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DIE FURCHE 16.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 42 8 Wirtschaft/Politik 17. Oktober 2024 Von Helene Schuberth Der Aufprall in der Realität ist schmerzhaft; den meisten, so scheint es, steht er noch bevor – viele weichen den harten Fakten nach wie vor aus: Das Budgetdefizit in Relation zur Wirtschaftsleistung überschreitet laut Prognose in diesem und nächstem Jahr die Maastricht-Grenze von drei Prozent – ein EU-Verfahren wegen eines übermäßigen Defizits ist kaum noch abzuwenden. Dazu kommt, dass seit diesem Jahr neue Fiskalregeln gelten, die Österreich vertraglich verpflichten, ab 2025 das Budget innerhalb von wenigen Jahren sukzessive zu konsolidieren. Allein für die nächsten zwei Jahre wird eine Konsolidierung von fünf bis sechs Milliarden Euro nötig sein; jedes weitere Jahr kommen dann zusätzliche Beträge hinzu. Milliardenschwere Steuer- und Abgabensenkungsfantasien, wie in einigen Parteiprogrammen zu finden, werden sich dabei in Luft auflösen müssen. Dazu zählen etwa eine weitere Senkung der Körperschaftssteuer sowie die der sogenannten Lohnnebenkosten, die eigentlich Sozialstaatsbeiträge sind. Ihre Senkung würde unmittelbar die Unternehmensgewinne erhöhen und gravierende Leistungskürzungen mit sich bringen – weniger Pension, schlechtere Gesundheitsversorgung und weniger Arbeitslosengeld. Die budgetäre Misere wäre vermeidbar gewesen. Statt direkter Preiseingriffe, die die Inflation gesenkt hätten, entschied man sich für kostspielige Einmalzahlungen. Besonders bitter ist der Blick auf die Übergewinne der Energieunternehmen, die inmitten der Krise Spätestens jetzt kollidieren Träumereien von Steuer- und Abgabensenkungen ohne Gegenfinanzierung mit der Wirklichkeit. Was müsste zum Stopfen des Budgetlochs getan werden? Ein Gastkommentar. Im Angesicht der Fakten „Ein starkes Signal für die Bauwirtschaft wäre eine jährliche, zweckgebundene Wohnbau-Milliarde. Das würde auch die Industriekonjunktur unterstützen.“ Foto: iStock /Elmar Gubisch Milliardengewinne anhäuften – zulasten der Haushalte und der Unternehmen, die damit einen Nachteil im globalen Wettbewerb haben. Statt der vom Finanzminister groß angekündigten Budgeteinnahmen in Höhe von zwei bis vier Milliarden Euro aus einer Übergewinnsteuer blieben am Ende nur etwa 350 Millionen Euro an Steuereinnahmen übrig. Gänzlich unberührt blieben die Banken, die in den Jahren 2022 und 2023 unglaubliche 24 Milliarden Euro an Gewinnen nach Steuern verbuchten, während die Bevölkerung unter steigenden Lebenshaltungs- und Kreditkosten litt. Schließlich haben die Banken den EZB- Zinsanstieg genützt, um die Kreditzinsen zu erhöhen, aber die Zinsen auf die Spareinlagen niedrig zu halten. Als Veredelung kam eine Körperschaftssteuersenkung hinzu, und das in Zeiten profitgetriebener Inflation – ein schwer verständlicher Schritt. Diese Steuergeschenke und überbordende Coronahilfen für Unternehmen haben tiefe Spuren im Budget hinterlassen. Die nunmehr zwei Jahre dauernde Rezession, auf die die Bundesregierung überwiegend mit lähmender Untätigkeit reagierte, tat ihr Übriges; die einbrechende Wirtschaftsleistung hat zusätzlich die Schuldenund Defizitquoten ansteigen lassen. Die neuen EU-Fiskalregeln, die auf Intervention Österreichs noch verschärft wurden, kommen zur Unzeit. Sie sind unnötig restriktiv und erkennen nicht an, dass Zukunftsinvestitionen, von denen künftige Generationen profitieren, durchaus schuldenfinanziert sein sollten – ein fundamentales Prinzip der modernen Finanzwissenschaften. Die Fiskalregeln stehen auch in eklatantem Widerspruch zu den Empfehlungen des unlängst veröffentlichten Draghi-Berichts, der nur mit einer großen Investitionsoffensive die Wettbewerbsfähigkeit Europas gesichert sieht. „ Österreich könnte sich ein Beispiel an jenen EU-Ländern nehmen, die nach der Finanzkrise ihre Budgets durch Erbschaftsund Vermögenssteuern saniert haben. “ Während die USA wieder einmal gestärkt aus einer Krise hervorgehen, zwängt sich Europa selbst in ein starres Korsett, das seine wirtschaftliche Stärke bremst und den Weg zu einer nachhaltigen Erholung blockiert. Europa droht sogar in eine Rezession zu schlittern – schließlich müssen allein nächstes Jahr in der EU insgesamt hundert Milliarden Euro eingespart werden. Es besteht die Gefahr einer Abwärtsspirale, in der Ausgabenkürzungen die Wirtschaft so stark belasten, dass die Staatsverschuldung im Verhältnis zur schrumpfenden Wirtschaftsleistung nicht sinkt, sondern sogar steigt – ein düsteres Szenario, das wir vor einem Jahrzehnt in einigen Krisenländern Europas beobachten mussten. Österreich steht vor einer Herkulesaufgabe. Dringend erforderlich ist zunächst ein sofortiges Konjunkturpaket – kein klassisches mit generellen Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen, sondern eines, das gezielt die Bauwirtschaft, die Industrie und den Konsum stützt und neue Impulse setzt. Ein starkes Signal für die Bauwirtschaft wäre etwa eine jährliche zweckgebundene Wohnbaumilliarde. Diese Mittel sollten ausschließlich in den geförderten Wohnbau fließen, um leistbaren Wohnraum zu schaffen. Eine Erholung der Bauwirtschaft würde auch die Industriekonjunktur unterstützen, ebenso wie leistbare und wettbewerbsfähige Energiepreise. Auch müssen die Finanzen der Gemeinden, die das Gros der Daseinsvorsorge bereitstellen, sofort gestärkt werden. Um den Konsum zu beleben, könnten etwa die drastischen Mietsteigerungen rückwirkend rückgängig gemacht werden. Das würde Haushalte spürbar entlasten und den Staat keinen Cent kosten. Gleichzeitig muss ein mittelfristiges Standortpaket die Weichen für nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit stellen: Stärkung der industriellen Basis durch aktive Industriepolitik, Planungssicherheit bei den Energiepreisen, Unterstützung der Industrie bei der Dekarbonisierung, Ausbau der öffentlichen Verkehrs in frastruktur, Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene, Qualifizierungsoffensive und Fachkräftestrategie, Ausbau der Pflege, Ausbau der Kinderbildungseinrichtungen, Stärkung der Gemeindeinvestitionen, bodenpolitische Maßnahmen, um leistbares Wohnen zu sichern, und vieles mehr. Ein gordischer Knoten Die größte Herausforderung wird jedoch darin bestehen, das Budget in einer Phase zu konsolidieren, in der weitreichende Investitionen in Konjunktur- und Standortinitiativen unverzichtbar sind – ein Balanceakt, bei dem jeder Fehler das Potenzial für eine wirtschaftliche Erholung zunichtemachen könnte. Ob die Lösung dieses gordischen Knotens gelingt, hängt vom Verantwortungsbewusstsein der entscheidenden Akteure ab: Steht das gemeinsame Ganze im Vordergrund – oder hält man an althergebrachten Paradigmen fest? In herausfordernden Zeiten, wie während der Finanzkrise oder der Pandemie, haben die Sozialpartner jedenfalls bewiesen, dass sie als Stütze der Stabilität agieren. Klar ist, dass auch auf der Einnahmenseite des Budgets angesetzt werden muss, will man negative Wirkungen einer rein ausgabenseitigen Konsolidierung vermeiden. Österreich könnte sich ein Beispiel an jenen EU-Ländern nehmen, die nach der Finanzkrise ihre Budgets auch durch höhere Einnahmen aus Erbschaftsund Vermögenssteuern saniert haben. Zu diesen Ländern zählen Spanien, Griechenland, Frankreich und Italien. Bereits seit Langem fordern sowohl die OECD als auch die EU-Kommission, dass Österreich den derzeit äußerst niedrigen Anteil der vermögensbezogenen Steuern am Steuer- und Abgabenaufkommen – nur 1,5 Prozent – endlich anhebt. Zum Vergleich: Der OECD-Durchschnitt liegt bei 5,6 Prozent. Länder wie Belgien und Frankreich haben in den letzten Jahrzehnten ihre Haushalte konsolidiert, indem sie zeitweise die Körperschaftssteuern erhöhten. Zu glauben, man könnte die bevorstehende Mammutaufgabe bewältigen ohne vermögensbezogene Steuern und solidarische Beiträge jener, die es sich leisten können, ist reine Illusion. Das wird vermutlich die Europäische Kommission ähnlich sehen. Die Autorin ist Leiterin des Volkswirtschaftlichen Referats im Österreichischen Gewerkschaftsbund.

DIE FURCHE · 42 17. Oktober 2024 Religion 9 Jesus als Frau In der bildenden Kunst gibt es unzählige zweideutige Darstellungen von Jesus. Hier etwa von Bernardino Luini (1481 – ca. 1532). Von Andreas R. Batlogg SJ Einen Shitstorm löste der Künstler Salustiano García Cruz mit dem Auftragsplakat aus. Und heftige Debatten: Darf Jesus sexy sein? Kann der Auferstandene mit nacktem, athletischem Oberkörper dargestellt werden? Auf viele wirkte dieser Jesus (Modell stand Horacio, der Sohn des Künstlers) zu „sinnlich“, zu „verweichlicht“, ja zu „obszön“. Das Plakat tauge eher als Werbung für eine Gay-Pride-Parade, hieß es in den sozialen Medien. Der Empörung über den „schwulen Christus von Sevilla“ hielt García Cruz entgegen: „Um Sexualität in meinem Christus zu sehen, muss man krank sein.“ Passend zum Thema wählte der Verlag C. H. Beck das Bild als Cover für das Buch „Christus (m/w/d)“ des evangelischen Kirchenhistorikers Anselm Schubert. Ein auf Äußerlichkeiten reduzierter Jesus, der zeitgenössische Assoziationen auslösen muss: Und schon sind wir bei der „geköpften Madonna“ von Esther Strauß aus dem Linzer Mariendom. Jesus war „wahrer Gott und wahrer Mensch“ zugleich: Das ist eine theologische Aussage – und ein Bekenntnis. Mensch hieß Mann – offenbar keineswegs immer automatisch und unwidersprochen. Anselm Schubert legt hier eine ebenso faszinierende wie irritierende „Geschlechtergeschichte“ vor. Das umfangreiche Material versteht sich aber nicht als Beitrag zu modernen Genderdebatten. Mit seinem Buch zeigt und beweist der an der Universität Nürnberg- Erlangen lehrende Schubert vielmehr, dass in der Geschichte des Christentums nicht nur männliche, sondern auch weibliche, androgyne und queere Christusfiguren auftauchen, dass schon im Mittelalter Christus „auch als Frau oder gar als Mutter verehrt“ wurde, dass die scholastische Theologie darüber diskutierte, „ob Christus sich auch als Frau hätte inkarnieren können“. Aufregerthema Neueren Datums ist, dass ab den 1970er Jahren die feministische Theologie Einspruch erhob gegen das „selbstverständlich männliche Bild vom Vater-Gott und seinem Sohn“. „Heute“, so Schubert, „stellt sich vor allem die Frage: Wie verändert sich das Bild von Jesus Christus, wenn feministische Theologinnen einen weiblichen Christus oder gar viele weibliche Inkarnationen Christi postulieren und queere Theolog*innen einen schwulen, bisexuellen, transsexuellen, intersexuellen oder polyamoren Christus entwerfen?!“ Es wird deutlich, so ein Buch kann aufregen. Oder eben neugierig machen. Schnell kommt einem vielleicht die Frage „Muss ich mir das antun?“ in den Sinn. Dem kann man entgegensetzen: Was hier zusammengetragen ist, wird seit Jahrhunderten diskutiert, zwar oft unbeachtet, aber es ist ein Faktum – bei Mystikerinnen und Mystikern, bei Thomas von Aquin und vielen anderen Theologen, die Foto: Getty Images / DeAgostini nicht nur abwehrend und verteidigend, sondern ernsthaft über das Thema nachgedacht haben. Ausgangspunkt war stets die antike, auf Aristoteles zurückgehende Vorstellung, dass das menschliche Geschlecht nur bei Männern vollständig ausgeprägt sei. Die Beherrschung des Körpers und seiner Leidenschaften ergab dann logischerweise „vollkommene“ Männlichkeit – ergo konnte Christus als wahrer Mensch nur ein keuscher Mann sein. Mystischer Bräutigam Das Mittelalter sah das differenzierter. Visionen und Traktate – nicht nur von Mystikerinnen und Mystikern – sind hocherotisch aufgeladen: Christus als mystischer Bräutigam, als Geliebter, seine Seitenwunde als Uterus (Pforte zum Paradies) und Geburtskanal bzw. als Vagina, in welche die „fromme Lanze“ zu versenken sei. Die nährenden Brüste Christi und seine Vorhaut waren Thema, Eierstöcke und männliche Samenzellen erregten Interesse. All das waren nicht nur abstruse Ideen von Nonnen und Mönchen, die man als fehlgeleitete Sublimation frustrierter Zölibatärer abtun könnte. Es waren auch Reaktionen und Gegenströmungen zu blutleer gewordenen scholastischen Spekulationen, die sich in Begriffen verloren und in pseudotheologischen Konstruktionen verstiegen. Diskursive Verschiebungen sind quer durch die Geschichte zu verfolgen. Spannend wäre es zu erfahren, was Jesus von Nazaret zu Schuberts Buch sagt. Er bekäme jedenfalls ein reichlich belegtes Pano rama zahlloser Texte zu lesen: Die von der Antike geprägte einseitige Sicht der bloßen Männlichkeit Christi, die Debatten über die männliche und weibliche Identität Christi im Mittelalter; die reformatorische und vom Konfessionalismus geprägte Geschlechterdebatte, die sich von Reliquien distanzierte, die „Schönheit“ Christi in der Kunst der Renaissance, aber auch seine Androgynität – also Vorgeschlechtlichkeit bzw. Geschlechtslosigkeit – entdeckte. Ebenso wie Fragen der Neuzeit von der normativen Männlichkeit Der evangelische Kirchenhistoriker Anselm Schubert legt eine ebenso faszinierende wie irritierende „Geschlechtergeschichte“ vor. „Christus (m/w/d)“ ist das wohl meistdiskutierte theologische Buch des Jahres. Jesus: Männlich, weiblich, queer? „ Die nährenden Brüste Christi und seine Vorhaut waren Thema, Eierstöcke und männliche Samenzellen erregten Interesse. “ Jesu hin zu Debatten, ob er verheiratet war oder verwitwet und Nachkommen hatte, wie es zahllose Verschwörungstheorien und -narrative behaupteten, die eine Biologisierung der Heilsgeschichte im Blick hatten. Das 20. Jahrhundert schließlich begann über die feministische Theologie mit der Dekonstruktion der Männlichkeit Jesu, die „unter Patriarchatsverdacht gestellt“ wurde – dabei kommt nicht nur Judith Butler zur Sprache, sondern überraschenderweise auch Karl Rahner. Die queere Befreiungstheologie und Theorien zum intersexuellen Christus werden vorgestellt. In einem Epilog fasst Schubert schließlich zusammen, wie es dazu kam, dass Männlichkeit zur Normativität wurde; was Weiblichkeit über das soziale und das biologische Geschlecht aussagt; wie ein androgyner zum geteilten Christus wird; und was Geschlecht, Begehren und Christologie miteinander zu tun haben: „Die Vorstellung eines, wenn man so will, phänotypisch männlichen, genotypisch aber un- oder übergeschlechtlichen Christus stellte über Jahrhunderte die dominante und weitgehend selbstverständliche Tradition in fast allen christlichen Kirchen dar. Gemessen an ihr sind alle anderen Ansichten zu einer Weiblichkeit, Androgynität oder Intersexualität des Leibes Christi nur ideengeschichtliche Marginalien.“ Über hundert Seiten Anmerkungen, Quellen- und Literaturnachweise zeigen: Dieser Stoff ist nicht die Erfindung eines sensationslüsternen Historikers, der endlich einen Bestseller schreiben wollte. Und trotzdem kam mir bei der Lektüre ein Satz von Gottfried Bachl, dem 2020 verstorbenen, sprachsensiblen Salzburger Dogmatiker, in den Sinn: „Der, von dem wir reden, hört selbst zu.“ Also: Wie würde Jesus dieses Buch lesen? Über wen würde er lachen oder den Kopf schütteln? Wir werden es einmal erfahren. Bilder von Jesus werden hier infrage gestellt, fromme und andere, auf die wir uns fixieren, die uns vertraut und liebgeworden sind. Stets gilt: Jesus ist immer anders. Wer Entrüstung mit Orthodoxie verwechselt, könnte sein blaues Wunder erleben. Der Autor ist Jesuit, katholischer Theologe und Publizist in München. VORSORGE & BESTATTUNG 11 x in Wien Vertrauen im Leben, Vertrauen beim Abschied 01 361 5000 Christus (m/w/d) Eine Geschlechtergeschichte Von Anselm Schubert C. H. Beck 2024 396 S., geb., € 33,95 Zur Causa der „geköpften Maria“ von Linz finden Sie ein Dossier mit aktuellen Texten auf furche.at. www.bestattung-himmelblau.at wien@bestattung-himmelblau.at

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