DIE FURCHE · 4622 Wissen16. November 2023Foto: iStock/robcrusePandemie, Krieg und Teuerung führten zu vermehrtem Stress und Angst. Psychologin AlenaSlezáčková über Strategien, wie man gestärkt aus schwierigen Zeiten hervorgehen kann.Illustration:Rainer Messerklinger„Manche wachsenüber sich hinaus“Von Manuela TomicBrotzeitMOZAIKGroßvater Ivo begrüßte seine Gästeimmer mit Weißbrot. Als Kind stibitzteich mir gerne eine Schnitte.Ich tunkte sie in Leberpastete, die „Pašteta“.Der bittere Geschmack der Leber undGroßvaters süßes Brot gravierten sichin meine Zunge. Der fluffige Fladen warweich wie Zuckerwatte. In den Sommernam Balkan verschlangen wir so viel davon,wie wir nur konnten, und mein Bauchblähte sich wie ein Ballon. Von diesem Gebäckhatten wir in Ex-Jugoslawien mehr alsgenug, denn am Balkan isst man zu jederSpeise Brot. Längst habe ich mir das abgewöhnt.Doch als ich vor kurzem an einerbosnischen Bäckerei in Brigittenau vorbeiging,lief mir das Wasser im Mund zusammen.Großvaters Laibe lagen wie Skulpturenin allen Ausformungen in der Vitrine.Ich kaufte eine „Ruža“, eine Brotrose, diesich aus vielen kleinen gerollten Schneckchenzusammensetzt. Zu Hause brach ichein Stück ab und ließ es in meinem Mundzergehen. Großvaters Zuckerwatte, der Geschmackmeiner Kindheit, kehrte zurück,die Blähungen leider auch.FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist inSarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen.In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur,Identitäten und die Frage, was uns verbindet.Das Gespräch führte Martin TaussEs waren allzu menschliche Reaktionen,die Alena Slezáčkováoft zu hören bekam: „Ich möchtees einfach vergessen und lebenwie zuvor“; „Es ist schrecklich,aber ich versuche es zu verdrängen.Ändern kann ich es sowieso nicht“; „Es gibtso viele Bedrohungen; ich fürchte, es gibtkeine Zukunft mehr“. – In ihrer großangelegtenStudie untersuchte die tschechischePsychologieprofessorin, wie sich dieCoronakrise und der russische Angriffskrieggegen die Ukraine auf die Gemütslageihrer Landsleute niedergeschlagenhaben. Die tragischen Ereignisse in Israelund im Gazastreifen wurden da nochgar nicht miterfasst. Die Studienergebnisse,die Sle záčko vá jüngst beim Kongressfür Positive Psychologie (PP) in Wien präsentierte,waren jedoch alles andere als deprimierend.Die FURCHE bat die Pionierindieses Forschungsfelds anlässlich dersechsten PP-Tour zum Thema „Tomorrowmind“(10.–12. November) zum Interview.DIE FURCHE: Wie wurde eigentlich Ihr Interessefür die Positive Psychologie geweckt?Gab es da wegweisende Erfahrungen, eineArt Initialzündung?Alena Slezáčková: Als ich mein Psychologiestudiumim Jahr 1997 abschloss, hatteich das Gefühl, dass etwas Wichtiges fehlte.An der Uni lernte man viel über psychischeDefizite und Krankheiten, über Diagnostikund Behandlung – aber nichts über die Dimensiondes psychischen Wohlbefindens.Es gab keine Parameter, mit denen man positiveEmotionen wie Freude, Glück oderLiebe in Studien überhaupt erfassen hättekönnen. Mit meinem Mann habe ich damalseine Reise nach Indien gemacht. Wirnahmen an Meditationskursen teil, umAchtsamkeit und eine wohlwollend-empathischeHaltung zu kultivieren, und wirarbeiteten in einer wohltätigen Organisation,um obdachlose Menschen zu versorgen.Wir lernten unglaublich viel über dasLeben. Als ich zurückkam, stellte sich einegroße Frage: Wie kann ich diese inspirierendenErfahrungen in meine beruflicheTätigkeit übersetzen? Zu dieser Zeiterschienen die ersten Studien aus den USA,die sich mit den positiven Qualitäten desmenschlichen Geistes befassten. Da hates einfach klick gemacht, und ich wusste:Das ist das Feld, in dem ich künftig arbeitenwill.DIE FURCHE: Sie haben dann Ihre Doktorarbeitüber „posttraumatisches Wachstum“geschrieben – ein Thema, das nun auchbei Ihrem Vortrag in Wien zentral war. Waskann man sich darunter vorstellen?Slezáčková: Wir verstehen darunter positiveVeränderungen, die gerade aus demKampf mit hochgradig belastenden Lebenssituationenresultieren. Das Konzeptverbindet Trauma und Hoffnung; seine„ Zum Paradox des posttraumatischen Wachstumsgehört, dass man dafür aktiv sein sollte. Zugleichist es wichtig, Geduld und Akzeptanz zu zeigen.“Ursprünge finden sich beim österreichischenTherapeuten und KZ-ÜberlebendenViktor E. Frankl, der für sein bedingungsloses„Ja zum Leben“ berühmt gewordenist. Die Art, wie der Mensch sein Schicksalmit all seinem Leiden akzeptiert, gibtihm die Gelegenheit, einen tieferen Sinnin seinem Leben zu finden, heißt es beiFrankl. Zum Paradox des posttraumatischenWachstums gehört, dass man aktivund lernbereit sein sollte. Zugleich istes ebenso wichtig, Geduld und Akzeptanzgegenüber dem zu zeigen, was man leidernicht ändern kann.DIE FURCHE: Sie haben große Studiendurchgeführt, um die Auswirkungen derCovid-Pandemie sowie des russischenAngriffskriegs gegen die Ukraine zu untersuchen.Wie belastend waren diese Ereignissefür die tschechische Bevölkerung?Slezáčková: Durch anonyme Online-Umfragenwurde die Situation von knapp 1700Erwachsenen in den letzten beiden Jahrenerfasst. Seit Ausbruch der Pandemiesank ihre Lebenszufriedenheit deutlich,und knapp 80 Prozent der Befragten gabenan, dass unser Land durch den Ukraine-Kriegstark in Mitleidenschaft gezogensei. Knapp die Hälfte fühlte sich sogarpersönlich bedroht – kein Wunder angesichtsunserer Geschichte mit der brutalenNiederschlagung des Prager Frühlingsdurch die Sowjets! Für 70 Prozent der Studienteilnehmer(innen)war es ein „wahrscheinliches“oder „sehr wahrscheinliches“Szenario, dass die ganze Welt jetzt in eineschlimme Krisenzeit schlittert.DIE FURCHE: Sie haben sich dafür interessiert,was den Menschen in dieser schwierigenZeit Hoffnung gibt …
DIE FURCHE · 4616. November 2023Wissen23„ Beim Kongress meldete sich im Publikumeine Ukrainerin. Sie sagte, dass es geradedas Planen der Zukunft sei, das ihrenLandsleuten helfe, optimistisch zu bleiben. “Slezáčková: Damit kommen wir zur gutenNachricht: Trotz alldem war es knapp dreiViertel der Befragten möglich, hoffnungsvollzu bleiben. Aus psychologischer Sichtist es „normal“, angesichts der aktuellenUmstände gestresst und ängstlich zu sein.Wenn man dabei aber nicht die Hoffnungverliert, bietet sich die Gelegenheit desposttraumatischen Wachstums. Das führtnicht nur zu gesteigertem Wohlbefinden,sondern wird bei manchen Menschen zu einererstaunlich profunden Erfahrung – siewachsen über sich hinaus.DIE FURCHE: Welche Ressourcen der Hoffnungkonnten Sie in Ihren Studien finden?Slezáčková: Am wichtigsten waren Aktivitäten,die als sinnvoll erlebt wurden:Menschen zum Beispiel, die sich in NGOsfür ukrainische Flüchtlinge engagiert haben,zeigten in unseren Studien die positivenAuswirkungen dieser aktiven Bewältigungsstrategien.Amzweiten Platz rangiertdie soziale UnterstützungdurchFamilie und Freunde;drittens sind es angenehmeErfahrungenin der Natur. Aberauch die Lösung einesschwierigen Problemsoder die Hilfevon anderen warengroße Ressourcen derHoffnung.DIE FURCHE: Was ist,wenn sich die Hoffnungauf eine unrealistischeZukunft bezieht?Slezáčková: Die wahrgenommeneHoffnungspeist sich aus allenZeitdimensionen:aus der Vergangenheit,wenn wir mitDankbarkeit auf schöneErlebnisse zurückblicken;aus der Gegenwart,wenn wirpositive Erfahrungenachtsam genießen undwertschätzen können; und aus der Zukunft,wenn wir uns auf etwas freuen undsinnvolle Ziele setzen. Beim Kongress inWien meldete sich im Publikum eine Dameaus der Ukraine. Sie sagte, dass es geradeder Blick in die Zukunft sei, der ihrenLandsleuten jetzt helfe, optimistisch zubleiben. Man befindet sich in einerschrecklichen Situation, aber man lässt essich nicht nehmen, für die Zeit nach demKrieg zu planen.Foto: BildnachweisAlena Slezáčková ist Professorin ander Masaryk-Universität in Brno.Sie ist auch international einePionierin der Positiven Psychologie.DIE FURCHE: Gibt es so etwas wie eine goldeneRegel, an der man sich im Alltag orientierenkann, um die positiven Seiten desLebens nicht aus dem Blick zu verlieren?Slezáčková: Um in schwierigen Lebensphasenwachsen zu können, sollte mansich die Realität nicht schönreden. Esbringt nichts, unangenehme Situationenauszublenden oder negative Gefühle zu unterdrücken.Da gibt es wesentlich bessereStrategien! Folgende Punkte sind erwiesenermaßenwichtig: die Realität mit all ihrenbelastenden Aspekten möglichst offenherzigzu akzeptieren; dankbar für dieguten Dinge zu sein; sich mit anderen zuverbinden; eine innere Haltung des persönlichenWachstums zu entwickeln; sichdurch sinnvolle Aktivitäten zu engagieren– und vor allem Hoffnung zu finden.DIE FURCHE: Kritiker sehen in der PositivenPsychologie ein typisch amerikanischesProjekt, das wie maßgeschneidert die Bedürfnisseeines hypertrophen Kapitalismuserfüllt. Das Ziel sei letztlich, menschlicheRessourcen besser für die Wirtschaftauszuschöpfen, meinen Eva Illouz und EdgarCabanas in ihrem Buch „Das Glücksdiktat“.Noch dazu: Wenn man glaubt,dass jeder zum Schmied seines eigenenGlücks werden kann, lässt sich die Verbesserungder sozialenund ökologischen Bedingungengut hintanstellen.Diese Individualisierungwirdangesichts der globalenProbleme wohl eherabträglich sein ...Slezáčková: Offen fürkritische Argumentezu sein, hilft, zu reflektierenund ein Pro-jekt weiterzuentwickeln.Zunächst wardiese Kritik sicherlichwichtig. Die Studienkamen fast nuraus den USA, und Optimismuswurde undifferenziertverherrlicht.Das war gleichsamdie „Krabbelphase“der Positiven Psychologie.Doch dannkamen weitere Wellenan Studien, die auchdie Dynamik negativerErfahrungen miterfasstensowie späterauch kulturübergreifendeVergleicheanstellten. Man sah,dass viele wissenschaftliche Untersuchungeneine kulturelle Schlagseite hatten:Glück zum Beispiel bedeutet in den USAstets auch, etwas erreicht zu haben; in fernöstlichenKulturen hingegen wird es vorallem mit Ruhe und Harmonie assoziiert.Die jüngste Phase der Positiven Psychologiezeigt durchaus engagierte Ansätze. Esgeht jetzt auch darum, auf globale Krisenund die soziale Ungleichheit Antwortenzu finden.„ Man sollte sich dieRealität nicht schönreden,unangenehme Situationennicht ausblendenoder negative Gefühleunterdrücken. Da gibt esweitaus bessere Wege! “SINNVOLLESSCHENKENBereiten Sie mit einem FURCHE-Geschenkabo Ihren Liebsten eineFreude!Sie schenken damit Zeit für neuePerspektiven, für Zugänge,die zum Weiterdenken anregen.» Immer und überall digital undentspannt auf Papier» alle Artikel seit 1945 im FURCHE-NavigatorDIE FURCHE: „Was mich nicht umbringt,macht mich stärker“, heißt es bei Nietzsche.Haben Sie ein besseres Zitat, das zu IhremForschungsfeld passt?Slezáčková: Sigmund Freud sagte: „Ausunserer Verletzlichkeit kommt unsereStärke.“ Und von Nelson Mandela stammtder schöne Satz: „Ich verliere nicht. Entwederich gewinne oder ich lerne.“HEUTE BESTELLEN,ZU WEIHNACHTENSCHENKEN!DIE FURCHE EMPFIEHLTDebatte zum NaturschutzClaudia Bieber (Vet-Med-Uni Wien), Klaus Hackländer (BOKU Wien) und AloisHumer (Univ. Wien) diskutieren beim nächsten „Science Talk“ über die Koexistenzvon Mensch und Natur aus wissenschaftlicher Sicht. Die Veranstaltung des Wissenschaftsministeriums(BMBWF) findet im Hybridformat statt (vor Ort und online).„Science Talk“: Wie viel Raum braucht die „Wildnis“?Aula der Wissenschaften, Wollzeile 27a, 1010 Wien, 20. November, 19 Uhrfurche.at/abo/schenkenaboservice@furche.at01 512 52 61 52
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