DIE FURCHE · 42 20 Film 17. Oktober 2024 KURZKRITIKEN Nibelungen für die Handygeneration? In dieser Neuadaption, die auf einer literarischen Vorlage des deutschen Fantasy-Großmeisters Wolfgang Hohlbein basiert, wird das Nibelungenlied anhand der tragischen Gestalt des Waffenmeisters der Burgunder, Hagen von Tronje (Gijs Naber), erzählt. „Ihr sollt ein treuer Diener sein“, so die Königstochter Kriemhild – sonst ein harter Mann, gehört ihr aber sein Herz. Sie jedoch verliebt sich in den berühmten Drachentöter Siegfried von Xanten. König Gunter legt es in dessen Hände, das Reich vor der „Gefahr aus dem Osten“ zu retten. Als Gunter die unberechenbare isländische Walkürenkönigin Brunhild freit, bricht die gezwungene Aufstellung zusammen: Wer darf nun wirklich „zur Familie“ gehören? „Jede Generation braucht ihre Nibelungen“: Diese hier richten sich eher an jene Generation, die noch mit dem „Herrn der Ringe“ aufgewachsen ist – zumal die „Generation Handy“ mit den für sie wohl überlangen 135 Minuten heillos überfordert sein wird. (Rudolf Preyer) Hagen – Im Tal der Nibelungen D 2024. Regie: Cyrill Boss, Philipp Stenner. Mit Gijs Naber, Lilja van der Zwaag, Dominic Singer, Rosalinde Mynster. Constantin. 135 Minuten. Spektakuläre Renaturierung Mit dem Regierungsstreit wegen der Zustimmung von Umweltministerin Leonore Gewessler zum EU-Renaturierungsgesetz ist das Thema, in das der britische Dokumentarfilm „Wildes Land – Die Rückkehr der Natur“ konkreten Einblick gibt, einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden. In grandiosen Naturaufnahmen zeichnet Regisseur David Allen nach dem gleichnamigen Besteller von Isabella Tree die Entwicklung des 1400 Hektar umfassenden Landguts Knepp in Südengland nach – von einer unprofitablen industriellen Landwirtschaft zur artenreichen Wildnis. Eindrücklich wird Bildern des durch Monokultur ausgelaugten Bodens die langsame Renaturierung gegenübergestellt, mit der Ansiedlung von alten Pferde-, Schweine- und Rinderrassen bis zur Rückkehr von Bibern, Störchen und Turtel tauben. Auf bürokratische Hürden und Rückschläge folgen über rund zwei Jahrzehnte immer wieder Erfolge, die die positiven Wechselwirkungen des Projekts verdeutlichen. (Walter Gasperi) Wildes Land – Die Rückkehr der Natur (Wilding) GB 2023. Regie: David Allen. Polyfilm. 75 Min. Hinter die Kulissen Von Matthias Greuling Ein Film, der kurz vor den US- Wahlen in die Kinos kommt – auch in den USA –, der hat ein Ziel. Nämlich die Menschen aufzuklären über die Genese eines Mannes, der sich erneut für das höchste Amt der USA bewirbt, das immer noch ein bisschen auch der Weltpräsident ist. Es geht um „The Apprentice“, auf Deutsch „Der Praktikant“, in den USA eine Realityshow, in der Donald Trump TV-Karriere gemacht hat. Aber der Film von Ali Abbasi geht in eine Zeit zurück, als Trump selbst noch ein Praktikant in der Immobilienfirma seines Vater gewesen ist. Als er das Geld von säumigen Mietern in den heruntergekommenen Plattenbauten seines Vaters einkassierte (und man ihm die Tür vor der Nase zuschlug). Mensch und Monster Trump Junior wollte nicht so sein wie der Vater, der ihn (öffentlich) heruntermachte, ihn als Tunichtgut brüskierte, der seinen Bauchspeck vor allem dem Reichtum des Vaters zu verdanken hatte. Trump Jr. begehrte auf. Daran nicht unbeteiligt war sein Anwalt Roy Cohn (Jeremy Strong), der dem jungen Donald, genial verkörpert von Sebastian Stan, die richtigen Hinweise mit auf den Weg gab, um es bis ganz nach oben zu FILMDRAMA schaffen. Will heißen: sich aus dem Schatten des Vaters zu lösen, Millionen mit Immobilien zu verdienen, in einem Umfeld desaströser Kriminalitäts- und Wirtschaftslagen in einem abgewirtschafteten New York der 70er und 80er Jahre. Trump macht mit: Er konsumiert Unmengen an „Diet Coke“, Mit dem Körper ins Reine kommen Mit dem berührenden „Im Namen des ...“ über einen schwulen Priester in der Provinz machte Małgorzata Szumowska schon 2012 auf sich aufmerksam. Nun kommt ihr gemeinsam mit Michał Englert gefilmtes grandioses Epos „Frau aus Freiheit“ ins Kino. Auch in diesem exzeptionellen queeren Film geht es um ein systemisches Gefängnis, wenn die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche Polens mehr auf der Hand zu liegen schien als der LGTBQ-Kampf, dem sich dieses Opus widmet. Und auch wenn Transsexualität im Polen von heute immer noch mehr Tabu als in westlicher gelegenen Ländern sein mag: Die hier geschilderte Menschwerdung der Transfrau Aniela hat viele allgemeingültige Facetten, die über sexuelle Identitätsfindung hinausweisen. Dass all dies mit den Mitteln großen Kinos verhandelt wird, hebt die „Frau aus Freiheit“ weit über thematisch ähnlich gelagerte Werke empor. Über mehrere Jahrzehnte erstreckt sich die hier dargestellte Lebensgeschichte der Protagonistin, die als Andrzej Wesoły im kommunistischen Polen groß geworden ist und als guter Ehemann und Vater zweier Kinder zu Solidarność-Zeiten und den Jahren des Umbruchs nach 1989 in einer polnischen Kleinstadt lebt. Andrzej weiß es schon lang, beginnt sich aber erst nach und nach zuzugestehen, dass sie eine Frau in einem Männerkörper ist. In Polen, erst recht in der Provinz, ist so etwas undenkbar, und der Weg von Andrzej zu Aniela, die mit sich, ihrem Körper und ihrem Leben sowie mit seiner/ihrer Ehefrau Iza ins Reine kommt, ist mehr als steinig. Episch, mitnehmend, aber tiefgehend, was auch an den kaum überbietbaren Leistungen der Darstellerinnen und Darsteller liegt. (Otto Friedrich) „ Regel Nummer eins: ‚Angriff, Angriff, Angriff‘. Nummer zwei: ‚Was man dir vorwirft, leugnest du.‘ Nummer drei: ‚Wenn du am Boden liegst, erklärst du dich zum Sieger.‘ “ Zwei wollen nach oben Donald Trump (Sebastian Stan) und seine Frau Ivana (Maria Bakalova) wollten Amerika erobern. Ihm ist es gelungen. Der ganze Donald Trump in einem Film: „The Apprentice“ von Ali Abbasi schlüsselt erstaunlich glaubwürdig auf, wie Trump zu dem wurde, was er heute ist. Trump wollte klagen: ohne Erfolg. karrieregeilen Blondinen und Fitmacherpillen, um eines zu erreichen: der Tycoon von New York zu werden, das Frankenstein’sche Monster, das sein Anwalt Cohn erschafft, indem er ihm drei klare Regeln mitgibt: Nummer eins: „Angriff, Angriff, Angriff“. Nummer zwei: „Was man dir vorwirft, leugnest du.“ Nummer drei: „Wenn du am Boden liegst, dann erklärst du dich zum Sieger.“ Nach genau diesen Maßstäben ist Trumps erste Präsidentschaft verlaufen. Ali Abbasi zeigt all dies in einem streng komponierten Film voller hintergründiger Einblicke, nimmt einen mit auf eine Reise hinter die Kulissen des amerikanischen Traums – und wie immer ist es dort gar nicht so glamourös wie draußen auf der Bühne. Trump wollte „The Apprentice“ im Vorfeld (erfolglos) durch Klagen verbieten lassen, aber dabei kommt er im Film gar nicht so schlecht weg: Immerhin zeigt Abbasi, dass hinter der blond gefärbten Mähne (die bereits in den 1980ern kosmetisch behandelt wurde) tatsächlich ein Mensch steckt, der auch Empathie und Gefühle zeigt – wir wollen jetzt aber nicht zum Taschentuch greifen. Der Film versucht zu erklären, wie Trump zu dem werden konnte, was er heute ist. Die Umstände in Wirtschaft und Politik mögen ihm zugearbeitet haben; aber auf dem Weg gab es viele Enttäuschungen: etwa jene, als Trump, der Super- Hetero, bemerkt, dass sein Anwaltsfreund Cohn schwul ist und „die neue Seuche“ hat, die in den 80ern grassiert. Schnell wendet er sich von ihm ab (nicht ohne ihn später zurückzuholen) – es ist ein Moment, der tief blicken lässt in die Seele dieses Mannes, der vielleicht bald wieder im Weißen Haus sitzen wird. „The Apprentice“ ist jedenfalls klar der Film des Jahres! The Apprentice CAN/DK/IRL 2024. Regie: Ali Abbasi. Mit Sebastian Stan, Jeremy Strong, Maria Bakalova Filmladen. 120 Min. „Frau aus Freiheit“ verhandelt einen schwierigen Kampf um die eigene Selbstbestimmung. Frau aus Freiheit (Kobieta z...) PL/S 2023. Regie: Małgorzata Szumowska, Michał Englert. Mit Małgorzata Hajewska, Joanna Kulig, Mateusz Więcławek, Bogumiła Bajor. Filmladen. 132 Min.
DIE FURCHE · 42 17. Oktober 2024 Film 21 Bei der 62. Viennale werden von 17. bis 29. Oktober nur noch wenige Filme mit großen Namen gezeigt. Eingefleischte Cineasten kommen trotzdem – oder gerade deswegen – auf ihre Kosten. Ein Ausblick. Hohe Kunst des Abseitigen Von Michael Krassnitzer Helene Thimig war eine der größten deutschsprachigen Bühnenschauspielerinnen des 20. Jahrhunderts. In Kooperation mit dem Filmarchiv Austria wirft die diesjährige Viennale einen Blick auf die kuriose Filmkarriere der österreichischen Mimin. Denn Thimig war nicht etwa, wie man vermuten könnte, ein glanzvoller Star des heimischen Zwischenund Nachkriegskinos, sondern in der Zeit von 1942 bis 1947 Nebendarstellerin in zahlreichen teils obskuren Hollywoodproduktionen. Gemeinsam mit ihrem Mann, Max Reinhardt, war Thimig 1937 ins US-amerikanische Exil gegangen. Nach Reinhardts Tod sah sie sich aus finanziellen Gründen gezwungen, als Filmschauspielerin zu arbeiten – und hinterließ dabei in kleinen Rollen großen Eindruck. Sie spielte etwa in „The Hitler Gang“ (Regie: John Farrow), der Adolf Hitlers Aufstieg als Gangsterfilm erzählt, oder in dem Horrorfilm „Isle of the Dead“ (Regie: Mark Robson) an der Seite von Boris Karloff. Ihre einzige Hauptrolle verkörperte sie in dem B-Movie „Strangers in the Night“ (Regie: Anthony Mann), einem nur 56 Minuten langen Psychothriller. Atemlose Assoziationen Für all jene, die sich zwar für qualitativ hochwertiges Kino, aber nicht so sehr für Sozialdramen oder allzu Kunstvolles begeistern, ist die Thimig-Retrospek tive eines der Highlights des Wiener Filmfestivals, das am 17. Oktober startet. Die siebente von Eva Sangiorgi als künstlerischer Leiterin verantwortete Viennale ist wohl jene, die sich am weitesten vom Mainstream des Kinos entfernt hat. Nur noch ganz wenige Filme warten mit großen Namen auf. Dazu zählt etwa der Eröffnungsfilm des französischen Regisseurs Leos Carax, bei dem es sich allerdings um ein als „atemloser Reigen der Assoziationen“ beschriebenes, lediglich 42 Minuten langes filmisches Selbstporträt handelt. Mit dem makabren Melodram „The Shrouds“ ist David Cronenbergs jüngster Film auf der Viennale zu sehen. Pedro Almodóvar ist mit seiner ersten englischsprachigen Regiearbeit „The Room Next Door“ vertreten, in der auch die veritablen Stars Tilda Swinton und Julianne Moore mitspielen. Ein paar andere prominente Schauspieler sind ebenfalls zu bewundern, etwa Adrien Brody in „The Brutalist“ (Regie: Brady Corbet) oder Amy Adams in „Nightbitch“ (Regie: Marielle Heller). Insgesamt aber wird bei der Viennale vor allem Randständiges, Abseitiges gezeigt. Dies kommt auch bei den diversen Schwerpunkten zum Ausdruck. So ist der brasilianischen Regisseurin Juliana Rojas und dem mexikanischen Filmkollektiv Colectivo Los Ingrávidos jeweils eine Monografie gewidmet. Die diesjährige Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum steht im Zeichen des US-amerikanischen Aktivisten und Filmemachers Robert Kramer. Lauter Namen, die wohl nur den eingefleischtesten Cineasten geläufig sind. Politik ist auf der Viennale und in den dort präsentierten Filmen immer auch ein Thema. Die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten und der Wiederaufstieg des Antisemitismus schlagen sich natürlich auch im internationalen Filmschaffen nieder – und ein Filmfestival mit Anspruch muss dem gerecht werden, ohne gleichzeitig Position zu beziehen. Die Kulturszene ist ja bekanntlich gespalten zwischen jenen, die trotz aller Kritik an der aktuellen israelischen Regierung auf der Seite Israels stehen, und jenen, die sich mit verstörender Bedingungslosigkeit mit den Palästinensern solidarisieren. Die Viennale versucht also den Spagat und zeigt Filme, die jüdische Befindlichkeiten thematisieren, und solche, die palästinensische Befindlichkeiten thematisieren. In seinem Filmessay „A Fidai Film“ arbeitet der palästinensische Filmemacher Kamal Aljafaret mit Material des einstigen Palestine Research Center in Beirut, das im Libanonkrieg 1982 von israelischen Truppen beschlagnahmt worden war. In dem Kurzfilm „Undr“ montiert er unter anderem historische Luftaufnahmen von Jerusalem und dem Westjordanland. Regisseur Jesse Eisenberg wiederum schickt in der Tragikomödie „A Real Pain“ seine Protagonisten auf eine Reise in die Vergangenheit ihrer verstorbenen Großmutter und Holocaust- Überlebenden nach Polen. Stark performt Im österreichischen Viennale-Beitrag „Mond“ zeigt Performancekünstlerin Florentina Holzinger ihre schauspielerischen Qualitäten. Foto: Stadtkino Filmverleih Mehr zu Pedro Almodóvars Film „The Room Next Door“ finden Sie unter „Ikonen und Tod am Lido“ (15.9.24) auf furche.at. „ Die siebente von Eva Sangiorgi verantwortete Viennale ist wohl jene, die sich am weitesten vom Mainstream des Kinos entfernt hat. Insgesamt wird vor allem Randständiges gezeigt. “ Ein zwar problematisches, aber nicht so umstrittenes politisches Thema ist der Komplex Kolonialismus/Postkolonialismus, in dessen Zeichen unter anderem der Abschlussfilm der Viennale steht: Der Dokumentarstreifen „Dahomey“ (Regie: Mati Diop) erzählt von 26 Kunstwerken, die während der französischen Kolonialzeit aus dem früheren Königreich Dahomey geraubt worden waren und nun im Zuge einer Restitution in die heutige Republik Benin zurückkehren. In „Grand Tour“ porträtiert Regisseur Miguel Gomes einen britischen Kolonialbeamten, der während des Ersten Weltkriegs eine Odyssee durch Indochina, die Philippinen, Japan und China erlebt. Eine international wenig beachtete Facette des Themas Kolonialismus beleuchtet der Schwerpunkt „Haunted by History“, in dem es um die Darstellung der japanischen Kolonialzeit im (süd)koreanischen Kino geht. Das Spektrum der gebotenen Genres reicht dabei vom Kriegsfilm bis zum Spaghetti-Western, vom Horror- bis zum Dokumentarfilm, vom Gangsterfilm bis zum Arthouse-Klassiker. Klingt spannend. Hochgelobter Streifen „Mond“ Auch wenn sich die Viennale als internationales Festival und nicht als Plattform für den österreichischen Film versteht, sind wie immer auch ein paar Filme aus Österreich zu sehen. Einer davon ist „Mond“, die jüngste Regiearbeit von Kurdwin Ayub mit der Performancekünstlerin Florentina Holzinger in der Hauptrolle (siehe Bild). Eine ehemalige Kampfsportlerin verlässt Österreich, um drei Schwestern aus einer reichen Familie in Jordanien zu trainieren. Was sich nach einem Traumjob anhört, nimmt bald beunruhigende Züge an: Die jungen Frauen, die nicht an Sport interessiert zu sein scheinen, sind von der Außenwelt abgeschottet und werden konstant überwacht. „Mond“ spielt mit den Konventionen des Thrillers und den Erwartungen des Publikums an dieses Genre, unterläuft diese aber immer wieder. Der hochgelobte Film wurde bei den Filmfestspielen in Locarno mit dem Großen Jurypreis ausgezeichnet. 62. Viennale 17. bis 29. Oktober 2024 Weitere Programminformationen unter www.viennale.at KREUZ UND QUER WOLFGANGS WEGE PILGERN VON BAYERN NACH ÖSTERREICH DI 22. OKT 22:35 Wolfgang von Regensburg zählt zu den bedeutendsten Heiligen in Österreich, Bayern und ganz Europa. Zentrum der Verehrung ist die Gemeinde St. Wolfgang im Salzkammergut, wo der Namenspatron einst eine Kirche errichten ließ. Was Pilgerinnen und Pilger früherer Jahrhunderte staunend erlebten, kann auch für Menschen von heute eine Quelle der Inspiration sein: Die Dokumentation von Robert Neumüller begleitet verschiedene Pilgergruppen – und erzählt den Lebensweg des heiligen Bischofs Wolfgang, einer der faszinierendsten Persönlichkeiten der europäischen Geschichte. religion.ORF.at Furche24_KW42.indd 1 09.10.24 14:41
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