nun die neue Heimat ist. Es beginnt, obwohl der Krieg noch andauert. Und es beginnt noch vor dem ersten Wort, das man in der fremden Sprache spricht. Es war im Mai 1992, als meine Mutter sich mit meiner Schwester und mir in einen Bus setzte und Richtung Österreich fuhr. An der slowenisch-österreichischen Grenze holte uns mein Onkel ab. Er verdiente sein Geld bereits seit Jahren als Gastarbeiter in Südkärnten und führte schweißtreibende Forstarbeiten durch. Als der Krieg in Form eines Militärhubschraubers auch über unsere Stadt Kreševo hinwegfegte, wusste Mutter, wir müssen los. Und so saßen wir nun in Onkels Auto, ohne Arbeit, ohne eine Wohnung, aber mit einem Koffer voller eingewechselter D-Mark. Der Koffer sollte uns für den Anfang versorgen. Vater war in Kreševo geblieben, also nur wenige Kilometer von Sarajevo entfernt. Der Krieg werde sicherlich nur wenige Wochen dauern, dachte er. Sechs Monate später kam Vater, erschüttert über die Vorgänge in seiner Heimat, in Österreich an. Ich war damals fünf Jahre alt und umklammerte mit meinen kleinen Händen sein bärtiges Gesicht. Nie wieder wollte ich von seinem Schoß weichen, damit er nicht verschwindet. Aber verschwunden waren ja eigentlich wir. Vater schaffte es raus, trotz Checkpoints. Und so bleibt er für mich der wahre Pazifist. Dankbarkeit gehört dazu Dankbarkeit – auch das gehört zum Anfangen dazu. Meine Eltern waren dankbar, dass wir in einem Hotel, das als Flüchtlingsunterkunft diente, Unterschlupf fanden. Wir bekamen Kisten mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln als Unterstützung – und Kleidung, die für uns abgegeben wurde. Auf einem Foto sitze ich auf dem Boden neben so einer Kiste, die gefüllt war mit Mehl, Nudeln, Bananen, Orangensaft und Marmelade. Neben mir hockt ein Stoffpapagei, den mir meine Tante gekauft hat. Ungeschickt ziehe ich mir eine viel zu große Leggins mit Leopardenaufdruck an. Und meine dunkle Haut verschwimmt auf dem alten Fotofilm mit dem Schatten hinter mir. 1992 gab es noch kein Internet, und Vater sprach die Nachbarn in Obersielach, einem Kärntner Dorf, auf Arbeit an. Schnell fand er eine Stelle als Fernkraftfahrer. Auch dafür waren wir dankbar. Es dauerte einen Sommer, bis wir Zdenka kennenlernten. Sie war Slowenin und lebte schon lange in Österreich. Sie besaß ein Gasthaus, gab uns die Wohnung darüber zur Miete und Mutter ein wenig Arbeit als Putzfrau. Nun hatte meine ältere Schwester ein eigenes Zimmer, in dem sie bis spät in die Nacht Deutsch lernte, und ich schlief zwischen meinen Eltern im Ehebett. Auf der Wohnzimmercouch schnarchte meine Großmutter. Jeder Winkel der Wohnung wurde genutzt, jeder hatte seine Aufgaben. Meine Schwester lernte in der Schule als Erste Deutsch. Also füllte sie alle unsere Formulare aus. Denn Anfangen beginnt mit unzähligen Kästchen, in die man seine Daten eingibt – Daten für die Aufenthaltsgenehmigung, für die Arbeitsgenehmigung, für den Nachweis der Schulpflicht, der Staatsbürgerschaft und vieles mehr. Noch heute füllt meine Schwester jedes Formular mit größter Perfektion und Sorgfalt aus. Foto: imago / Rainer Unkel FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in den 1990er Jahren mit ihrer Familie vor dem Jugoslawienkrieg geflüchtet. Aber was folgt nach dem Schrecken? Die Anfänger Wir sind mit unseren Mappen, unseren Passfotos und unseren Daten in den österreichischen Bürokratieapparat eingedrungen, während Sarajevo eingekesselt wurde. Als 1995 der Friedensvertrag von Dayton ratifiziert wurde, besuchte ich meine erste Schulstunde. Die Lehrerin sprach laut und deutlich mit mir und sehr langsam. Gemeinsam mit Ivan, dem Serben, und Slawiša, dem Slowenen, besuchte ich Förderstunden in Deutsch. Eine neue Sprache lernen, wenn man in der alten erst begonnen hat zu sprechen – auch das ist Anfangen. Der Krieg war vorüber, die Sicherheit eingekehrt, doch Jugoslawien war erloschen. Der nun aufgeteilte Balkan wurde, wie so viele Nationen, im Krieg geboren. Die Grenzen wurden erkämpft und neu gezogen, während Österreich im selben Jahr Mitglied der EU wurde, jener grenzenlosen neuen Utopie einer posthistorischen Welt. Der Kommunismus galt nun endgültig als besiegt, das Projekt Europa wurde besungen. Im Klavierunterricht lernte ich, „Ode an die Freude“ zu spielen, und war berauscht von der Sprache, von den „Töchtern aus Elysium“ und so fort. Ich war geborgen in diesem Europa, das mir so viel Freude und meinen Eltern so viel Arbeit machte. Wenn ich mit meiner Mutter über das Anfangen spreche, sagt sie: „Die ersten zehn Jahre in Österreich kannst du aus meinem Leben streichen.“ In diesen Jahren könne sie sich an nichts mehr erinnern. „Es gab ja auch keine Zeit, nachzudenken“, sagt sie. Immer ging es ums Überleben, um die Existenz, um die Aufenthaltsgenehmigung und darum, trotz Kriegsende in Österreich bleiben zu dürfen. Dazu war es wichtig, immer „ Wir saßen in Onkels Auto mit einem Koffer voller eingewechselter D-Mark. Vater war in Kreševo geblieben, wenige Kilometer von Sarajevo entfernt. Der Krieg werde nur wenige Wochen dauern, dachte er. “ eine Arbeit zu haben und nie krank zu werden. Als ich 15 Jahre alt wurde, bekamen wir das unbefristete Aufenthaltsvisum. Ich besuchte die zweite Klasse des BORG Klagenfurt und las Kafkas „Briefe an den Vater“. Ich verliebte mich in die deutschsprachige Literatur. Auch das ist Anfangen. Jeden Sommer und jeden Winter fuhren wir nachts in dieses dunkle Land ohne Straßenbeleuchtung und besuchten jene Verwandten, die Bosnien nie verlassen haben. Ich konnte es jedes Mal kaum erwarten, bis wir wieder zurück in Österreich waren. In einem neuen Land anzufangen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ist eine Lesen Sie dazu auch „Erinnerungen an Sarajevo: Die Tauben auf dem Sebilj“ von Manuela Tomic (15.12.2021) unter furche.at. Neue Heimat Rund 100.000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sind zu Beginn des Krieges in Österreich angekommen. Sie fanden ein hilfsbereites Land vor und eine ungewisse Zukunft. Mammutaufgabe. Stellen Sie sich vor, wie viel Nerven schon ein ganz gewöhnlicher Umzug innerhalb einer Stadt kostet. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie müssten zusätzlich zum Umzug noch eine neue Arbeit finden und eine neue Sprache lernen. Anfangen hört nie auf. Das habe ich gelernt. Denn so viel im eigenen Leben hat mit dem Anfangen zu tun. Etwa die Tatsache, dass ich meinen Eltern heute noch die Post übersetze, weil sie sich manchmal nicht sicher sind. Die Tatsache, dass ich Artikel über das Anfangen schreibe, und der Bruch, der die eigene Biografie bereichert. Das Anfangen haben wir gelernt. Beim letzten gemeinsamen Familienurlaub starrten wir alle ungläubig in die Bildschirme. Wir sahen, wie verzweifelte Ukrainerinnen und Ukrainer die Grenzen zu Polen und Rumänien überquerten. „Wenn morgen in Österreich Krieg wäre“, sagte meine Schwester, „würde ich wieder von vorne anfangen und mir, wenn es sein muss, auch einen Job als Putzfrau suchen.“ Warum auch nicht? Wenn man anfängt, weiß man, dass niemand auf einen gewartet hat. Doch genau das befähigt uns alle, neu anzufangen, immer und immer wieder. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne „mozaik“ beschäftigt sie sich mit Identität und Fremde.

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023