31 · 3. August 2023 Deckel der Urne Franz Jägerstätters mit dem Geburts und dem Hinrichtungsdatum. DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– der Jungen bei der legendären „Rede zur Zukunft der Nation“ von Bundeskanzler Karl Nehammer nur in Form von „Klimaklebern“ zur Sprache kamen, deren „Untergangsapokalypse“ man im „Autoland“ Österreich bekämpfe, sprach Bände. Dass der Kanzler zuletzt die – nervigen, aber gewaltfrei agierenden – Aktivistinnen und Aktivisten in Von Doris Helmberger eine Reihe mit rechtsextremen Identitären und islamistischen Hasspredigern stellte, is zu 1,5 Millionen sollen kommen – aus 184 Ländern, aus altischen Niederschlag erst finden müssen. Auch bei den jüngsten großen politi- Goldene Worte, die freilich ihren prak- macht indes nur noch sprachlos. len Kontinenten, aus aller Welt. Nicht nur das Thema Missbrauch liegt als schen Reden im Rahmen der Salzburger Nach vier Jahren Coronapause Schatten über dem Weltjugendtag, auch Festspiele kamen die Jungen nur am Rande vor. Dezidiert angesprochen wurden sie ist die Sehnsucht nach Gemeinschaft, und ja, auch nach Event, denkbar Institution, die zwischen vatikanischen nur von Nobelpreisträger Anton Zeilinger, die innere Zerrissenheit einer globalen groß geworden. Und der diesen Mittwoch Machtkämpfen, lebensweltlicher Entfremdung und freikirchlichen bzw. reaktionä- Begegnung und weniger Digitalisierung der in den Schulen für mehr persönliche in Lissabon gestartete und noch bis Sonntag dauernde katholische Weltjugendtag ren Anfechtungen um ihre Zukunft ringt. warb – und insgesamt für mehr „Offenheit ist zweifellos ein solches Event. Neben allem gemeinsamen Singen und Beten geht es de im Vatikan ist, hat Ende Juni ein Besuch Für eine solche – wie auch für den „be- Wie groß die Ratlosigkeit auch und gera- für das Unvorhersehbare“. eben auch darum, eine Auszeit zu erleben österreichischer Journalistinnen und Journalisten gezeigt. Die junge Generation sei präsident beschwor – braucht es freilich e gründeten Optimismus“, den der Bundesund am Ende vielleicht sogar den Papst zu sehen – jenen alten, weißen Mann, der wie kaum mehr zu erreichen, klagte damals ine ernsthaftere Politik und mehr Chancen kaum ein anderer die Sprache der Jungen Kurienerz bischof Rino Fisichella, immerhin Pro-Präfekt im Evangelisierungsdireich, sondern auch in Sachen Generati- für die Jungen; nicht nur im Bildungsbe- beherrscht und ihre Sorgen und Nöte versteht. Auch und gerade hinsichtlich ihrer kasterium. „Wir sprechen nicht mehr ihre Sprache“, erklärte er – und hielt dabei erhöhung um zehn Prozent) und der exisonengerechtigkeit (Stichwort Pensions- Zukunft auf diesem Planeten. „Jugendliche sind die VIPs der Kirche“, ein Smartphone hoch. Zudem gebe es in tenziellen Frage des Klimaschutzes. meinte der Innsbrucker Bischof Hermann den Familien kaum mehr den „Willen, den Den Jungen nicht nur Mut zuzusprechen, Glettler im Vorfeld des Weltjugendtags Glauben weiterzugeben“. Woran das liegen sondern sie auch nicht weiter wie eine Zumutung zu behandeln: Darum ginge es – beim „Österreich-Treffen“ in der Deutschen Schule von Lissabon. Es gehe nun auch in der Kirche. Dass der Start des Welt- könnte? Schweigen. darum, auch für den Alltag frische Impulse zu liefern, das Feuer des Glaubens neu Nicht nur in der Kirche, auch in der Politik an dem alle jährlichen Ressourcen aufge- Nur noch „Klimakleber“? jugend tages und der „Welterschöpfungstag“, zu entzünden und die „Buntheit“ des Weltjugendtags zu nutzen, um die „Vielstim- gegenüber der jungen Generation. In Ös- kann dafür ein Weckruf sein. herrschen massive Verständnispro bleme braucht sind, am 2. August zusammenfielen, migkeit der Kirche“ kennen und schätzen terreich tendiert man derzeit sogar zu Ignoranz, ja Feindseligkeit: Dass die Probleme zu lernen. doris.helmberger@furche.at „Präfaschistoid“ sei das Gerede von „den Normalen“, meinte Vizekanzler Kogler. Doch was meint „Faschismus“ überhaupt? Eine Analyse nach Umberto Eco. Seite 7 Das Erbe der Kolonialkriege, stadtplanerisches Versagen und ein fragwürdiges Polizeikonzept: über die Ursachen der jüngsten Gewaltexzesse in den Banlieues. Seite 8 Die Experimentalarchäologie erlaubt neue Einblicke in das Leben unserer Vorfahren. Mit vollem Körpereinsatz geht man auf Tuchfühlung mit der Vergangenheit. Seite 12 In seinem neuen Brief an Johanna Hirzberger schreibt Hubert Gaisbauer über seine BarbieAversion und das Sammeln als „Kompetenz des Alters“. Seite 14 Eine bessere Welt kann greifbar werden, meint Katharina Renner im „Diesseits von Gut und Böse“ – durch Avantgarde, Anwaltschaft und Vergemeinschaftung. Seite 15 Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 32 10. August 2023 Von Sandra Lobnig ie Bank verwehrt die Finanzierung für eine Immobilie und den Überziehungsrahmen am Konto; die Versicherung erhöht die Prämien; der Vorgesetzte bevorzugt jüngere Kollegen bei der Verteilung von Aufgaben: Altersdiskriminierung hat viele Gesichter, und nicht in jedem Fall ist sie gleich auf den ersten Blick erkennbar. „Auf manche Bereiche, in denen Menschen aufgrund ihres Alters diskriminiert werden, sind wir erst durch die Beschwerden aufmerksam geworden, die bei uns eintreffen“, sagt Daniela Grabovac, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle Steiermark. An die 600 potenzielle Fälle von Altersdiskriminierung haben Grabovac und ihre Kollegen jährlich zu bearbeiten. Im Laufe der vergangenen Jahre sind es immer mehr geworden. Häufig geht es um Themen der Digitalisierung, erklärt Grabovac: „Wenn zum Beispiel Arzttermine ausschließlich online zu vereinbaren oder bestimmte Informationen nur im Internet zu finden sind, trifft das ältere Menschen, die in der digitalen Welt nicht sozialisiert sind, deutlich stärker.“ Höheres Alter wird in der Gesellschaft nicht mehr mit einer aktiven, produktiven Lebensphase assoziiert. Tatsächlich aber fühlen sich Menschen subjektiv meist jünger. Während es für die Arbeitswelt rechtliche Regelungen gibt, die Benachteiligungen aufgrund des Alters verbieten, fehlen in vielen anderen Bereichen des Lebens konkrete Gesetze. Zumindest bei Kreditvergaben an ältere Menschen hat sich vor Kurzem etwas verbessert: Seit April dieses Jahres darf das Alter allein kein Hindernis für einen Kredit sein, es muss auf jeden Fall auch die Bonität geprüft werden. „Außerdem gibt es, was die Digitalisierung betrifft, eine Empfehlung der EU, dass im Gesundheitsbereich nicht alles digital abgewickelt werden soll“, ergänzt Grabovac. Sie wundert sich, dass es für Altersdiskriminierung so wenig Sensibilität gibt. wie Banken oder Versicherungen und im Überraschend ist das nicht, werden ältere type und Diskriminierung zu reduzieren, braucht es neben einem besseren ge- „Das Alter ist schließlich der einzige mögliche Diskriminierungsgrund, den wir al- etwa, wenn von „Alters-Tsunami“ ge- vergleichsweise defizitär dargestellt: mit setzlichen Antidiskriminierungsschutz gesamtgesellschaftlichen Diskurs, dann Menschen in den Medien doch seit jeher le – hoffentlich – erleben werden.“ Auch sprochen und die ältere Bevölkerung als Gehstock oder Schwierigkeiten beim Hören und Sehen. des Alters. So sind Altersbilder nicht nur auch mehr Bewusstsein für die Diversität wenn es noch viel Luft nach oben gibt: In Belastung für die Gesellschaft dargestellt der jüngeren Vergangenheit ist die Aufmerksamkeit für Altersdiskriminierung sagt Stefan Hopf – und zwar in zweierlei zen auch vor Verallgemeinerungen. Dabei wird. Frauen seien dabei stärker betroffen, nach wie vor zu häufig defizitär, sie strot- „Der alte Mensch bzw. Ageism in der Gesellschaft gestiegen, Hinsicht: Zum einen verstärkt das Alter gibt es „das Alter“ nicht. Eine Gruppe an in der modernen auch Forscherinnen und Forscher widmen tendenziell negative Geschlechtsstereotype. So gelten Frauen generell als schlechhungen, gesellschaftliche Altersbilder zu (21.2.1957): bevölkerung ausmacht und eine Alters- „Das hohe Alter wird trotz vieler Bemü- Gesellschaft“ Menschen, die etwa ein Fünftel der Gesamtsich vermehrt dem Thema. tere Autofahrerinnen, ältere Frauen hinterm Steuer umso mehr. Zum anderen Lebensphase gesehen, in der man aktiv Fundstück vom nicht über einen Kamm scheren. „Ich wäre verändern, nach wie vor nur bedingt als Ein frühes spanne von 25 bis 30 Jahren hat, lässt sich führt höheres Alter dazu, dass Frauen bestimmte Bedürfnisse, wie jenes nach Äs- führt dazu, dass Menschen versuchen, es dass Menschen im Alter alle kränker sind“, und produktiv sein kann“, sagt Hopf. „Das renommierten zum Beispiel sehr vorsichtig zu behaupten, Wiener Altersforscher Leo- Der Soziologe Stefan Hopf bezeichnet Altersdiskriminierung als progressives Phänomen, das oft schon in der Mitte des Le- aus Hopfs Forschung: „Eine ältere Frau se kommt diese Einstellung nicht nur bei auf furche.at. Alter ein Faktor, der die Wahrscheinlichthetik, abgesprochen werden. Ein Beispiel auf Distanz zu halten.“ Interessanterweipold Rosenmayr, sagt Hopf. „Natürlich ist das biologische bens beginnt und mit steigendem Alter bzw. wurde in ihrem Bedürfnis, eine Operationsnarbe so klein wie möglich zu halten, schen vor. Studien zum subjektiven Alter ist nur ein Faktor unter mehreren.“ jüngeren, sondern auch bei älteren Menkeit gewisser Krankheiten erhöht. Aber es abnehmenden Ressourcen zunimmt. Je nach Branche können Menschen in ihrem vom Arzt nicht ernstgenommen.“ haben ergeben, dass sich ältere im Verhältnis zu ihrem chronologischen Alter mei- Job bereits ab Mitte vierzig aufgrund ihres Alters mit negativen Vorurteilen – etwa einer geringeren Leistungsfähigkeit – kon- hohe Alter keine positiv besetzte soziale Engmaschige Führerscheinchecks für älstens jünger fühlen. „Das zeigt, dass das frontiert sein. In der Pension weitet sich Nicht immer ist Altersdiskriminierung Identität ist“, interpretiert Hopf. Um Stereo- tere Fahrer, nach denen regelmäßig Forderungen laut werden, sieht Stefan Hopf die Ungleichbehandlung auf den Dienstleistungssektor aus, etwa wenn die Bank Fällen ist sie auch nicht beabsichtigt. Ein deshalb kritisch. Sie würden das Bild der offensichtlich und systematisch, in vielen die Kreditkarte nicht verlängert. „Während Altersdiskriminierung Menschen zuteren Menschen generell lauter spricht, ohten verstärken. „Dabei zeigen Studien, dass junger Verkäufer im Handyshop, der mit äl- gebrechlichen, unzurechnungsfähigen Alnächst nur in Teilbereichen ihres Lebens ne zu wissen, ob diese schlecht hören, tut das allgemeine Unfallrisiko bis zum Alter betrifft, kann sie die Person schließlich als dies höchstwahrscheinlich nicht mit diskriminierender Absicht. Eine Maklerin, ren Alter. Ich fände Checks für alle Auto- von 80 nicht höher ist als jenes im mittle- Ganze umfassen, beispielsweise wenn ihr im Pflegeheim menschenwürdige Behandlung verwehrt wird“, sagt Hopf. tisch den Vorzug vor älteren – trotz guter etwa 75 auch öfter machen kann.“ Außer- die jüngeren Kaufinteressenten automafahrer wichtig – die man ab dem Alter von Bonität – gibt, vermutlich auch nicht. Beide dem plädiert Hopf dafür, die positiven Beiträge Älterer für die Gesellschaft vor den haben allerdings von klein auf bestimmte Altersbilder internalisiert, die ihr Handeln Vorhang zu holen und ihnen damit die soziale Anerkennung zukommen zu lassen, Altersdiskriminierung kommt auf allen unbewusst beeinflussen. „Psychologische Ebenen des menschlichen Zusammenlebens vor. Auf der Mikroebene, also in Kinder teils negative Bilder vom Alter ha- forscht aktuell an der Uni- Antidiskriminierungsstelle ment als Großeltern oder im Ehrenamt ver- Forschungen haben ergeben, dass schon Der Soziologe Stefan Hopf Daniela Grabovac leitet die die sie beispielsweise durch ihr Engage- der zwischenmenschlichen Interaktion, ebenso strukturell in Organisationen Krankheit und Gebrechlichkeit assoziiert. Phänomen Ageism. Fälle der Altersdiskriminierung. Altersbilder langsam ben“, erklärt Stefan Hopf. Alter wird oft mit versität Glasgow zum Steiermark und bearbeitet dient haben. Auf diese Weise könnten sich verändern. DIE FURCHE · 33 16 Diskurs 17. August 2023 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Jägerstätter und die Kirche Leserbrief von Franz Joseph Weißenböck. Nr. 32, Seite 16 zu Unbedingtes Gewissen Fokus von Otto Friedrich Nr. 31, Seiten 2–4 Die langjährige Beziehung von Dr. Weißenböck zu Franz Jägerstätter ist bemerkenswert. Wenn es um ein nostra culpa in Bezug auf die Unterstützung seiner Entscheidung durch die Kirche geht, ist es gut, die Sach lage aus der Nähe zu betrachten. 1983 hat Franziska Jägerstätter auf die Frage, warum ihr Mann nicht in den Krieg gezogen sei, geantwortet: „Weil sie (die Nationalsozialisten, Anm.) die Kirche so verfolgt haben.“ Tatsächlich gab es in keiner deutschsprachigen Diözese einen derart großen Verfolgungsdruck gegen Priester wie in Linz. Im Heimatdekanat Jägerstätters, Ostermiething, sind acht von zwölf Priestern zumindest eine Zeitlang inhaftiert gewesen; nur einer konnte an seiner Pfarrstelle bleiben. Aus der Diözese Linz waren 40 Priester in Konzentrationslagern, von denen elf dort starben; aus der Erzdiözese Wien mit der doppelten Katholikenzahl waren neun Priester in KZs. Franz war mit mehreren verfolgten Seelsorgern befreundet. Mit seiner Entscheidung, den Weg Hitlers zur Weltherrschaft durch Kriegsdienstverweigerung nicht zu unterstützen, stellte er sich an ihre Seite. Neben seiner Frau verstanden und unterstützten Seelsorger seine Haltung. Er traf sich z. B. heimlich mit dem aus St. Radegund vertriebenen Ortspfarrer Karobath. Dieser sagte 1983: „Ich habe Franz gerngehabt, ich wollte ihn retten; aber er hat mich immer geschlagen mit der Schrift.“ In seiner Gewissensnot konsultierte „FPÖ gefährdet Österreichs Sicherheit“ Gesichter des Zusammenhalts Salzburg, wie es spielt, scheitert und jubelt Thomas Starlinger, österreichischer Militärvertreter DIE FURCHE holt „Systemerhalterinnen“ vor den Vorhang. Zum Auftakt spricht Bianca Sünbold über ihr „Le nozze di Figaro“, Lessings „Nathan der Weise“ Vier Mal Festspiele: Verdis „Macbeth“, Mozarts bei EU und NATO, über die Neutralität, „Sky Shield“ und die NATOZukunft. · Seiten 5–6 Leben als Intensivpflegerin. · Seiten 9–10 und „Liebe (Amour)“. · Seiten 18–19 Das Thema der Woche Seiten 2–4 „Frische Impulse“ und „Offenheit für das Unvorhersehbare“ wurden jüngst in Lissabon und Salzburg beschworen. Doch gerade den Jungen wird das schwergemacht – in Politik wie Kirche. Jugend als Zumutung B RELIGION „ Gegenüber den Jungen herrschen Verständnisprobleme. Österreichs Politik tendiert sogar zur Feindseligkeit. “ Unbedingtes Gewissen Katholik und Nationalsozialist sein – das geht nicht zusammen. Für diese Überzeugung ging vor 80 Jahren Franz Jägerstätter in den Tod. Foto: FFJI/Bildersammlung (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Foto: APA / dpa / Patrick Seeger Vom Mythos der Normalität Der Arzt und Bestsellerautor Gabor Maté über unsere toxische Kultur, die die psychische Gesundheit schädigt. · Seite 13 Walsers Wege und Abwege Der streitbare „Großschriftsteller“ hat die deutschsprachige Nachkriegsliteratur geprägt – und heftige Debatten ausgelöst. Nun ist Martin Walser 96jährig gestorben. Ein Nachruf von Anton Thuswaldner. Seite 17 AUS DEM INHALT Die mystische Erhöhung Was geht in Frankreich vor? Zeitreisen ist ein Handwerk „Ich bin ein Sammler im Garten“ Handfeste Visionen furche.at IN KÜRZE ■ Klosterneuburg: neuer Propst Jägerstätter Franz Bischof Fließer in Linz. Unmittelbar nach diesem Gespräch sagte er zu seiner Frau: „Die haben ja selber Angst, ich könnte ja ein Spion sein.“ In Brandenburg und Berlin stützten ihn die Gefängnisgeistlichen Jochmann und Kreutzberg. Letzterer schrieb nach Kriegsende an Franziska, dass er im Gefängnis nie einen glücklicheren Menschen erlebt habe als ihren Mann, nachdem er ihm von Pater Franz Reinisch erzählt hatte; dieser hatte mit derselben Begründung den Kriegsdienst verweigert und war hingerichtet worden. Jägerstätter sagte: „Wenn ein anderer, ein Priester, das auch getan hat, dann darf ich es auch.“ Jochmann sagte am Abend des Todestages von Franz zu den in Brandenburg tätigen Vöcklabrucker Schulschwestern: „Ich bin heute dem einzigen Heiligen in meinem Leben begegnet; das ist ein Landsmann von euch, ich muss euch gratulieren.“ Schuld und Feigheit ist eher der Umgang mit der Problematik nach Kriegsende. Letztlich ließ man die heimkehrenden Soldaten mit ihrem Erlebten, Erlittenen und Verschuldeten allein. Nach dem späteren Prälaten Franz Vieböck wollte man Reaktionen ausweichen wie: „Warum habt ihr uns nicht gleich gesagt, dass es besser ist, nicht zu kämpfen?“ Jägerstätter war jahrzehntelang der Reibebaum, half aber nicht wenigen, das eigene Tun und Lassen anzuschauen und allmählich einzuordnen – doch das ist eine weitere Geschichte. Noch etwas: Der Dogmatiker Manfred Scheuer hat während des Informativprozesses zur Seligsprechung die massiven theologischen Einwände entkräftet und geklärt, dass bereits für Thomas von Aquin bei einem Martyrium Glaubenslehre und -praxis zusammengehören. Erna Putz, Ohlsdorf Jägerstätter und Engleitner wie oben Anton Höslinger (53) ist 67. Propst des Augustiner-Chorherren-Stifts Klosterneuburg. Mehr als zwei Jahre nach dem Rücktritt von Bernhard Backovsky (u. a. wegen Vorwürfen, mit Missbrauch nicht adäquat umgegangen zu sein) wurde Höslinger zu dessen Nachfolger gewählt. Das Kloster vor den Toren Wiens hat turbulente Zeiten hinter sich. Der Herzogenburger Altpropst Maximilian Fürnsinn war Administrator; der deutsche Kurienbischof Josef Clemens war nach einer Apostolischen Visitation des Stifts im Sommer 2020, bei der es um die Missbrauchsvorwürfe ging, päpstlicher Delegat. Clemens und Fürnsinn stellten den neuen Propst der Öffentlichkeit vor. Beim Lesen der informativen Abhandlungen über Franz Jägerstätter ist mir ein Ausspruch von William Faulkner in den Sinn gekommen, der schrieb: „Die Vergangenheit ist nicht tot – sie ist nicht einmal vergangen.“ Eine kleine Ergänzung möchte ich einbringen: Leopold Engleitner führte mehrere Gespräche anhand der Bibel mit Franz Jägerstätter. Er hat als Zeuge Jehovas den Dienst in der deutschen Wehrmacht verweigert und musste deshalb fast vier Jahre Furchtbares in drei Konzentrationslagern erleiden. „Ich habe mich immer bemüht, gerechte Grundsätze anzuwenden und die Rechte des anderen zu wahren“, sagte Engleitner. „Deshalb hat mich niemand zwingen können, eine Waffe gegen einen Mitmenschen zu richten.“ Franz Jägerstätter und Leopold GESELLSCHAFT Engleitner sind zum Symbol für Mut und Grundsatztreue geworden. Hätten mehr Menschen wie sie gehandelt, die Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre anders geschrieben worden. Ing. Harald W. Schober, 8160 Weiz Zynischer Vergleich Leserbrief zu Jägerstätter von Helmut Waltersdorfer Nr. 32, Seite 16 Wenn Herr Waltersdorfer die „Letzte Generation“ mit Franz Jägerstätter vergleicht, ist das in meinen Augen nur zynisch. Jägerstätter war ein Mann, der für seinen Glauben und seine Überzeugung sein Leben gelassen hat, der in einem totalitären Regime – wohl wissend, welche Folgen es für ihn selbst hat – mit Konsequenz den Kriegsdienst verweigert hat, der sicher auch gefoltert wurde und dann D Dürftige Gesetzeslage Progressives Phänomen Frauen stärker betroffen Foto: iStock/skynesher Internalisierte Altersbilder Gesellschaft Ein Fünftel der Österreicher(innen) ist laut Volkszählung älter als 65 Jahre. Soziale Teilhabe ist ihnen aber immer weniger möglich. Aktuelle Forschung zeigt: Altersdiskriminierung hat System – doch es gibt Auswege. Die Krux mit dem Alter „ ‚Das Alter‘ gibt es nicht. Eine Gruppe von Menschen, die eine Altersspanne von 25 bis 30 Jahren hat, lässt sich nicht einfach über einen Kamm scheren. “ Diversität des Alters Foto: Privat Foto: Foto Fischer Soziale Anerkennung 11 Für immer jung? unter dem Fallbeil gestorben ist … Ich frage mich, wie man die Stirn haben kann, diesen Mann mit Menschen, die sich als die „Letzte Generation“ bezeichnen, zu vergleichen? Wo sind da Parallelen? Werden die Proponenten der „Letzten Generation“ verfolgt, droht ihnen Folter oder Tod? Ich glaube nicht, dass es mit Jägerstätter vergleichbar ist, andere Menschen aufzuhalten oder Einsatzfahrzeuge zu behindern und damit wissentlich in Kauf zu nehmen, andere zu gefährden. Franz Jägerstätter hat niemanden behindert, niemanden gefährdet! Irene Noszian, via Mail Scheindebatten? Bares und Wahres Von Doris Helmberger. Nr. 32, S. 1 ■ Heidemarie Uhl (1956–2023) Die österreichische Zeithistorikerin verstarb im Alter von 66 Jahren. Die Wissenschafterin war am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW tätig. Noch im Jänner 2023 hatte die Akademie unter der Koordination Uhls den Forschungsschwerpunkt „Antisemitismus der Gegenwart“ lanciert. Für Uhl war die im internationalen Vergleich „späte Gründung eine Chance“, wie sie damals sagte. Heidemarie Uhls Forschung konzentrierte sich auf Gedächtniskultur und -politik. Sie trug wesentlich dazu bei, die Rolle Österreichs im Nationalsozialismus kritisch zu reflektieren und die Erinnerung an die Schoa wachzuhalten. BILDUNG Scheindebatten führen offenbar leicht zu Scheinberichten. Das ist eine „fatale Unsitte“ für eine Qualitäts zeitung. Dabei könnte man über vieles in hoher Qualität berichten. Zum Beispiel über das von den Medien mantraartig geforderte Informationsfreiheitsgesetz. Die angeblich in fast allen Staaten der Welt schon längst vorhandenen diesbezüglichen Gesetze sind sehr unterschiedlich gestaltet und enthalten Ausnahmen, die den Behörden effizientes Arbeiten ermöglichen. Sie würden damit der Informationspflicht der Medien nachkommen. „Alles andere wäre ein demokratiepolitisches Spiel mit dem Feuer.“ Johann Fichtenbauer, via Mail Erinnern an Lueger Täglich fließt der Berg nach Wien Von Wolfgang Machreich Nr. 32, Seiten 2–3 Diesen aufschlussreichen Beitrag über die Wasserversorgung der Stadt Wien haben wir mit Interesse gelesen. Allerdings fehlt darin leider ein Hinweis auf die unvergänglichen Verdienste von Bürgermeister Dr. Karl Lueger (1897–1910) für die Errichtung der II. Wiener Hochquellenleitung. Ein diesbezüglicher Nachtrag wäre daher für weniger geschichtskundige Leser – auch im Hinblick auf die unwürdige Debatte um das Denkmal – wertvoll. Lucie und Dr. Peter Feith, Wien Das Alter tut nicht weh Die Krux mit dem Alter Von Sandra Lobnig. Nr. 32, Seite 11 Danke für diesen Beitrag! Ich bin im 81. Lebensjahr und freue mich umso mehr, dass Sie sich dieses Themas angenommen haben. Stefan Hopf hat mich mit seinen Aussagen richtig froh gemacht. Ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen und habe sehr früh das Alter schätzen gelernt. Damals gab es noch andere Bedingungen: Alters medizin, Altersheime u. v. a. m. steckten noch in den Kinderschuhen, doch auf diesem Gebiet hat sich einiges getan! Ich habe eine liebevolle Familie, welch ein Geschenk – und ich bin gerne auf dieser verrückten Welt. Das Alter tut mir dabei nicht weh, höchstens der Körper – aber auch das gehört zum Leben. Seit meiner Pensionierung bin ehrenamtlich tätig und darf in einer Volksschule mit den Kindern Lehrstoff durchgehen. Jedes Mal gehe ich froh nach Hause. Auch fahre ich noch mit meiner Kraxn durch die Gegend, es empört mich immer wieder, dass alten Menschen unterstellt wird, ihr Geist sei nicht mehr ganz auf der Höhe! Bei Bankgeschäften gibt es ähnliche Erlebnisse, doch ich habe mich „weitergebildet“ und bin online unterwegs! Danke nochmals allen, die zu diesem Artikel beigetragen haben. Er kommt in meine Mappe für außerordentliche FURCHE-Texte! Helene Klaschka, via Mail ■ Sorge vor Herbst Die Pensionierungswelle bei Lehrerinnen und Lehrern dürfte – früher als ursprünglich erwartet – an ihrem Höhepunkt ankommen. Über alle Schulformen und Bundesländer ist das Maximum laut Pensionsprognosen des Bildungsministeriums mit dem heurigen Jahr bereits erreicht. In der Sekundarstufe (Mittelschule, AHS, BMHS) trifft das fast flächendeckend zu, in der Primarstufe (v. a. Volksschule) steht die Spitze in fünf Bundesländern aber erst noch bevor. Für das kommende Schuljahr 2023/24 waren einen Monat vor Schulstart bei insgesamt rund 5000 Vollzeitäquivalenten noch 200 Voll- und Teilzeitstellen nicht besetzt. Viele Tipps, wenig Einsatz und höhere Gewinnchancen – das ist der EuroMillionen Anteilsschein 38 neue Millionäre an einem Tag Das hat es noch nie gegeben: 38 Glücksspiel-Millionäre in Österreich an einem einzigen Tag – und möglich gemacht hat es der EuroMillionen Anteilsschein, mit dem es gelungen ist, am 1. August den 72 Millionen Euro schweren Europot zu knacken. Wer jetzt nicht unbedingt auf -zig Millionen aus ist, sondern sich mit einem Teil davon zufriedengibt, dafür aber seine Chancen, am großen Geldkuchen mitzunaschen, erhöhen will, für den halten die Österreichischen Lotterien den Anteilsschein bereit. Die Idee hinter dem Anteilsschein ist einfach: Man nimmt an einer Vielzahl von Tipps mit geringem Einsatz teil. Damit erhöht man einerseits seine Gewinnchance und ist andererseits an einem allfälligen Gewinn eben nur mit einem bestimmten Anteil beteiligt. So wie jene 38 Personen aus allen neun Bundesländern, die sich Anfang August die 63 Anteile der „Chance XXL“ teilten und damit je nach Anzahl ihrer Anteile (bis zu fünf sind pro Person möglich) zwischen 1,1 Millionen und 5,7 Millionen Euro gewonnen haben. Es gibt mit L, XL und XXL drei verschiedene Chancen beim Anteilsschein, denen jeweils ein bestimmtes System zur Generierung der Tipps durch den Computer zugrunde liegt. Bei der „Chance L” nimmt man mit 63 Tipps zum Preis von 7,70 Euro pro Anteil an der Ziehung teil, es gibt 21 Anteile. Bei der „Chance XL“ sind es 168 Tipps zum Preis von 10,20 Euro für jeden der 42 Anteile, und bei der zuletzt so erfolgreichen „Chance XXL“ 378 Tipps für 15,20 Euro pro Anteil, hier gibt es 63 Anteile. Den Anteilsschein kann man in allen Annahmestellen und auch über win2day spielen. Foto: Österreichische Lotterien
DIE FURCHE · 33 17. August 2023 Literatur 17 Sie erzählt vom Leben in der Diktatur und untersucht autoritäre Machtkonstrukte: Damit bringt Herta Müller das Bedürfnis nach Freiheit zum Glänzen. Zum 70. Geburtstag der Trägerin des Literaturnobelpreises. Von Maria Renhardt „Wie behält man seine Als der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Herta Müller 2009 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wird, heißt es in der Begründung unter anderem, ihren Werken seien „Landschaften der Heimatlosigkeit“ eingeschrieben. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Land ihrer Herkunft, in Sehnsüchten und Reflexionen über das Dasein in der Diktatur spiegeln sich die Erfahrungen aus ihrem eigenen sehr bewegten Leben wider. Herta Müller wurde im rumänischen Banat geboren und gehörte dort der deutschsprachigen Minderheit an. In jungen Jahren arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik, als eines Tages plötzlich der Geheimdienst bei ihr auftauchte und sie zur Bespitzelung der Leute zwingen wollte. Dass sie sich weigerte, rächte sich mit fatalen Konsequenzen. Kein Schreibtisch, keine Freunde, weil das Gerücht gestreut wurde, sie sei eine Spionin. Bis zu ihrer Kündigung saß sie während der Arbeit in der Fabrik auf der Treppe. Man drang heimlich in ihre Wohnung ein und schnitt Stücke von einem Fuchsfell ab, um ein Zeichen zu setzen. Mit Angst, Einsamkeit und Isolation sollte sie zermürbt werden. „Das Schreiben hatte“, wie sie in ihrer Nobelpreisrede erklärt, „im Schweigen begonnen, dort auf der Fabriktreppe, wo [sie] mit [sich] selbst mehr ausmachen mußte, als man sagen konnte.“ Aber auch während ihrer Aushilfsjobs in der Schule musste sie feststellen, dass man eigentlich dem Staat gehörte. Erst 1987 konnte sie in den Westen ausreisen. Erfahrene Diktatur als Warnung Noch heute bekräftigt sie, wie etwa gegenüber dem Standard, dass sie die in ihrer Heimat erfahrene Diktatur jedenfalls als eine Warnung mitgenommen habe: „Man darf sich nicht arrangieren. Man darf nichts auf Kosten anderer Leute machen. […] Besser ist es, von Anfang an darauf [zu] achten, dass man sich nicht schuldig macht, als später auszusteigen.“ Gerade auch angesichts der aktuellen Kriegssituation verspüre sie ein Gefühl der Ohnmacht. Ihre Mutter wurde 1945 in ein in der Ukraine gelegenes Lager gebracht, während ihr Vater sich schon als Jugendlicher von den Nazis hat vereinnahmen lassen und im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der SS gekämpft hat. In Foto: imago / Panama Pictures ihren Texten hat sie über diesen Schmerz geschrieben. „Die Vergangenheit geht nicht weg. Sie hing im Leben meiner Familie wie ein verschwommener Mond“, schreibt sie in der „Rede zur Verleihung des Preises für Toleranz und Menschenrechte“. In ihrem berühmten Roman „Atemschaukel“ beschäftigt sich Müller mit der Internierung von Zwangsarbeitern, für die sie gemeinsam mit dem Lyriker Oskar Pastior in der Ukraine recherchiert hat. Anlässlich ihres 70. Geburtstages hat der Hanser Verlag nach ihren jüngsten Collage-Arbeiten einen schmalen Sammelband he rausgebracht. Es handelt sich überwiegend um Reden, verstreute Publikationen oder sonstige Texte. Dass sie gelegentlich ähnliche Themen oder Erlebnisse zur Sprache bringt, zeigt nur, wie ernst es Herta Müller mit Werten wie Würde, Freiheit und dem Menschsein ist, vor allem dann, wenn andere „bestimmen, wer“ man ist. Denn wenn die Gesellschaft „kein ethisches Fundament“ mehr hat, hat sie „ihren Kompass endgültig verloren“. In den Reden analysiert sie die Mechanismen der Diktatur. Erst der Staatsfeind wird zum Individuum, während „das Kollektiv eine erschreckende Gleichheit“ repräsentiert. Gegen Geschichtsverdrehung Im Text „Unsichtbares Gepäck“ kritisiert sie den ausgehöhlten Begriff der menschlichen Würde nach 1945. Eng damit verbunden sei die Wahrheit, die man bei der Vergangenheitsbewältigung nicht erkennen wollte. „Geschichtsverdrehung“ und Würde?“ Leugnen waren gängige Verhaltensmuster. In Osteuropa war die Situation in Bezug auf das Bewusstsein der Mitschuld sehr ähnlich. Außerdem „hat sich die Diktatur nicht 1945, sondern erst 1989 verabschiedet“. Wie soll man aber leben, um nicht „in alte Muster“ zurückzufallen: „Ich könnte auch sagen, wie behält man seine Würde.“ Besondere Aktualität hat die Rede, die sie im November 2015 bei der Verleihung des Heinrich- Böll-Preises gehalten hat. Darin geht es um das „Heimweh nach Zukunft“, das in der Flucht kulminiert. Müller blickt zurück auf das alte Osteuropa und veranschaulicht minutiös den kollektiven Wunsch, die Heimat zu verlassen, um irgendwo ein besseres Leben anzufangen. Sind die Grenzen geschlossen, bedeutet Flucht eine immense Gefahr. Sie reißt nicht nur Familien auseinander, sondern trägt auch ein „todes offenes“ Ende in sich. Besonders eindringlich ist die Schilderung der einst hypnotischen Stimmung im Zug von Temeswar nach Bukarest. Während der Fahrt standen die Menschen plötzlich unvermittelt auf und warfen schweigend einen Blick nach Jugoslawien. Dann war alles wieder wie vorher, „als hätte es die Unterbrechung durchs Glitzern der Donau nicht gegeben“. Obwohl „Zukunft […] wie Zuflucht klingt“, sollte man sich von diesen Assoziationen nicht täuschen lassen. Es sei auch für die osteuropäischen Länder hoch an der Zeit, anzuerkennen, dass das Thema Flucht eng mit ihrer eigenen Geschichte verbunden ist. In der eindrucksvollen Rede „Herzwort oder Kopfwort“ leuchtet Müller die finsteren Winkel des Exils auf den Spuren zahlreicher vor den Nazis geflohener und schließlich emigrierter Schriftsteller aus. Geblieben ist eine traurige Bilanz, aber „die Toten des Exils hat niemand gezählt“. Neben „Armut oder Mangel“ sieht Müller die Sprache in Diktaturen als wichtiges Herrschaftsinstrument. „ManipulierteSprache und manipulierte Menschen – dies ist ein und dasselbe“, heißt es in ihrem Text „Das chinesische Glasauge“. Jedes Jahr seien den Menschen einfach Wörter abhandengekommen, weil man sie nicht mehr aussprechen durfte. Sie wurden durch neue ausgetauscht, die mittels „konsequenter Wiederholung“ rasch dem Wortschatz einverleibt wurden. Dabei verweist sie auch auf Victor Klemperers Forschungen über die Sprache der Diktatur in seinem Band „Lingua Tertii Imperii“. Bei ihren Verhören – stets mit der Zahnbürste in der Handtasche – habe sie sich eine verbotene „Sprache im Kopf“ als eine Herta Müller Die Schriftstellerin wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren und geriet ins Visier der Securitate. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute lebt. „ Bei Herta Müller erhalten die Begriffe Heimweh, Identitätsund Heimatsuche, Gerechtigkeit eine neue, tiefere Dimension. “ Art Freiraum angewöhnt, um „inneren Halt“ zu gewinnen und undurchschaubar zu bleiben. „In die Konstellationen der Dinge und Sprache in meinem Kopf reichte niemand hinein.“ Bei Herta Müller erhalten die Begriffe Heimweh, Identitätsund Heimatsuche, aber auch Gerechtigkeit eine neue, tiefere Dimension. Ihr persönliches Erleben ist zur Herznaht ihrer Literatur geworden. Das Schreiben – mitunter sogar auf dem Grat des Surrealen – hat sie gerettet und ihr einen „inneren Ausweg“ geboten. Im Erzählen vom Leben in der Diktatur und in der Untersuchung autoritärer Machtkonstrukte bringt sie das Bedürfnis nach Freiheit zum Glänzen. In einer Demokratie gilt es, sie sich als unschätzbaren Wert immer wieder neu bewusst zu machen. Herta Müller spürt in diesen Texten als zutiefst politische Autorin erneut ihren Lebensthemen nach und plädiert mit Vehemenz für den Widerstand: weise, philosophisch und menschlich. Eine Fliege kommt durch einen halben Wald Von Herta Müller Hanser 2023 128 S., kart., € 24,70
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