DIE FURCHE · 20 10 Diskurs 17. Mai 2023 ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich fühle mich beobachtet und bewertet Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Es freut mich, dass Sie meine Briefe innehalten lassen. Ich finde es wichtig, sich selbst und die Welt zu reflektieren. Das war mir als Kind schon wichtig. Immer wenn ich bei meiner ältesten Freundin übernachten durfte, haben wir bis in die frühen Morgenstunden über unsere Zukunft gesprochen. Die Erinnerung daran bringt mich zum Schmunzeln. Meist ging es darum, welche Länder wir mal sehen wollen und wie wir uns unseren Traummann vorstellen. Tja, den Einfluss der Romcom Filme der 00er Jahre kann ich nicht bestreiten. Aber wir haben auch viel über unsere Freundschaft gesprochen und wie wir uns gegenseitig „ Mittlerweile denke ich darüber nach, welche Kleidung möglichst wenig Angriffsfläche bietet. Warum muss ich das tun, damit ich nicht belästigt werde? “ wahrnehmen. Mit jedem Lebensjahr wird mir bewusster: Ohne diese Gespräche und diese Freundschaft wäre ich heute eine andere Person. Vermutlich einsamer. Dass mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, liegt auch daran, dass ich plötzlich das Bedürfnis hatte, meine alten Erinnerungsstücke auszusortieren. Ordnung zu schaffen. Kennen Sie das Gefühl? Bevor ich es vergesse, noch eine kurze Anmerkung zu Schnitzler. Auch wenn er ein Jahrhundertwende-Macho war, rechtfertigt es für mich nicht die Entscheidung, ihm im Jahr 2023 eine Bühne zu bieten. Das liegt meiner Meinung nach einzig und allein an der einfallslosen Entscheidung der Programmgestalter und ich gendere bewusst nicht, es waren, wenig überraschend, alte weiße Männer dafür verantwortlich. Nun gut, lassen Sie uns gemeinsam in eine neue Richtung spazieren. Zum Beispiel zum Boxen. Von da komme ich nämlich gerade. Seit dem Ende der Pandemie fühle ich mich im öffentlichen Raum häufiger unwohl. Es sind die Blicke, die meine Kleidung scannen – und Kommentare über mein Aussehen. Ich glaube nicht, dass diese „Begegnungen“ häufiger stattfinden als prä Corona, aber ich glaube, ich habe diese Alltagsbelästigungen schlicht vergessen. Zumindest in dieser Hinsicht war die Pandemie für mich erholsam. Mittlerweile hat sich mein Unwohlsein zugespitzt. Ich denke darüber nach, welche Kleidung wenig Angriffsfläche bietet, schminke mich nur noch selten und verstecke meine Haare in einem Dutt. Und ich hasse es. Warum muss ich das tun, damit ich nicht belästigt werde? Mitschuldig an Übergriff? Damit ich kommentarlos mit Freund(inn)en einen Aperol am Markt trinken kann. Ja, man kann sagen, was ist schon dabei, ist doch nett, ein Kompliment. Aber ich fühle mich beobachtet und bewertet. Mein Bedürfnis, mich für mich selbst herauszuputzen, wird mir abgesprochen. Wenn du einen kurzen Rock trägst, musst du mit solchen Reaktionen halt rechnen, höre ich eine Stimme sagen. Übrigens werden Opfer von Vergewaltigungen noch immer häufig danach gefragt, was sie zum Zeitpunkt des Übergriffes trugen. Was natürlich suggeriert, dass sie selbst zumindest zum Teil mitschuldig seien. Aber ich hole zu weit aus. Das ist mir auch gestern beim Boxen passiert, ich geriet ins Schwanken. Meine Partnerin beruhigte mich: „Johanna, du musst dich nicht hetzen.“ Ruhig und wachsam sein, sich selbst und die andere Person einschätzen und lesen lernen. Das habe ich aus meiner ersten Box-Einheit mitgenommen. Verraten Sie mir, was haben Sie zuletzt zum ersten Mal ausprobiert? Herzlichst, Von Heinz Nußbaumer Mit dem Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 In FURCHE Nr. 11 baute Recep Tayyip Erdoğan seine Macht aus. 3800 16. März 2017 Die Sorgen im Vorfeld waren groß – und berechtigt. 49,5 Prozent der Stimmen erhielt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan vergangenen Sonntag bei den Präsidentenwahlen. Mehr, als die Umfragen vorausgesagt hatten – aber doch weniger als 50 Prozent, was am 28. Mai eine Stichwahl gegen Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu notwendig macht. Erdoğans mächtiges Präsidialsystem wurde 2017 in einem umstrittenen Verfassungsreferendum grundgelegt. Der langjährige FURCHE-Herausgeber Heinz Nußbaumer hatte davor in seiner Kolumne gewarnt. Wo endet Europa? Im Westen am Atlantik. Im Süden am Mittelmeer. Im Norden am Eismeer. Und im Osten? Da bleibt alles im Ungefähren: Einst galt der Fluss Rion (im Kaukasus) als Grenze zu Asien; dann der Don (Südwest-Russland), seither das Ural- Gebirge. Recht willkürlich, denn von Irland bis Malaysia schwimmen wir alle auf derselben tektonischen Platte. Also empfahl ein Literat jüngst, die Grenzen mit der Seele zu erahnen: „Europa endet dort, wo die historischen Voraussetzungen für ein europäisches Wir-Gefühl enden.“ Würde das gelten, dann gehörten Jerusalem, Byzanz (Istanbul) und Moskau ebenso zu Europa wie Athen und Rom. Erdoğans Türkei – ein Abschied Also bleibt gültig, was uns schon Herodot vor 2500 Jahren im Blick auf unseren Kontinent hinterlassen hat: „Ich kann die Urheber der Abgrenzungen nicht in Erfahrung bringen.“ Tatsächlich: Am Beispiel Türkei erleben wir soeben, wie kurzatmig jede Suche nach den „Außenwänden“ des „europäischen Hauses“ ist. Denn der Machtrausch Erdoğans beutelt ganz Europa – egal, ob die Türkei nun „drinnen“ oder „draußen“ liegt. Das hat mit Millionen türkischstämmiger Arbeitsmigranten samt Nachkommen zu tun, die irgendwann nach Westeuropa gekommen sind. Auch mit Millionen Nahost-Flüchtlingen, denen die Türkei – im Pakt mit der EU – den Durchmarsch in Europas Wohlstandszonen verweigert (und uns dafür unsere Erpressbarkeit spüren lässt). Und mit der Verlogenheit der Union, den Türken eine Beitrittsperspektive vorzugaukeln, obwohl letztlich niemand bereit war, den Preis dafür zu zahlen: eine brisante EU-Außengrenze ganz nahe an den großen Konfliktzonen unserer Zeit; die totale Überforderung der Union bei einem Bevölkerungszuwachs von knapp 80 Millionen; und ein drohender Zusammenprall von Kulturen und Werten. Die Türken haben diese Beitrittslüge längst durchschaut – Erdogans Aufstieg ist auch eine Folge enttäuschter Europa-Sehnsucht. Dabei ist offenkundig, dass ein „Partner Türkei“ langfristig für Europa unverzichtbar ist: als Transitland und Zugang zu den Energie-Reserven in Mittelost und Zentralasien. Als starker militärischer Partner. Als wachsende Wirtschaftsmacht – und als Konsummarkt. Foto: APA / AFP / Adem Altan Die Geschichte lehrt uns zudem, dass Europas Frieden nur gesichert ist, wenn es – neben innerem Zusammenhalt – auch stabile Nachbarschaften an seiner Peripherie zustande bringt. Das ist bisher nicht ansatzweise gelungen. Stattdessen spüren wir jetzt, wie schnell und bedrohlich sich verletzter Stolz, uralte Feindbilder und politische Hybris verdichten können. Und wie dünn die emotionalen Membrane sind – auf allen Seiten. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) 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DIE FURCHE · 20 17. Mai 2023 Diskurs 11 Wer Karl Nehammer bei Martin Thür und Armin Wolf in der ZIB2 erlebt hat, erkennt seine Botschaft an die Journalisten: „Wir brauchen euch nicht!“ Das tut der Demokratie nicht gut. Ein Gastkommentar. Machtpolitik scheut Medienpartnerschaft Ist die Katze aus dem Sack und die Hunde balgen sich um sie, hat der Tierhalter Ruhe vor allen. Also schlagen sich Susanne Raab und Karl Nehammer auf die Schenkel vor Vergnügen, während der Zeitungsverband den öffentlich-rechtlichen Rundfunk angreift. Das Bundeskanzleramt, von wo die ORF-Novelle stammt, bleibt seltsam unbehelligt von der Empörung der privaten Medienmacher über diesen Gesetzesentwurf. Und das Publikum als Dritter im Bunde der Ruhigzustellenden gibt sich zufrieden mit dem Abgabenrabatt, den die Ministerin verordnet hat. Das ist zumindest kurzsichtig von allen Beteiligten. Aber in diesem Fall ist unter den Blinden der Einäugige nicht König, sondern die Medienpolitik unterwandert ohne Throngewinn die Demokratie. Und weil der Fisch vom Kopf stinkt, beginnt das große Missverständnis am Ballhausplatz. Türkisgrün verpasst – wie alle Regierungen zuvor – die Chance einer Regulierung des Medienmarkts. Der Ursprung dieser Erbsünde reicht fast 40 Jahre zurück, als Anfang 1984 Sat.1 und RTL plus starteten. Deutschlands erste Privatsender kamen flugs auch zu den Nachbarn. Österreich reagierte 1988 mit der TV-Regionalisierung „Bundesland heute“, hielt aber das Rundfunkmonopol aufrecht. Denn im ORF-Kuratorium saßen Parteileute und die neue Konkurrenz wirkte unkontrollierbar. Das Beharren widersprach zwar dem Recht auf freie Meinungsäußerung, doch sogar ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1993 war kein Turbo für Österreichs Legislative. Erst 1998 wurde Privatradio möglich, bundesweit terrestrische Austro-TV-Konkurrenz ab 2003. Medienpolitik ist hier parteiübergreifend ein Schutz- und Trutzbund fürs öffentlich-rechtliche Medium und seine Einflussstruktur. Das Kuratorium heißt jetzt Stiftungsrat. Foto: Privat ten Allesanbieter – vom Teletext zur digitalen Eier legenden Wollmilchsau. Rundfunk ist noch das Fundament der trimedialen Marktführerschaft: Die Radiosender haben täglich 4,6 Millionen Hörer, die TV-Angebote 3,9 Millionen Seher, das digitale Gesamtoffert 1,2 Millionen Nutzer. Während die Dominanz von Hörfunk und TV auf das im Europa-Vergleich überlange Monopol zurückgeht, wurde der Online-Vorsprung ab Ausklingen dieser gesetzlichen Alleinstellung erreicht. Doch auch der digitale Flügel der dreifachen Spitzenposition entspringt der doppelten Finanzierung. 2003 betrug die Rundfunkgebühr weniger als die Hälfte des Umsatzes. DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Peter Plaikner „ Die Gesetze für den ORF gehen von seinen Bedürfnissen aus und nicht dem Informationsanspruch der Demokratie. “ Mittlerweile liegt das Verhältnis bei 645 Millionen Euro Programmentgelt zu 230 durch Werbung. Milchmädchenrechnung: Hätte die Medienpolitik nicht populistisch den „ORF-Rabatt“ für die Umstellung der Öffi-Finanzierung vorausgesetzt, könnten die Sender werbefrei agieren. Dazu müsste der Beitrag bloß so hoch wie bisher bleiben – monatlich sieben Euro mehr als geplant. Mit den so lukrierten 350 Millionen ließe sich neben der Werbungskompensation noch ordentliche Presseförderung betreiben. Die braucht es ohnehin, wenn wenigstens die Vielfalt eines der höchstkonzentrierten Me- Machtanspruch statt Ordnungspolitik Machtanspruch statt Ordnungspolitik verhindert sogar die richtige Fragestellung. Die Gesetze für den ORF gehen von seinen Bedürfnissen aus und nicht dem Informationsanspruch der digitalen Demokratie. Die Regierung scheut den großen Wurf der Infragestellung eines sich selbst erweiternden Senders zum schriftbasierdienmärkte erhalten bleiben soll. Denn die Geschäftsmodelle der Zeitungen und des linearen Fernsehens brechen zusammen. Google, Facebook, Tiktok & Co. kassieren schon mehr Werbegeld in Österreich als alle heimischen Medien zusammen. Das würde durch einen Spot-Verzicht im ORF nicht besser. Auch davon profitierten die digitalen Giganten aus den USA und China mehr als die Austro-Konkurrenz. Der ORF und andere etablierte heimische Anbieter – Printmedien wie Privatsender – bedienen noch vor allem traditionelle Gewohnheiten. Das Nutzungsverhalten der Smartphone-Generationen geht aber zu örtlicher und zeitlicher Mobilität, unterstützt von blasenbildenden Algorithmen. Unter diesem Aspekt ist die jüngste Initiative der Sendergruppe um Puls4 und ATV zu verstehen, die bei unter 50-Jährigen mehr Marktanteile als der ORF hat. Sie vereint auf ihrer Streaming-Plattform Joyn jegliche österreichischen Angebote – öffentlich-rechtliche wie private. Das Wasser steht allen bis zum Hals. Renaissance der Parteimedien Das ist Oberwasser für die Politik. Die Digitalisierung ermöglicht eine Renaissance der Parteimedien. Was mit rechten Plattformen wie Unzensuriert begann, endet nicht beim soeben von YouTube gesperrten FPÖ TV. Rechts und links werden Artikel von Plattformen wie eXXpress und ZackZack mehr geteilt als von renommierten Redaktionen. Dazwischen nutzen offizielle Blogs von SPÖ und ÖVP – Kontrast und Zur Sache – den Schneeballeffekt durch Hunderttausende Parteimitglieder via Social Media. Unterdessen verweigern Politiker immer öfter die kritische journalistische Hinterfragung, stellen sich aber gern den Stichwortgebern ihrer neuen Parteikanäle. Aus dieser Perspektive wird klar, warum Türkisgrün die im Regierungsprogramm angekündigte Kooperation von ORF und Privaten nicht stärker forciert. Genau eine solche Partnerschaft könnte die journalistisch basierten österreichischen Medien am ehesten gegen digitale Kolonialisierung stärken. Das wäre gut für diese Kontrollinstanz der Demokratie. Aber schlecht für die parteiliche Machtpolitik. Der Autor ist Medienberater und Politikanalyst. QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Verhaften als Lösung Irgendwie ist dieses Ehepaar mit dem Mann meiner Cousine verwandt. Dessen Mutter ist – so viel ich weiß – die Firmpatin der Frau. Das wiederum ist der Grund, warum kein Fest meiner Cousine ohne die beiden stattfindet. Meine Cousine erträgt die beiden nicht. Gelinde gesagt. Aber ihr Mann ist auf diesem Ohr taub. Er will den Familienfrieden wahren. Ich wiederum würde am liebsten die Polizei rufen. Ich wünschte, es gäbe ein Gesetz, das Schmarotzertum, mangelndes Anstandsgefühl und Dumpfbackengehabe als Straftat einstuft. Dann müsste ich nur die 110 (die Notrufnummer in Deutschland) in mein Handy eintippen und hätte das Paar für den Rest der Feier vom Hals. Was ich so schlimm an ihm finde? Sie haben Geld wie Heu – sind aber knickrig Ende nie. So bringen sie ausschließlich Geschenke mit, die sie auf dem Flohmarkt erstanden haben. Dem Mann meiner Cousine überreichten sie zu dessen 50. Geburtstag eine alte Tasse mit bayerischem Rautenmuster und ein Tischtuch, das überdimensional gemüffelt hat. In der Gaststätte, in der gefeiert wurde, bestellten sie dann als Vorspeise eine Jakobsmuschel (zwölf Euro), als Hauptgang den Seeteufel (29 Euro) und hausgemachte Dampfnudel als Dessert (neun Euro) – auf Kosten des Gastgebers versteht sich. Während sie aßen, schwadronierten sie über ihre Eigentumswohnungen, Gärten und über die „Deppen“, die sich gegen Corona hatten impfen lassen. Ach ja, zwischendurch betonten sie stimmgewaltig, dass sie selbst ob der Teuerung kaum ins Restaurant gehen, und wenn doch, sich eine Speise teilen. Weiter erfuhren wir, was sie von der Solidarität mit der Ukraine halten: Nichts. Ihr Kopfschütteln erntete auch die Kellnerin, weil diese nur gebrochen Deutsch sprach. Es ist diese Ohnmacht, die in mir die Sehnsucht nach einem Einpeitscher weckt. Jemand soll auf den Tisch hauen und diesem parasitären Paar die Wadeln nach vorne richten. Allein die Vorstellung, ein Uniformierter könnte die Unverschämten mitnehmen, festnehmen, maßregeln befriedet mich ein stückweit. Eine Utopie, schon klar. Aber das ist die Idee des Familienfriedens auch. NACHRUF Im Gespräch mit den Toten Das ist der Vorteil der Literatur: Sie kann den Himmel ausmalen, ins Jenseits blicken und die Toten sprechen lassen. Und so kann eine Situation, in der ein Mensch sich wegen Trauer und Schuld betrinkt, auch durchaus komisch werden: Weil die Toten an der Decke über dem Trauernden in Sibylle Lewitscharoffs Roman „Consummatus“ ohne Unterlass tratschen. Der Tod, das Ungeheure des Todes, ist der am 16. April 1954 in Stuttgart geborenen Autorin schon als Mädchen begegnet: Als sie elf war, setzte ihr Vater, ein aus Bulgarien stammender Arzt, seinem Leben ein Ende. Die Wut darüber merkte man ihr Jahrzehnte später noch in Gesprächen an. Die Auseinandersetzung mit den großen und den letzten Fragen blieb. Lewitscharoff studierte Religionswissenschaften und Soziologie in Berlin; sie lebte in Buenos Aires und Paris, bevor sie als Buchhalterin arbeitete. Mit „Pong“ trat sie 1998 in Klagenfurt an und erhielt prompt den Ingeborg-Bachmann-Preis (siehe Federspiel Seite 15). Die schriftstellerische Karriere gipfelte 2013 in der Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis. Warum das Jenseits, die Gespräche der Toten? Mit „hausbackenen Realisten“ hatte es die gesellige Autorin nicht so. Sie interessierte sich für das, das Menschen nicht denken können und über das sie doch denken und schreiben. Sie war fasziniert von Samuel Beckett, „ein Jenseitsbohrer von hohen Gnaden“, Franz Kafka und Virginia Woolf. Das Gelesene hinterließ seine Spuren in ihren Texten und reichte von der Bibel über Dante, Blumenberg und weiter. In Diskussionen trat sie höchst streitbar auf. Wenn sie in Rage geriet, konnte sie verbal kräftig austeilen, Provokationen fürchtete sie nicht, sondern ging sie geradlinig an. Sätze, die in der Öffentlichkeit gesprochen werden, das musste sie als Meisterin der Worte wissen, können nicht mehr zurückgenommen werden, selbst wenn man darum bittet – wie sie nach ihrer 2014 gehaltenen „Dresdner Rede“ gegen die Reproduktionsmedizin: Aggressiv wären da einige Passagen gewesen und dumm, bedauerte sie später. In ihrer Literatur hingegen wusste Lewitscharoff das Dogmatische durch Ironie und Humor zu brechen. Und sie hatte ein Gespür für Figuren wie jene „flaue Christenseele“ in „Consummatus“, „die alles schluckt und gegen alle Erfahrung hofft und hofft und hofft“. Zunehmend setzte ihr „die böse Schleichkatze“ Multiple Sklerose zu. Am 13. Mai 2023 ist Sibylle Lewitscharoff 69-jährig in Berlin gestorben. (Brigitte Schwens-Harrant) Foto: dpa/Hannibal Hanschke Geboren am 16. April 1954 in Stuttgart, starb die mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin am 13. Mai 2023 in Berlin.
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