DIE FURCHE · 4620 Film & Medien16. November 2023BEZIEHUNGSDRAMAWenn der Geliebtemit dem SohneComing-out mit Coming-of-Agegemischt ist in der Spielfilmweltbei Gott nichts Neues. Dennochgewinnt das einfühlsame Drama„Hör auf zu lügen“ von OlivierPeyon dem Thema neue und durchaussehenswert gestaltete Nuancenab: Die Verfilmung des autobiografischgefärbten Romans von PhilippeBesson erzählt die Geschichte desErfolgsschriftstellers Stéphane Belcourt,der in einer Schaffens- und Lebenskriseals Markenbotschafter einesCognac-Labels in die heimatlicheCharente zurückkehrt. Dort trifft erauf den jungen Lucas, einen der Chefsder Cognac-Firma – und im Nu holtden arrivierten Literaten eine verschwiegeneVergangenheit ein.Denn mit 17 hatte Stéphane eineheimliche Affäre mit Lucas’ Vater,der seine Homosexualität bis zuseinem Tod verheimlichte. In Flashbackswird die kurze, aber heftigeAffäre nacherzählt, die von Lucas’ Vaterabrupt beendet wird. Irgendwannahnt der Sohn dessen heimlichen Leidenschaft,aber der Vater kann sichihm gegenüber nicht öffnen.Nun findet stellvertretend die entsprechendeAuseinandersetzung zwischendem alternden Stéphane undLucas statt, die wirklich subtil, aberherzergreifend erzählt wird – undmit Guillaume de Tonquédec, derden alternden Stéphane gibt, sowiemit Victor Belmondo, der sowohl dessenKurzzeitgeliebten mit 17 als auchSohn Lucas spielt, zwei Schauspieler,die diesem Plot die nötige Authentizitätverleihen. (Otto Friedrich)Hör auf zu lügen(Arrête avec tes mensonges)F 2022. Regie: Olivier PeyonMit Guillaume de Tonquédec, VictorBelmondo. Filmladen. 98 Min.Cognac-Fabrikant Lucas (Victor Belmondo)und Autor Stéphane (Guillaume de Tonquédec).„Am Ende wird alles sichtbar“: Schauspieler und Romanautor August Schmölzer über die Verfilmungseines Prosa-Erstlings und die Schwierigkeiten, mit den verschiedenen Rollen dabei umzugehen.„Freilassen können“Das Gespräch führteMatthias GreulingAls Josef (Harald Schrott)1964 nach Jahrzehntenzurück in seineHeimatstadt kommt,ist vieles nicht mehrso, wie es einmal war. Josef suchtnach seiner Jugendliebe, von derer nicht weiß, ob sie noch am Lebenist. Und ob sie ihn überhauptnoch erkennen würde. Aber esgibt da diese Sehnsucht in ihm,diese Poesie über die Lebensliebe,die in Josef immer stärker wird. Jedochgesellt sich vergiftete Stimmunghinzu, das politische Milieuist feindlich, und Josef wird Zeugeeiner mysteriösen Mordserie.„Am Ende wird alles sichtbar“von Regisseur Peter Keglevic istdie Verfilmung des Debütromans„Der Totengräber im Buchsbaum“von August Schmölzer, der 2014erschienen ist. Darin verwebt derbekannte Schauspieler persönlicheErinnerungen mit fiktionalenEbenen und verdichtet das zueiner Sogwirkung, die auch dieVerfilmung für das Kino übersetzt.Selten, dass einer Romanadaptiondies mit solcher Stilsicherheitgelingt.DIE FURCHE: Was muss ein Autorvon sich abgeben oder wie sehrmuss man loslassen, um das eigeneWerk als Film interpretieren zulassen?„ Der Film macht sich auf die Suche,die wahren Ursachen für allzuMenschliches zu finden!“August Schmölzer: Sie haben sichdie Antwort schon selbst gegeben.Sie haben es nämlich richtig gesagt,es ist Buch und Film, und ichverstehe jetzt zum Beispiel Eltern –ich habe selbst keine Kinder –, dieihr erwachsenes Kind in die Weltlassen müssen und nicht mehr füralles da sein können und es nichtmehr beschützen können. Manmuss es einfach freilassen, loslassen,und so geht es mir mit demFilm und auch mit dem Buch. Esist einerseits ein sehr schönes Gefühl,weil ich glaube, wir könnenuns freilassen. Auf der anderenSeite ist auch ein bisschen Wehmutdabei.MysteriöseMordserieHarald Schrott,August Schmölzerund RobertStadlober (v. li.)in „Am Ende wirdalles sichtbar“, derVerfilmung vonAugust SchmölzersRoman „DerTotengräber imBuchsbaum“.DIE FURCHE: Was hat Sie damalsbewogen, diesen Roman 2014 zuschreiben? Es war Ihr Erstling …Schmölzer: ... und ist bis jetzt geblieben!Der Roman ist eigentlichzu mir gekommen, ich habe frühangefangen, Essays zu schreibenund Geschichten zu erzählen,und komischerweise habendie sich dann aneinandergereiht,das heißt, die haben immer besserzusammengepasst. Und dann habeich sie irgendwann zusammengefügt,und letztendlich hat sichdieses Buch daraus ergeben.DIE FURCHE: Und diese Geschichtenspeisen sich aus persönlichenErlebnissen?Schmölzer: Grundsätzlich könnenSie sowieso nur erzählen, wasSie aus dem Umfeld kennen, davonbin ich überzeugt. Natürlichsind da auch fiktionale Geschichtendrin, aber auch persönliche,die ich jedoch abstrahiert und denFiguren anheimgestellt habe.DIE FURCHE: Das Motiv des Heimkehrers,der lange Zeit von zu Hausefort war, so wie es in diesem Filmbeschrieben wird, das ist Ihnennicht so fremd, oder? Sie sind jaauch wieder in dem Ort wohnhaft,in dem Sie aufgewachsen sind, inFILMKOMÖDIEGeister der VergangenheitMEDIEN IN DER KRISEZweifel weckenEntwurzelt ist die Hauptfigurvon „Bosnischer Topf“, demjüngsten Spielfilm des KroatenPavo Marinković („Ministry ofLove“), und das sogar noch Jahrzehntenach ihrer Flucht aus Bosnien.Faruk – meisterhaft melancholisch:Senad Bašić – war in jungen Jahrenein Poet und Jugoslawist. In Graz, woer seit Langem lebt, hält er sich bestenfallsmäßig über Wasser.Als ihm der Hörfunk jedoch diesporadischen Sendungsaufträge zuseiner alten Heimat entzieht – keinThema von Interesse mehr – unddie Behörden seine Aufenthaltsgenehmigungnicht verlängern wollen,weil er keine geregelte Arbeit hatund seit Ewigkeiten nicht künstlerischtätig war, gerät auch diese Existenzins Wanken.In seiner Not überredet er einekleine Theatertruppe, ein altesStück von ihm einzustudieren. Damitsteht aber noch lange nicht fest,dass es letztlich aufgeführt wird,bei all den finanziellen und persönlichenProblemen, die sich um dieProduktion herum aufbauen.Mit viel guter Absicht, bisweilenaber ungelenk und mit Geschlechterklischeesbelastet inszeniert Marinkovićseine nachdenkliche Komödieüber das Lösen von den Geistern derVergangenheit, die unterschiedlichsteGestalt annehmen können – jeneeiner Flasche Kernöl oder, wie in FaruksFall, jene von Bergarbeitern. Alldas vor der Kulisse der Stadt Graz, diein diesem Ringen um Befreiung davonein weiterer, heimlicher Hauptdarstellerist. (Thomas Taborsky)Senad Bašić spielt meisterhaft melancholischFaruk, den Protagonisten des Films.Bosnischer Topf (Bosanski lonac)HR/A 2023. Regie: Pavo MarinkovićMit Senad Bašić. ABC Films. 104 Min.Den Krieg der Bilder, den jedenfalls die Hamasbislang sehr geschickt führte, hatdie FURCHE ja längst kommentiert (Leitartikelvom 2. November 2023). Die Diskussiondarüber geht aber weiter. So wurde dieser Tagedie Medien analysierende Plattform Honest Reportingmit dem Vorwurf zitiert, freie Fotojournalistenhätten Bilder von den Hamas-Angriffenim Südlibanon sozusagen im Tross der Terrororganisation geschossenund danach internationale Agenturen beliefert. Agenturen wie Reutersdementierten dies zwar umgehend. Dennoch lassen sich all dieseInformationen in Europa schwer verifizieren. Aber dass von einem derangesprochenen Fotografen auf X (vormals Twitter) auch ein Foto hochgeladenwar, auf dem dieser mit dem Hamas-Chef zu sehen ist, zeigt,dass die Fragen, die Honest Reporting stellt, berechtigt sind. Um imKrieg der Bilder nicht instrumentalisiert zu werden, ist es unabdingbar,Zweifel zu wecken und die Quellen zu hinterfragen. Das bleibt umsowichtiger, als gerade in Social Media verbreitete Bilder sich immerwieder als Fake entpuppen – seien sie aus anderen Zusammenhängen(und nicht von den Ereignissen in Nahost) genommen oder mittels KIgeneriert worden. (Otto Friedrich)
DIE FURCHE · 4616. November 2023Film21In ihrem neuen Film „Club Zero“ lässt Jessica Hausner britischeUpperclass-Zöglinge in eine Nulldiätsekte abgleiten.FILMDRAMAAllzu langatmigder Südsteiermark. Welchen Bezughaben Sie zur Heimat?Schmölzer: Ich war lange Zeit wegvon zu Hause, aber ich habe diesenAnsatz nie bewusst bedacht,als ich das Buch geschrieben habe.Ich habe in meinem Leben wirklichan vielen schönen Orten lebendürfen. Es ist etwas geblieben inmir, das ich nicht losgeworden bin,Gott sei Dank, man kann jetzt sagen,ich habe diese Wurzeln nichtausreißen können und bin sehrfroh darüber. Das hat mich wiederhierhergezogen. Augenscheinlichmusste ich auch noch hier einpaar Dinge klären, was das auchimmer ist, weil ich die Menschenhier sehr mag, weil ich das Land,die Landschaft liebe, das hat sichals Kind schon eingeprägt.DIE FURCHE: Wie würden Sie die EssenzIhres Buches beschreiben?Schmölzer: Also ich würde freinach Albert Camus sagen: „AmEnde wird alles sichtbar“ machtsich auf die Suche, die wahren Ursachenfür allzu Menschliches zufinden! Eingeklemmt zwischenGut und Böse fürchte, langweileund freue ich mich, suche Abgründenzu entgehen ... sehne michnach Einklang, doch durch dasewige Auf und Ab, Schwarz undWeiß schramme ich immer wiederhaarscharf an Sicherheit vorbei ...Dagegen stelle ich mir Sisyphosals glücklichen Menschen vor.DIE FURCHE: War Ihnen von Anfangan klar, dass Sie auch selbst mitwirken?Und wenn ja, war klar, inwelcher Rolle Sie das möchten?Schmölzer: Ich wollte überhauptnicht mitspielen, weil ich denke,auch da besteht die Gefahr, dassman die Distanz verliert. Ich warschon ab und zu am Set und habeauch ab und zu Spaghetti gekocht,weil unser Budget war klein, sodassich helfen wollte, wo es ging.Am Ende wird alles sichtbarA 2023. Regie: Peter KeglevicMit Harald Schrott, August Schmölzer,Manuel Rubey. Einhorn. 105 Min.Von Otto FriedrichMan kann gar nicht umhin, JessicaHausners neuestes Opus „Club Zero“mit der Internatsapokalypse „Serviam“von Ruth Mader aus dem Vorjahr zu vergleichen:In beiden Filmen geht es um Lehranstaltenfür die oberen Zehntausend, inbeiden „verführt“ eine charismatisch-mystischeFigur Heranwachsende – bei Ruth Maderzu absoluter religiöser Hingabe, in JessicaHausners Plot eine Ernährungstrainerin,die aus einer kleinen Gruppe von Zöglingeneine toxisch verschworene Gemeinschaftvon Nichtessern schmiedet (daher auch derName „Club Zero“).Während „Serviam“ vor allem dem Lokalkoloriteines Austro-Suspenses frönt, gibtsich „Club Zero“ weltläufiger: Es ist im gehobenenBritannien angesiedelt, das Oxford-Englishder Schauspieler(innen) – anihrer Spitze der australische Star Mia Wasikowska– ruft Reminiszenzen an den Sprachlaborunterrichtim Gymnasium, den manweiland zu besuchen hatte, wach. Überkandideltretro ist nicht nur die Sprache, sonderngleichermaßen die Gewandung der jungenLeute, und auch sonst scheint das Setting anArtifiziellem kaum überbietbar.Was Hausner da erzählt, ist aber dem entgegeneigentlich mitten aus dem Leben heutigergesellschaftlicher Befindlichkeiten entnommen:Denn die Nulldiät, zu denen MissNovak (Wasikowska) ihre Schützlinge anleitet,hat ihre Gründe: Essen zerstört die Natur,vernichtet die Artenvielfalt, ruft Tier- undMia Wasikowska spielt diemysteriöse Miss Novak, diein einem englischen Internatals Ernährungstrainerin einetoxisch verschworene Schüler(innen)scharschmiedet.Pflanzenleid hervor – und kann also keineswegsetwas sein, dem achtsame Zeitgenoss(inn)ennoch nachgehen sollten.Alsbald wird klar, dass solcher Plot eine Allegoriefür den Widerstand gegen alle möglichenUnbilden der Gegenwart – angefangenbei der Klimakrise – darstellt. Und auch dass„Club Zero“ das möglichst schwarzhumorigabhandeln will. Die absurde Handlung, dieextreme Künstlichkeit, in der das dargestelltwird, und auch die Langsamkeit sollen demRaum geben. Die jungen Leute zeigen vor, wieweit sie in ihrer durch Miss Novak indiziertenEssverweigerung gehen können – sie stochernin ihren Schulkantinenmenüs herum,ohne etwas davon zu konsumieren, oder gebenam heimatlichen Esstisch vor, schon zuvorgespeist zu haben. Und wenn dann dochetwas in den Magen gekommen ist, dann darfdas p. t. Publikum noch dem in extenso gefilmtenErbrechen beiwohnen.Dass das alles kein gutes Ende nehmenkann, wird bald ebenso evident wie die Botschaftvom Übergang einer Protestbewegunghin zu einer fundamentalistischen Sekte.Das darzustellen ist richtig und wichtig. Allerdingsgeht dem Film schnell der Atem aus,sodass die beabsichtigte Langsamkeit unversehensin Langeweile übergeht. Und das istmindestens so ernüchternd wie die Erkenntnis,dass gut gemeint das Gegenteil von gut ist.Club ZeroA/GB/D/F/DK 2023. Regie: Jessica HausnerMit Mia Wasikowska, Sidse Babette Knudsen,Lukas Turtur, Mathieu Demy. Filmladen. 112 Min.Carrie Crowley als Cáit in Colm BairéadsLiteraturverfilmung „The Quiet Girl“.Eine liebloseKindheit in IrlandWenn Cáit ins Bett macht,flüchtet sie sich unter dasBettgestell. Dort liegt siewie von Scham und Kälte erdrückt,während sich vor ihr drohend die Füßeder Mutter aufbauen. Mit wenigen,ausdrucksstarken Strichen zeichnet„The Quiet Girl“ eine lieblose Kindheitin Irland. Dabei inszeniert derFilm, der auf Claire Keegans Erzählung„Foster“ basiert, das Verhaltender Eltern unaufgeregt. Er schildertaus Cáits Perspektive: Das Mädchenist gewohnt, dass es der Mutter zurLast fällt. Dass sich sein Wert an derArbeitskraft bemisst. Das Lebensgefühlin gedrängten Verhältnissenteilt sich über sprechende Bilder mit;es spiegelt sich in niedrigen Decken,Cáits Platzierung in engen Rahmungen,vielen Schatten und wenig Licht.So nimmt es die Tochter klaglos hin,dass sie vor der Niederkunft derschwangeren Mutter zu Verwandtenweitergereicht wird. Dort erlebt sieunvertraute Freundlichkeit.Colm Bairéad preisgekrönter Filmerfasst einfühlsam den Kern des Anliegensder irischen Autorin, der vonden Darstellerinnen und Darstellernprägnant zum Leben erweckt wird.Hier wird kein Kind in die Rolle deskleinen Erwachsenen gedrängt, derdurch Stärke die Unfähigkeit seinerEltern vergessen machen soll. SondernErwachsene, obgleich selbsttraumatisiert und spröde agierend,wenden sich ihm fürsorglich zu imWissen, dass ein Kind der Zuwendung,Anleitung und eines Alltagsbedarf. Bairéads außergewöhnlicheLiteraturverfilmung nimmt den Texternst und übersetzt ihn filmisch adäquat.Ein Glücksfall. (Heidi Strobel)The Quiet Girl (An Cailín Ciúin)IRL 2022. Regie: Colm Bairéad. Mit CarrieCrowley, Andre Bennett, CatherineClinch, Michael Patric. Polyfilm. 94 Min.KREUZ UND QUERVIERZEHNHEILIGEN –WALLFAHRTSORT IM WANDELDI 21. NOV 22:35Auf den sogenannten heiligen Berg im Obermaintal in Franken pilgern seit600 Jahren Scharen von Menschen zur imposanten Basilika Vierzehnheiligen.„kreuz und quer“ stellt den Wallfahrtsort vor, gibt Einblicke ins Innenlebenzweier Ordensgemeinschaften, die dort wirken, und zeigt Menschen, die vonihren spirituellen Erfahrungen erzählen.religion.ORF.atFurche23_KW46.indd 1 08.11.23 13:18
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