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DIE FURCHE 17.05.2023

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DIE FURCHE · 20 6 Wirtschaft 17. Mai 2023 Das Gespräch führte Brigitte Quint In Österreich liegt die Inflation etwa zwei Prozent über den EU-Durchschnitt. Für identische Produkte müssen hierzulande zehn bis 20 Prozent mehr bezahlt werden als etwa in Deutschland. Auf einem von Vize-Kanzler Werner Kogler (Grüne), Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) und Landwirtschaftsminister Totschnig (ÖVP) einberufenen „Lebensmittelgipfel“ wurden nun Lebensmittelkonzerne dazu aufgefordert, die Preise für Grundnahrungsmittel transparenter zu gestalten, Energieunternehmen haben unterdessen mit einer stärkeren Gewinnabschöpfung zu rechnen. Vielen Experten gehen diese Maßnahmen angesichts von 200.000 Menschen, die seit der Teuerung als armutsgefährdet gelten, nicht weit genug. DIE FURCHE sprach mit dem Berliner Wirtschaftshistoriker und emeritierten VWL-Professor Carl-Ludwig Holtfrerich über ein notwendiges staatliches Eingreifen, die Gefahr von Mangellagen und weshalb Touristen in Österreich die Inflation befeuern könnten. Illustration: Rainer Messerklinger Wohlstand in Flammen Die Kaufkraft der Österreicherinnen und Österreicher sinkt dieser Tage gefühlt täglich. Immer mehr Menschen gelten als armutsgefährdet. Besonders betroffenen sind Alleinerziehende. DIE FURCHE: Gesetzt den Fall, man ließe die Inflation in Österreich einfach laufen, den Markt sich selbst regulieren – was genau würde dann passieren? Carl-Ludwig Holtfrerich: Das ist abhängig von der Not und der Stimmung innerhalb der Bevölkerung. Mit der hohen Inflationsrate geht ein Wohlstandsverlust in Bezug auf das Geldvermögen einher. Aber: Wenn die Löhne, Gehälter und Sozialausgaben dementsprechend angepasst werden würden, würde das vermutlich die meisten Menschen befrieden. Geschieht das nicht, entsteht Unmut, der sich mittelfristig politisch auswirken wird: Parteien Ob der Teuerung gilt es auch Hoteliers und Gaststättenbetrieben ins Visier zu nehmen, sagt Inflationshistoriker Carl-Ludwig Holtfrerich. Ein Gespräch über Handwerker-Wucher, Bauernmärkte und Zurückhaltung. „Preisdeckelung hat sozialistische Züge“ KLARTEXT Nur net WENIGAOISWIAMIA! Österreich war bekanntlich jüngst Gastgeberland bei der Leipziger Buchmesse. Unser Auftritt bei den sich durch die gemeinsame Sprache unterscheidenden Nachbarn scheint, folgt man dem Medien-Echo, erfreulich erfolgreich gewesen zu sein – trotz des geradezu unterirdisch provinziellen Mottos ME- AOISWIAMIA. Angeblich wollte man damit der vermeintlich so verbreiteten „Mia san Mia“-Mentalität etwas entgegensetzen. Mir jedoch erschien dieser aufdringliche Versuch, eine uns vorgeblich charakterisierende Kleinkariertheit plakativ zu entkräften, schlicht peinlich. Ungefähr so peinlich, wie die sich verdichtenden Anzeichen dafür, dass die politischen Parteien mit dem zunehmenden Gebrauch einander abwertender Schlag-Worte in einen vorzeitigen Wahlkampf abgleiten. Anders lässt sich nämlich weder die zunehmend dysfunktionale Kommunikation zwischen den Koalitionspartnern interpretieren noch die seltsamen Planspiele der innerparteilichen Konkurrenten von Frau Rendi-Wagner, die trotz stagnierender Umfragewerte ihrer erwünschten grünen und liberalen Ampelpartner eine künftige Koalition mit der Volkspartei ausschließen wollen. Letztlich haben die fatalen Nachwirkungen der im mittlerweile ermatteten Untersuchungsausschuss verfolgten Strategie einer nachhaltigen Rufschädigung der bürgerlichen Regierungspartei alle beschädigt – mit Ausnahme jenes von Viktor Orbán schwärmenden Parteiobmanns, der mit einer künftigen Rolle als „Volkskanzler“ und Propagandaminister in einer Person liebäugelt. Wäre es nicht so traurig: das übergeordnete Motto zu all dem scheint WENIGAOISWIAMIA zu lauten. Daher die dringende Bitte an alle politischen Akteure, es angesichts der großen aktuellen Herausforderungen nicht so billig zu geben. Sonst wird es wirklich peinlich und provinziell. Der Autor ist Ökonom und Publizist. Von Wilfried Stadler am rechten oder linken Rand bekommen in solchen Fällen fast immer Zulauf. Dementsprechend sollte nicht nur die EZB antiinflationäre Maßnahmen ergreifen, sondern auch der jeweilige Staat innerhalb seiner Fiskalpolitik; zum Beispiel durch Mehrwertsteuersenkung oder andere regulierende Eingriffe, die den Preisauftrieb bremsen. Doch lassen Sie mich an diesem Punkt auf das Dilemma der Zentralbanken eingehen: Sie sollen auf der einen Seite mit ihrer Geldpolitik die Inflation bremsen, aber auch dafür sorgen, dass die Banken nicht in Konkurs gehen. Aus diesem Grund können sie nicht in dem Maße die Leitzinsen erhöhen, wie das für die Inflationsbekämpfung eigentlich notwendig wäre. Auf Österreich bezogen sind deshalb der Staat, also seine fiskalpolitischen Verantwortungsträger, am Zug. DIE FURCHE: Nun soll von jenen Energiekonzernen, die zu wenig von den gesunkenen Preisen an ihre Endkunden weitergeben, ein Teil ihres Gewinnes abgeschöpft werden. Die Lebensmittelindustrie will man dazu bringen, ihre „Transparenzanstrengungen“ zu intensivieren. Ansonsten scheinen sie von antiinflationären Maßnahmen verschont zu bleiben. Reicht das? Holtfrerich: Es hängt davon ab, wie sich in nächster Zeit die Lebensmittelketten verhalten. Es kann gut sein, dass eine freiwillige Vereinbarung Wirkung zeigt. Bevor man mit Zwang agiert und Preisstopps anordnet – was der Staat ja durchaus machen könnte – halte ich unerzwungene Absprachen stets für sinnvoller. Das entspricht dem, was man „Rheinischen Kapitalismus“ (vgl. S. 7; Anmerk.) nennt: Eine Hand wäscht die andere und man einigt sich einvernehmlich, ohne dass der Staat die große Keule schwingt. DIE FURCHE: Nicht wenige fordern genau diese große restriktive Keule. Was fürchten Sie bei deren Einsatz?

DIE FURCHE · 20 17. Mai 2023 Wirtschaft 7 „Es hat einen Paradigmenwechsel gegeben und dieser ist weiter in Gange. Die Maxime: Der Staat soll mehr Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung übernehmen. “ Holtfrerich: Großen Unmut unter den Produzenten. Die Erfahrungen aus der Wirtschaftsgeschichte zeigen: Wenn Preise gedeckelt werden – ich denke hier an die Zeit 1945 bis 1948 – dann werden Mangellagen und Knappheiten geschaffen. Die Anbieter haben keinen Anreiz, ihre Ware, von der sie wissen, dass sie eigentlich einen höheren Marktpreis hat, auf den Markt zu bringen. Ein plastisches Beispiel aus der Vergangenheit: Mitte/Ende der 1940er-Jahre waren frisch Vermählte oft nicht in der Lage, ihre Wohnung auszustatten; Möbel und dergleichen waren zu den gedeckelten Preisen nicht erhältlich. Man denke auch an den Begriff „Bückware“ aus DDR-Zeiten. Das waren die Waren, die die Händler unter dem Ladentisch versteckt lagerten. Diese begehrten Güter gaben sie nur an Verwandte und Freunde oder gegen Westgeld ab. Die Idee der Preisdeckelung hat also bisweilen eine sozialistisch bzw. kommunistisch anmutende Note. Die Forderung, die Mehrwertsteuer zu senken hat das nicht, weil sie marktkonform ist. Daher präferiere ich das. DIE FURCHE: Die Senkung der Mehrwertsteuer muss erst einmal an die Konsumenten weitergegeben werden. Die Supermarktketten könnten die Preise beibehalten und noch mehr Profit machen. Holtfrerich: Das ist kein Szenario, mit dem man rechnen muss. Ein solches Verhalten wäre allein aus Konkurrenzgründen unklug und ist daher unwahrscheinlich. Einer tanzt bestimmt aus der Reihe und dann müssen die anderen nachziehen. DIE FURCHE: Sie haben argumentiert, dass Preisdeckelungen zu Knappheiten führen, was wiederum wirtschaftspolitisch unerwünscht sei. Man könnte aber kontern, dass unsere Zeit, zumindest hier im Westen, von Überfluss geprägt ist, sich eine Art Wegwerfgesellschaft etabliert hat. Was erwidern Sie, wenn man behauptet, eine Periode der Mangellage wäre schon mal auszuhalten? Holtfrerich: Ich halte jede Einschränkung der Konsumentenfreiheit für einen Verlust. Die Konsumenten sollten ein breites Angebot haben, aus dem sie auswählen können. Knappheiten in Folge von Preisdeckelungen sind ein Aufoktroyieren durch den Staat auf die Bevölkerung mit dem Appell, doch endlich mal Maß zu halten. Und so eine Vorschrift halte ich für diktatorisch, sie widerspricht meinem Demokratieverständnis. DIE FURCHE: Nehmen Sie die Konsumentinnen und Konsumenten ganz aus der Verantwortung? Holtfrerich: Etwa in Deutschland sind die Konsumenten vorsichtiger geworden sind. Ein Großteil nimmt nicht mehr sorglos die benötigte Ware aus dem Regal, sondern vergleicht die Preise stärker als früher. Auch wird verstärkt auf Wochenmärkte oder Bauernmärkte ausgewichen. DIE FURCHE: Ist das einer der Gründe, warum die Inflation in Deutschland gesunken ist? Holtfrerich: Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber der Hauptgrund für die Senkung sind eben nicht die Nahrungsmittelpreise, sondern die stark zurückgegangenen Energiepreise – die ja auch in Österreich gesunken sind. DIE FURCHE: Angesichts der Tatsache, dass Österreich ein gefragtes Reiseland ist, mutmaßen Experten es seien auch Touristinnen und Touristen, die die Preise hochhalten. Diese scheinen bereit zu sein, Wucherpreise zu zahlen. Holtfrerich: Ein Faktor, der nicht zu unterschätzen ist. Vor allem wenn man bedenkt, dass die starken Preiserhöhungen für Dienstleistungen als Inflationstreiber wirken: also Hotelübernachtungen, Restaurantbesuche, Eintritte zu diversen Sehenswürdigkeiten. Carl-Ludwig Holtfrerich, Wirtschaftshistoriker und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin verfasste zahlreiche Bücher zur Geschichte der Inflation. DIE FURCHE: Gilt es dann nicht nur Energiekonzerne und Lebensmittelketten, sondern auch die Hoteliers oder Gaststättenbetriebe in den staatlichen Fokus zu nehmen? Holtfrerich: Ja, und alle anderen Dienstleister. Etwa Handwerker. Angesichts des Arbeitskräftemangels dürfte sich das allerdings in der Praxis als schwierig erweisen. DIE FURCHE: Spätestens seit der Finanzkrise ist der laute Ruf nach dem Staat in ganz Europa vernehmbar. Auch seitens vieler Ökonomen oder konservativer Stimmen. Noch vor wenigen Jahren galt das als Tabu in bestimmten Kreisen. Hat hier ein Paradigmenwechsel stattgefunden? Holtfrerich: Ja, und dieser Paradigmenwechsel ist weiter in Gange. Der Staat soll mehr Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung übernehmen – so lautet die Maxime. Auch, indem er mit den Unternehmen zusammenarbeitet. Also nicht an den Unternehmen vorbei und schon gar nicht durch Vergesellschaftung oder Enteignung, wie das etwa in Berlin mit dem Wohnungsmarkt geplant ist. Erwünscht ist, dass Staat und Unternehmen Hand in Hand Großprojekte oder neue Entwicklungen in Forschung und Technik anstoßen. DIE FURCHE: Wer oder was hat diesen Paradigmenwechsel geprägt? Holtfrerich: Allen voran die Wirtschaftswissenschafterin Mariana Mazzucato, eine Italienerin, die an der London School of Economics lehrt. Sie plädiert dafür, dass der Staat eine stärkere Rolle in der Wirtschaft übernimmt, sie hat die Studie „Der Staat als Unternehmer“ geleitet. Man hört auf sie. Der deutsche Wirtschaftsministers Robert Habeck hat sie als Beraterin engagiert. DIE FURCHE: Heimische Wirtschaftsforscher wie Gabriel Felbermayr (vgl. Seite 5) warnen längst davor, die Inflation könne sich dauerhaft festigen. Was ist damit gemeint? Holtfrerich: Ein Szenario, das sich dann im gesamten Euroraum abspielen würde. Es könnte sich eine Lohn-Preis-Spirale entwickeln, Foto: Privat Lesen Sie hierzu auch den Text“ Inflation: Verflüchtigte Werte“ von Jan Opielka (7.9.2022) im Navigator auf furche.at. SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT was ja die Gefahr ist, wenn eine Teuerung eintritt. Deshalb ist es so wichtig, dass die EZB dafür sorgt, dass die Inflationserwartungen niedrig bleiben. Die gegenwärtige Inflation ist eine Angebotsinflation. Das ausgefallene Angebot kann die Geldpolitik durch Zinserhöhungen nicht wiederherstellen. Fast alle anderen großen Inflationen in der Vergangenheit waren Nachfrageinflationen, die meistens durch übermäßige Defizite seitens des Staates, Kriege, die über Schulden finanziert wurden, verursacht wurden. Jetzt allerdings haben wir es mit einem verringerten Angebot zu tun – durch die Pandemie und die unterbrochenen Lieferketten, den Krieg und den Boykott der Energielieferungen. Man kann durch höhere Zinsen diese Angebotsverknappung also nicht stoppen, sondern nur die Nachfrage – wo gar nicht das Problem liegt – dämpfen. Die weltweiten Zinserhöhungen sind also nicht mehr als ein Appell an die Bürger: „Haltet euch ein bisschen zurück, bis wieder Normalität eintritt.“ Sie sollen die Inflationserwartungen dämpfen. Die Realzinsen, die sich ergeben, wenn man von der Zinshöhe die Inflationsrate abzieht, sind im Euroraum trotz der Leitzinserhöhungen der EZB ja immer noch negativ. Das ist zwar kein direkter Beitrag zur Bekämpfung der Teuerung, aber ein indirekter, weil Zinserhöhungen die Inflationserwartungen und die Gefahr einer Lohn-Preisspirale mindern. Was bedeutet „Rheinischer Kapitalismus“? Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg lief die Wirtschaft in Deutschland wieder auf Hochtouren. Geprägt wurde diese Zeit durch ein wirtschaftliches Konzept, das man heute als „Soziale Marktwirtschaft“ kennt: Weil die Regierung ihren Sitz in Bonn am Rhein hatte, heißt diese Form des Kapitalismus‘ auch „Rheinischer Kapitalismus“. Eine der Maximen: Der Reichtum, der durch den Aufschwung erzeugt wird, soll der gesamten Bevölkerung zugute kommen. Durch angemessene Steuern leisten die Reichen ihren Anteil am Wohlstand des Landes, steigende Löhne lassen den Lebensstandard der Bevölkerung weiter steigen. Gleichzeitig schützt ein Netz von Sozialleistungen Alte, Kranke und Arbeitslose vor finanzieller Not. Diese Form des Kapitalismus wird als „sozial gebändigter“ Kapitalismus bezeichnet, der durch den ordnungspolitischen Rahmen des Staates reguliert wird. (bqu) „Eine Geldanlage bei Oikocredit schafft Jobs, vor allem für Frauen. Oikocredit fördert auch erneuerbare Energie. Das Geld tut Gutes. Das finden wir fair!” Harald Krassnitzer & Adele Neuhauser unterstützen Oikocredit Geld, das dem Leben dient www.oikocredit.at 01 / 505 48 55 Hinweis: Werbeanzeige von Oikocredit, EDCS U.A., Verkaufsprospekt samt allfälligen Nachträgen abrufbar unter www.oikocredit.at

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