DIE FURCHE · 20 14 Musik 17. Mai 2023 Er spielte unter Friedrich Cerha, kannte György Ligeti, spielte jahrzehntelang im ORF Radio- Symphonieorchester Wien: Ein Gespräch mit dem Komponisten und Dirigenten Heinz Karl Gruber über Neue Musik, Gesprächskonzerte, Komponisten als eigene Kontinente und fiktive Folklore. „Präzision ist Von Manuela Tomic Žandar MOZAIK Als ich klein war, spielte ich mit meiner Großmutter „Žandar“, ein beliebtes Kartenspiel auf dem Balkan. Ziel des Räuberspiels ist es, möglichst viele Karten durch das Addieren ihrer Zahlen zu sammeln. Die Karo-Zehn und die Pik-Zwei zählen am Ende je einen Punkt. Doch letztlich dreht sich alles um den Buben: den Žandar. Hat man ihn in der Hand, darf man alle Tischkarten auf einmal abräumen. Oft wartete ich mit meinem Buben in der Hand, um Großmutter noch mehr Karten zu entlocken. Kurz bevor ich ihn endlich ausspielen konnte, räumte sie jedoch alles ab. Dabei rollte Großmutter ihren Zahnstocher lässig auf die andere Seite ihres Mundwinkels und ließ ihren Buben auf die Mitte des Tisches fallen. „Du hast zu lange gewartet“, schmunzelte sie spitzbübisch, während sie die Karten mit einer Handbewegung in ihren Schoß wischte. Nach jedem Sieg ging sie eine Zigarette rauchen, richtete ihre Lockenwickler und forderte mich zu einer neuen Runde auf. Wenn ich heute unsicher bin, denke ich an Großmutters maskenhafte Spieler-Miene. Ich stelle mir vor, ich hätte einen Žandar in der Hand. Ich weiß, wann ich meinen Trumpf ausspielen muss. Damit dürfe man nie zu lange warten, meinte Großmutter, die im Jugoslawienkrieg mit uns nach Kärnten geflüchtet war. Wenn man zu langsam sei, verliere man alles, sagte sie und lächelte. In ihrem Mund war der Zahnstocher, aber keine Zähne mehr. Das Gespräch führte Walter Dobner Vor 100 Jahren, am 28. Mai 1923, wurde György Ligeti geboren, der als einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts gilt. Der Musiker, Dirigent und Komponist Heinz Karl Gruber erinnert im Gespräch an ihn, wie auch an den heuer verstorbenen Komponisten Friedrich Cerha. DIE FURCHE: Im Februar ist Friedrich Cerha verstorben. Sie haben lange Jahre unter ihm als Dirigenten gespielt. Heinz Karl Gruber: 1958 erfolgte die Gründung des Ensembles „die reihe“ durch Friedrich und Gertraud Cerha sowie Kurt Schwertsik. Ich bin schon als 15-Jähriger in „reihe“-Konzerte gegangen, weil man wusste, dass im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses die verrücktesten Musiker von Wien die verrückteste Musik spielen. 1960 hatte ich das Glück, dass der „reihe“-Kontrabassist krank wurde und man mich fragte, ob ich einspringen könnte. Seitdem hat man mich nicht mehr losgelassen. Ich habe noch bis in die 1980er Jahre mitgespielt und 1984 „die reihe“ zusammen mit Schwertsik übernommen. Mit dem damaligen Konzerthaus-Generalsekretär Alexander Pereira schufen wir den Zyklus „Die neue reihe“. Ab FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. „ Das Publikum ist Möchten Sie mozaik abonnieren und das neueste Stück digital lesen? furche.at/newsletter Voraussetzung für Transparenz“ neugierig, was wir brauchen, sind Präsentatoren, ‚Prawys für Neue Musik‘. “ dann spielte „die reihe“ nur mehr zwei Konzerte pro Saison, für die übrigen vier luden wir Gastensembles ein. Ein denkwürdiges Konzert war 1984, ein Abend mit Werken von Hanns Eisler, den ich mit seinem Sohn Georg Eisler moderierte. Das Porträt, das in meiner Wohnung hängt, entstand unmittelbar danach, es war sein erstes Tuschporträt. DIE FURCHE: Was zeichnete Cerha aus? Gruber: Cerha war ein Tüftler. Man kam bei den Proben nur sehr langsam vom Fleck, es ging ihm ständig um Details. Er hat analytisch probiert, das habe ich von ihm gelernt und erkannt, wie wichtig das ist. Nur wenn alle Zahnräder ineinandergreifen, kommt ein gewisser Sexappeal heraus. Präzision ist Voraussetzung für Transparenz. Heinz Karl Gruber (* 1943) DIE FURCHE: Mittlerweile besteht „die reihe“ nicht mehr. Dafür gibt es mehrere Ensembles, die Neue Musik auf höchstem Niveau musizieren. Wie steht es heute in Österreich um Neue Musik? Gruber: Bei uns wird immer alles schlecht geredet. Aber wir haben „Wien modern“, das war letztes Jahr besser besucht als in den Jahren vor der Pandemie. Das Publikum ist neugierig, was wir brauchen, sind Präsentatoren für Neue Musik, „Prawys für Neue Musik“. Es gibt grundsätzliche Vorbehalte, weil es an Information fehlt. Ein Teil des Publikums geht gerne ins Konzert, weil es etwas gut kennt. Da beurteilt und vergleicht man die Aufführung. Andere stellen sich die Frage, was gibt es darüber hinaus, darauf müssen Veranstalter reagieren. Es werden zu wenig Gesprächskonzerte angeboten, aber nicht in dem Sinn, dass man über Stücke spricht, sondern sie zuerst im Detail vorstellt und dann zusammengesetzt aufführt. Damit bereitet man dem Publikum das Vergnügen des Wiedererkennens. Musik ist ein Rätsel, der Hörer bekommt ein Signal und will dieses verfolgen. DIE FURCHE: Einer der wichtigen Wegbereiter für Neue Musik war György Ligeti. Er wäre am 8. Mai hundert Jahre alt geworden. Welche Erinnerungen haben Sie an ihn? Hat er Sie mit seinem musikalischen Denken als Komponist beeinflusst? Gruber: Ich kannte Ligeti gut, er dachte immer musikalisch, nie ideologisch. Seine Musik kommt aus seiner Musikalität. In seinen späteren Werken entwickelte er eine eigene Art von Musikalität, man kann es als „atonale Tonalität“ bezeichnen. Sein Hauptgott war Igor Strawinsky, das ist auch meiner. Geistig gab es insoweit eine Beeinflussung, weil wir beide nie in Doktrinen gedacht haben und verhaftet sind. Foto: APA / Herbert Pfarrhofer DIE FURCHE: Mit György Ligeti, Friedrich Cerha und Krzysztof Penderecki verbindet man den Begriff der Klangflächenkomposition, aber sie haben doch unterschiedliche Herangehensweisen? Der Weg zur Inspiration In der heutigen Bonusfolge spricht Chancen-Redakteurin Manuela Tomic mit zwei Profis, die es wissen müssen, nämlich mit Elisabeth Gräf und Roman Kellner. Die beiden sind ausgebildete Coaches, betreiben die Agentur „Wort und Weise“ und bieten Seminare zum Thema Kommunikation und Kreativität an. Ein Gespräch über das kreative Ich, die Inspiration im Alltag und die notwendige Offenheit, andere Wege zu gehen. DER CHANCEN PODCAST furche.at/chancen
DIE FURCHE · 20 17. Mai 2023 Musik 15 Gruber: Diese Bezeichnung ist ein gemeinsamer Nenner für Stücke, die verschieden organisiert sind, bei oberflächlichem Hören aber denselben Eindruck machen. Ligeti kalkuliert alles ganz genau, es ist alles ausgeschrieben, für den Hörer ergibt sich eine Klangfläche. Penderecki macht es aleatorisch, der Dirigent gibt bestimmte Signale, innerhalb derer die Musiker mit einem begrenzten Tonmaterial permutieren. Cerha denkt räumlich, er bindet den kalkulierten Zufall mit ein. Im Ergebnis sind die Klangflächenkompositionen von Ligeti und Cerha etwas ähnlich. Grundsätzlich muss man dazu sagen, dass sich in Zentraleuropa das Komponieren auf das motivisch-thematische Arbeiten konzentriert, das geht von Bach bis zur 2. Wiener Schule. Später kommen Komponisten, die räumlich denken. Die sogenannte Klangflächen-Denkart findet sich schon bei Schönberg-Zeitgenossen wie Franz Schreker, aber auch Sibelius, und zwar völlig unabhängig nebeneinander. DIE FURCHE: Wie wichtig waren Cerha und Ligeti für die Entwicklung der Neuen Musik? Gruber: Neue Musik war immer stark von Ideen geprägt. Die musikalische Weltszene ist reich und vielfältig. Helmut Lachenmann etwa hat einiges miterfunden, was Ligeti und Cerha mitbedient haben. Aber die einzelnen Komponisten sind eigene Kontinente, sie beeinflussen einander gar nicht so sehr, wie man glauben möchte. Jeder entwickelt sich zu dem, was er schließlich ist, erfindet seine eigene Musikwelt, findet zu seiner eigenen Handschrift. Schulen gab es immer nur kurzfristig, viele sind dann rasch ausgebrochen, weil ihnen langweilig wurde und haben sich zu unverwechselbaren Komponisten entwickelt. DIE FURCHE: Woran arbeiten Sie selbst gerade? Gruber: Vor drei Jahren dirigierte ich in Helsinki ein Konzert mit dem Avanti Orchester. Dieser Klangkörper spielt ausschließlich Avantgarde. Gegründet wurde er von prominenten Komponisten und Dirigenten wie Magnus Lindberg, Kaija Saariaho, Sakari Oramo, Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste und dem Klarinettisten Kari Kriikku. Sie luden mich ein, ihr Sommerfestival in Porvoo zu kuratieren. Kriikuu wollte von mir ein Klarinettenkonzert. Es gibt den Begriff „Finnischer Tango“. Der Tango kam 1900 von Argentinien nach Finnland und wurde bald als Möglichkeit für einen nonverbalen Widerstand gesehen; die Finnen waren mit der russischen Herrschaft alles andere als glücklich. So beschloss ich, fünf finnische Tangos zu komponieren, und zwar so, wie es Ligeti am Ende seines Lebens machte: Er erfand fiktive ungarische Musik, ich erfinde eben fiktive finnische Folklore. Das kommt auch im Titel zum Ausdruck: FINTango. Kriikku ist ein Spezialist in Multiphonics, das heißt, durch bestimmte Griff- und Blastechniken kann man mehr Foto: imago / piemags „ Jeder entwickelt sich zu dem, was er schließlich ist, erfindet seine eigene Musikwelt, findet zu seiner eigenen Handschrift. Schulen gab es immer nur kurzfristig ... “ als einen Ton gleichzeitig auf einem Instrument erzeugen. Das findet sich in meiner Musik eingebettet, die Tangos klingen tonal, Multiphonics verfremden den Klang. DIE FURCHE: Sie waren jahrzehntelang Kontrabassist im ORF Radio-Symphonieorchester Wien (RSO Wien), was sagen Sie zur zumindest angedrohten Auflösung? Gruber: Schon 2003, 2007 und 2009 gab es Auflösungsversuche wegen Sparmaßnahmen. Jetzt ist es dramatischer. Jedes Orchester ist ein Organismus, das RSO Wien ist schon deshalb nicht mit anderen Klangkörpern ohne weiteres zu vergleichen, da die meisten nicht diese breite Repertoirepalette von der Klassik bis zu quasi „Tinte noch nass“ haben, also zur neuesten Musik. Das Orchester investiert seit Jahrzehnten mehr als 2/3 seiner Tätigkeit in aktuelle, vergessene oder wiederentdeckte Musik. Daraus ist eine Flexibilität erwachsen, die es ermöglicht, alle Stile perfekt zu bedienen. Es gab eine Bestandsgarantie bis 2013, FEDERSPIEL Urknall und Einfall Ich bin eigentlich selbstlos. Meine Ideen gehören anderen. Ich pflanze sie in die Köpfe. Zuletzt in einem Saal. Die Aufgabe lautet: Schaffe aus einem Stein einen Menschen. Wie erreicht man mittels Sprache Plausibilität? Durch ein starkes Gefühl, das jemand dem Stein gegenüber entlädt. Sich in ihn verliebt. Ich sitze im Glashaus und wirke an meiner literarischen Obsoleszenz zwischen den Existenztoren von Geburt und Tod. Diese Wahrheit ist radikal, während ich den Geschichten beim Wachsen zuschaue wie den Paradeisern im Glashaus. Im ersten Stock des Gemeindehauses der Literatur trete ich ans Fenster und schaue auf den Marktplatz, von wo der Turm in den Himmel zwiebelt. Die Uhr steht still. Die Häuser auch. Wozu muss man schreiben? Wieso kriegen die Menschen Kinder? Ein Café, ein Restaurant, und Löwenzahn liegt in den Kisten neben dem Spargel. Mir reicht ein geheiztes Heim, so dass ich beim Schreiben keine kalte Nase kriege. Mich beschäftigen mehr die kalte Nase und die zu erhaltende Foto: APA/Herbert Neubauer György Ligeti (geb. am 28. Mai 1923 in Diciosânmartin, Rumänien; gest. am 12. Juni 2006 in Wien; im Bild links, Aufnahme von 1984) und Friedrich Cerha (1926- 2023; Aufnahme von 2012) schrieben Musikgeschichte. jetzt ist das Orchester schutzlos ausgeliefert. Animositäten zwischen Hörfunk und Fernsehen bestanden immer, der kulturelle Schwerpunkt ist der Hörfunk. Das Orchester ist ein Medienorchester, dafür wurde es kaum eingesetzt, etwa für gestaltete Musikfilme. Eine Auflösung des RSO Wien – es ist das einzige österreichische Rundfunkorchester – käme der Abschaffung der Neuen Musik in Österreich gleich. Die Existenz des RSO Wien muss durch Verankerung im ORF-Gesetz gesichert sein, wie es der Kultursenat, dem ich angehöre, zahlreiche Medien und Politiker ausdrücklich gefordert haben. Physis, als das aus dem Nichts Geschaffene, was nur die Sprache inkarnieren kann. Und dann? Hat man eine Geschichte geschrieben und sie mit Sinn für Realismus und Affinität zum Schrägen seiner Einfälle abgerungen. Wirklichkeit, die andere anstupst. Alles ist ausgesprochen. Die Reklameschrift läuft dem Auge entgegen: Willkommen daheim. Wo Ihr Wohntraum Wirklichkeit wird. Die Häuser ringsum sind sauber beinander, der Mode entsprechend, um nicht der Obsoleszenz anheim zu fallen. Aus dem Nichts entstehen die Mischwesen meiner Ideen, die ich in Sternbildern sehe, die mir in den Schoß fallen und den Anfang zu einer Geschichte geben, die in Vergessenheit geraten wird. Nur vom Tode aus gedacht, ist sie für mich schön. Das habe ich von Sibylle Lewitscharoff gelernt. „Pong“ schlug ein. Die Autorin ist Schriftstellerin. Von Lydia Mischkulnig KREUZ UND QUER DIE FORSCHER GOTTES DI 23. MAI 22:35 Naturwissenschaft und Kirche: Vielen erscheint dieses Verhältnis als unüberbrückbarer Gegensatz. Doch jahrhundertelang standen Priester und Ordensleute an der Spitze naturwissenschaftlicher Forschung – mit bahnbrechenden Erkenntnissen zur Genetik oder zur Urknall-Theorie. Heute sind Geistliche, die beide Welten verbinden, eher die Ausnahme. Warum ist das so? Und was treibt die Frauen und Männer an, die den scheinbaren Spagat von Glaube und Naturwissenschaft dennoch wagen? religion.ORF.at Furche23_KW20.indd 1 09.05.23 14:57
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