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DIE FURCHE 16.11.2023

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DIE FURCHE · 4618

DIE FURCHE · 4618 Literatur16. November 2023Prämiert2007 veröffentlichteClemens J. Setz(*1982) seinenDebütroman „Söhneund Planeten“.Mehrere Werkefolgten, ebensoAuszeichnungen,darunter 2021der Georg-Büchner-Preisund2023 der ÖsterreichischeBuchpreis.Von Veronika SchuchterAuch diesmal kommen Ziegenvor. Die hübschen, aber sturenund eigensinnigen Tiere, denen,zumindest nehmen viele Menschendas so wahr, der Schalkim Nacken sitzt, meckern und springen infast jedem Roman des Autors herum, unddas ist durchaus programmatisch zu verstehen.Clemens J. Setz hatte schon immerein Herz für das ein bisschen Schräge, dasWiderständige, das Eigensinnige. Wie inden Ziegen sieht der Autor auch in seinenFiguren gerade in der Individualität undVerschrobenheit das Liebenswerte. Mitdem Protagonisten in seinem Roman „Mondevor der Landung“ treibt er diese Vorliebeauf die Spitze.Peter Bender heißt sein Held, dessen Heldentum,sonst wäre es kein klassischer Setz-Text, in seinem Antiheldentum besteht. PeterBender ist eine historische Figur, derbislang wenig Aufmerksamkeit geschenktFEDERSPIELIn der PhrasenfalleClemens J. Setz hat für seinen biografischen Roman „Mondevor der Landung“ den Österreichischen Buchpreis erhalten.Mehr Ziegen,weniger DebatteIn seiner Dankesrede anlässlich des DeutschenBuchpreises hat Tonio Schachingerin Frankfurt versucht, zum Terrorangriffder Hamas etwas zu sagen und zugleich nichtszu sagen. Es sei sinnlos, wenn er, als „lächerlicherkleiner Autor aus Österreich“ dazu Stellungnehme, aber er könne auch nicht nichtssagen. So ein Preis sei nicht „das Wichtigste“, essei schrecklich, dass auch in Europa Juden sichnicht mehr sicher fühlen könnten.Dass hier einer auf die Worthülsen des geradein Deutschland obligaten Betroffenheitsritualsverzichtet und schlicht seine Ratlosigkeitartikuliert hat, scheint mir glaubwürdigund sympathisch uneitel. Eine namhafte deutscheAutorin erklärte mir hingegen, sie findeSchachingers Äußerungen „unterirdisch“ –es sei ja löblich, dass er nicht geheuchelt habe,aber so sei klar geworden, dass ihm wirklichjede Empathie mit den Ermordeten fehle.Die Frage, ob und wie man in Preis- oder Eröffnungsredenim Kulturbetrieb auf das bedrängendeWeltgeschehen reagieren soll, ist nichtbefriedigend zu beantworten. Muss man in diesemKontext wirklich sagen,dass man den Überfalleines Landes auf seinenNachbarn verurteilt? Dassman gegen Massenmordund gegen Antisemitismus ist? Dürfen Menschendes Wortes Phrasen dreschen? Aber wäreSchweigen nicht als Billigung zu verstehen?Alexander Van der Bellen hat es bei der Messeeröffnungin Leipzig vorgezogen, nach einemgefühlten halben Dutzend fast identer Bekenntnisreden,nicht über die Ukraine, sondern mitWitz und Tiefgang über Literatur zu sprechen.Bei der Eröffnung der „Buch Wien“ hat er leidernicht das Wort ergriffen. Was dort zu hörenwar, klang streckenweise so, als hätte maneine KI zur aktuellen Lage befragt. Bis endlichA. L. Kennedy, prinzipiell und unmissverständlich,über die Macht des Wortes und das Verhältnisvon Intellekt und Gewissen sprach, „In theBeginning“.Die Autorin ist Germanistin undLiteraturkritikerin.Von Daniela Striglwurde. 1893 im rheinland-pfälzischenBechtheim geboren, war Bender zunächstals Kriegsfreiwilliger Flieger im ErstenWeltkrieg. Bei der Betrachtung der Welt vonoben entstand in ihm die Vorstellung, dassdie Welt zwar eine Kugel sei, wir uns allerdingsinnerhalb dieser Kugel befänden,während außerhalb nichts existiere. Benderwar weder der Erste noch der Einzige,dem diese Idee kam. Der Erste, der sie formulierte,war 1870 der Amerikaner CyrusReed Teed, in Deutschland ging 1901 KarlNeupert mit der Theorie an die Öffentlichkeit.Die sogenannte Hohlwelttheorie stehtim Zentrum von Setzʼ Roman, auch wennBender noch ganz andere, zum Teil interessante,zum Teil hochgradig ab struse Ideenund Theorien entwickelte. So gründete er1919 die Religionsgemeinschaft „WormserMenschengemeinde“. Seine Ideen verarbeiteteer auch im Roman „Karl Tormann“.„ Wie in den Ziegen sieht derAutor auch in seinen Figurenin der Verschrobenheit dasLiebenswerte. Mit demProtagonisten in seinemRoman treibt er dieseVorliebe auf die Spitze. “Clemens J. Setz war so fasziniert vondiesem „Sonderling“, dass er sich jahrelangmit ihm beschäftigte, intensiv recherchierte,sogar professionell recherchierenließ und ihn ins Zentrum seines 528 Seitenlangen Romans stellte. Setz begleitet Benderim Ersten Weltkrieg, wo er im Lazarettseine Frau Charlotte, eine polnisch-jüdischeSanitäterin, kennenlernt. Er schildertTreffen mit anderen Hohlwelttheoretikern,wir begleiten ihn auf Tagungen und bekommenEinblicke in diese Welt, die wissenschaftlicheErkenntnisse für Propaganda,oder, wie man heute sagen würde,Fake-News hält. Da sind wir auch schon einbisschen beim Problem. Die Literaturkritikhat den Roman zum Debattentext überQuerdenker und den Umgang mit ihnenFoto: IMAGO / dts Nachrichtenagenturerhoben. Man sehe daran, dass Querdenkernicht prinzipiell gefährlich seien, ja,dieser Peter Bender sei ja eigentlich einesympathische Figur. Dem kann man nachder Lektüre nur bedingt zustimmen. DieAmbivalenzen, die diesem Peter Benderinnewohnen, lassen sich mehr erahnen, alsdass sie erzählt werden. Auf der einen Seiteverfolgt er die progressive Idee einer Gewerkschaftder Hausfrauen, um den Wertihrer Arbeit aufzuzeigen, auf der anderenSeite betrügt er seine Frau, die die Familiefinanziell durchbringt, nach Strich und Fadenund behandelt seine Geliebten wie Sexpuppen,die lästig werden, wenn sie emotionaleAnsprüche stellen. Auch sonst ist erübermäßig von sich überzeugt und agiertnur zu seinem eigenen Wohl – dass er keinsonderlich sympathischer Zeitgenosse ist,hat indes mit seinen alternativen Gedankenexperimentenwenig zu tun.„Monde vor der Landung“ ist ein historischerRoman, der bewusst den Bezug zurRealität sucht, indem faksimilierte Originaldokumenteund Fotos montiert sind. DerRoman ist deutlich zu lang und ausschweifend,was zwar zum Charakter des Protagonistenund seinen abstrusen Gedankengebäudenpassen mag, es den Lesendenindes nicht leichter macht, sich durch die528 Seiten zu arbeiten – und wie Arbeitfühlt es sich stellenweise leider an. Manmerkt dem Text die immense Rechercheleistungdahinter an, was literarisch nichtunbedingt ein gutes Zeichen ist. Da wirdein bisschen zu viel zwischen zwei Buchdeckelgepackt, zu viele Personen, zu vieleAnspielungen, zu viele Fachbücher werdenerwähnt, was der erzählerischen Dynamikschadet. Dass man dem trotzdem folgt, liegtan Setzʼ sprachlichem Talent, an Formulierungenwie „Ufer, die aus vollen Schilfkanonenschießen“ oder Libellen, die als „winzigkleine, ferngelenkte Kettensägen, allesamtvom Teufel besessen“ beschrieben werden.Etwas zu viel GelehrtenhabitusViel interessanter als Bender wäre ohnehindie Figur seiner Frau Charlotte Aschgewesen, die sogar dann noch zu ihremMann hält, als er mit ihrem ganzen Geldseine zweite Geliebte Hedwig zur Grenzebegleitet. Ihr selbst gelingt die Fluchtvor den Nazis nicht, Charlotte wurde deportiertund in Auschwitz ermordet. Bender,nicht jüdisch, wurde für seine Geisteshaltungenebenfalls verhaftet und starbin Mauthausen. Leicht hätte man dieseTragik verwenden können, um einen Märtyreraus Bender zu machen, doch Setzreißt dieses tragische Ende der Geschichtenur an, was ihm hoch anzurechnen ist.Sein Thema ist ein anderes.Setz wurde für seinen Roman etwasüberraschend der Österreichische Buchpreisverliehen. Überraschend daran warvor allem, was fehlte, unter anderem LauraFreudenthalers herausragender Roman„Arson“, der zeigt, wie man ein wichtiges,aktuelles Thema ‒ in diesem Fall unserebrennende Erde ‒ komprimiert und poetischumsetzt, ohne ins Debattenhafte abzugleiten.Dass „Arson“ noch nicht einmalauf der Longlist zu finden war, verwundertdoch sehr. Stattdessen also der BüchnerpreisträgerSetz, der zwar einen soliden,aber sicher keinen herausragendenRoman abgeliefert hat. Ein bisschen erinnert„Monde vor der Landung“ an ein Gespräch,das Setz mit Daniel Kehlmann voreinigen Jahren in der Zeit führte. Darin unterhieltensich die beiden Autoren gelehrigüber ihre Till-Eulenspiegel-Verarbeitungen,über ihre intensiven Recherchen, überhistorische Vorbilder. Ein bisschen wenigerGelehrtenhabitus und mehr meckerndeZiegen hätten dem Roman gutgetan.SVCLEMENS J.SETZSUHRKAMPMONDEVOR DERLANDUNGRomanMonde vor derLandungRomanvon Clemens J. SetzSuhrkamp 2023528 S., geb., € 26,80

DIE FURCHE · 4616. November 2023Theater19Mit Musik, opulenten Bildern und Sprachgewalt sowie einem wilden Mix aus popkulturellen Referenzen und einem intensiven körperbetontenSpiel überzeugt Peter Handkes „Kaspar“ in der Regie von Daniel Kramer im Akademietheater.Überbordende BilderfolterungVon Christine EhardtAls „Rockoper mit grellen Effekten“hat sich Peter Handke seinen„Kaspar“ vorgestellt. Undgenau das bekommen die Zuschauerdes Akademietheatersin der Inszenierung Daniel Kramers auchgeliefert. Opulent, sinnlich und sinnbefreitschwelgt diese Popelegie in überbordendenBildern und haucht dem 1968 uraufgeführtenStück ein staunenswertes neuesLeben ein.Handkes „Sprechfolterung“, nah an Beckett,Wiener Gruppe und Wittgensteingebaut, zeigt, wie Sprache den Menschenformt, der titelgebende Protagonist wirddabei von anonymen Sprechern indoktriniert.„Ich möcht ein solcher werden wieeinmal ein andrer gewesen ist“, lautet derzentrale Satz Kaspars, mit dem Handke andas spektakuläre Auftauchen der historischenKaspar-Hauser-Figur in Nürnbergdes Jahres 1828 erinnert.Über Einsager zur SpracheMarcel Heupermans erster Auftritt beeindrucktum nichts weniger. Als pelzigesEtwas gleitet er von der Bühnendecke einenPlastikgeburtskanal entlang und stößtgrunzend, stockend und keuchend ebendiesenSatz hervor. Sogleich eilen die vier „Einsager“(Laura Balzer, Stefanie Dvorak, JonasHackmann und Markus Scheumann)im schnittigen Golfwagerl herbei. In militantenLatexuniformen und Latexmasken,ausgestattet mit Kettensägen, schneidensie Heuperman aus seinem spinnenartigenKostüm. Freuds Phasen der kindlichen Entwicklunggeben den Rhythmus der folgendenSzenen vor, in deren Verlauf der jungeKaspar in weitere schräg-schrille Verkleidungen‒ vom blauen Babykleidchen mitübergroßem Babykopf bis hin zum silbernenKnickerbockeranzug ‒ gezwängt wird.Vor einem Jahr hatte Kramer schon mitseinem Team (Kostümbildner Shalva Nikvashvili,Choreografin Pandora Nox, BühnenbildAnnette Murschetz und Musik TeiBlow) Tony Kushners „Engel in Amerika“zur modernen Trashoper umfunktioniert.Auch dieser „Kaspar“ ist ein wilder Mixaus popkulturellen Referenzen und einemintensiven körperbetonten Spiel. Kramernimmt den Text streckenweise ganz wörtlich,überlässt ihn dann wieder der freienAssoziation und unterlegt beziehungsweisetrennt die Szenen mit Musik vonMetallica bis Mozart. Höhepunkt ist aberder wortlose Mittelteil des Abends, deran Franz Xaver Kroetzʼ „Wunschkonzert“,eine kurze Geschichte über Einsamkeitund Aussichtslosigkeit, erinnert. KramerFoto: © Susanne Hassler-Smithlässt dieses Stück im Zeitraffer ablaufen,so entsteht eine grandios choreografierteund vom Ensemble wunderbar umgesetzteTheaterminiatur. Darin ziehen fünf Kasparsnacheinander in eine vollausgestatteteEinzimmerwohnung, um als stiller Chorim Kanon die immer gleichen Routinen desAnziehens, Ausziehens, Duschens, Essens,Fernsehens etc. zu verrichten, bis Heupermanmit einem Gewehr in der Hand dasSetting verlässt, während die vier Verbliebenen,zugedröhnt mit Tabletten, zuckendauf dem Bett verenden.Von da an ist es vollbracht: Kaspar hatsich der Sprache bemächtigt und der Machtder Sprache untergeordnet. „Ich möchtejetzt kein anderer mehr sein“, ist auf derverdunkelten Bühne zu lesen, bevor dasmörderische Finale eingeläutet wird. VierClowns in fantastischen Glitzerkostümenmit Luftballons sowie Messern bewaffnet,deren Formensprache Oskar SchlemmersFigurenballett entliehen zu sein scheint,und Heuperman als grinsender Joker imschwarzen Ballkleid, der blutverschmiertvorm Bühnenvorhang steht, üben die totaleZerstörung. Das Ende gibt Rätsel auf, lautHandke sollte Kaspar ja eigentlich keinSpaßmacher sein, oder doch? Es folgt KasparsZusammenbruch. Neben einer blinkendenAtombombe spricht Heupermanden Schlussmonolog, der mit den Worten„Ziegen und Affen“ endet, mit denen bereitsShakespeares Othello seine Resignationausdrückte.1968 stand die Uraufführung in Frankfurtam Main ganz unter dem Eindruckder deutschen Studentenbewegung. Derjunge Handke mit Beatles-Pilzfrisur (wieDie WeltsehenKraftvoll gibtMarcel Heupermandie HauptfigurKaspar. HandkesText wird in derNeuinszenierungstreckenweiseganz wörtlichübernommen,teilweise in freierAssoziation.„ Pop, Gewalt und Psychothrillervereinigen sich hier zu einer bildstarkenAufführung, die einen bisweilen ratlos,aber immer begeistert zurücklässt. “seine Originalporträts aus dem Fotoautomaten,die dem Programmheft beiliegen,zeigen) wurde da bereits als literarischerPopstar gefeiert. Claus Peymann führte damalsRegie (jetzt saß er als Premierengastim Zuschauerraum). Die zeitgenössischenKritiken sprachen von einem „politischenStück“, das Publikum war da anderer Meinungund skandierte eine „elitäre Kunstveranstaltung“.Von beiden Positionen ist Kramers Inszenierungweit entfernt und zeigt sich dennocham Puls der Zeit. Pop, Gewalt undPsycho thriller vereinigen sich hier zu einerbildstarken Aufführung, die einenbisweilen ratlos, aber immer begeistertzurücklässt. Auf der Strecke bleibt HandkesText, der aber dank Heupermans rhetorischenGeschicks doch immer wiederdurchzublitzen vermag.KasparAkademietheater, 17., 21., 27.11. und 1., 17.12.WN185_furche.qxp_Layout 1 31.10.23 13:49 Seite 1WESPENNEST 185ÜBER TIEREUnter dem skeptischen Blick des Schimpansen,fotografiert von Walter Schels, widmet sichwespennest dem Verhältnis Mensch-Tier. Die Tieresind erwachsen geworden, ihre Rechte gestärkt.Bleibt als Unterschied die singuläre Sprachwahr -nehmung und Sprachproduktion des Menschen?Erhältlich im gut sortiertenBuchhandel oder direkt: Wespennest,Rembrandtstr. 31/4, 1020 WienT: +43-1-332.66.91, email: office@wespennest.atTesten Sie die Ausgabe «Normalität» (Nr. 180)oder «Verzicht» (Nr. 181) zum halben Preis oderentscheiden Sie sich für ein Abonnement zumPreis von 42,- € für 4 Hefte (2-Jahres-Abo).Als Abobeigabe stehen attraktive Prämienzur Auswahl.www.wespennest.at

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