DIE FURCHE · 42 14 Diskurs 17. Oktober 2024 Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. ERKLÄR MIR DEINE WELT Wie wenig wissen wir wirklich von der Welt Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Beim ersten Überfliegen Ihres jüngsten Briefes hatte ich den Eindruck, dass Sie gerne getröstet werden möchten. Sie fragen mich, wie ich es schaffe, meinen Brief an Sie in der Regel schon vor dem Sonntag an die Redaktion zu schicken. Bitte vergessen Sie nicht, Sie haben es bei mir mit einem Rentner zu tun! Sie hingegen – so vermute ich – müssen arbeiten. Des Lebensunterhalts wegen. Da kann man schon in Zeitnot kommen, vermute ich – da Sie ja sehr verschwiegen sind, was beruflich Ihre Pläne, Träume und Pflichten sind. Ich kann faulenzen – oder etwas arbeiten, was mich freut. Ich stehe gegen sechs Uhr auf, nehme das Buch zur Hand, das aufgeblättert neben dem Kopfpolster liegt, und lese die letzten Seiten noch einmal, bei denen es mir gegen Mitternacht aus der Hand gefallen ist. Dann kommt die einzige Pflicht des Tages: Ich bereite das gemeinsame Frühstück. Sie fragen, ob ich auch von der krankhaften Neigung befallen sei, immer etwas auf morgen – lateinisch cras – zu verschieben, wovon ja das hässliche Wort „Prokrastination“ kommt, das wie eine schreckliche Krankheit klingt. Ja natürlich kommt es vor, dass ich etwas Lästiges gerne auf später verschiebe. Aber je älter ich werde, umso seltener. Ich setze mir meist die deadlines (was für ein Begriff!) selbst so früh, dass ich – zum Beispiel – den Sonntag wirklich zum Ruhetag erklären kann, auch wenn ich am Montag etwas „abzuliefern“ habe. Seien Sie also getröstet und mit sich selbst etwas geduldiger! Sagt der alte „weise“ Mann. Ich möchte Ihnen noch von einer Begegnung erzählen, liebe Frau Hirzberger, die mir vor Kurzem zuteilgeworden ist. Nachdem – vor ein paar Tagen – bekannt geworden war, „ Literaturnobelpreisträgerin Han Kang stammt aus jener Stadt, in der 1980 ein Massaker stattgefunden hat. Manche ihrer Romane seien ‚wie eine Kerze für die Toten‘. “ wem dieses Jahr der Literaturnobelpreis zuerkannt wird, habe ich natürlich sofort recherchiert: Han Kang, einer Schriftstellerin aus Südkorea. Ich gestehe, ich habe den Namen noch nie gehört, obwohl Frau Han für ihre Romane bereits zahlreiche internationale Preise erhalten hat. Sofort bestellte ich mir einen der Romane, die zuletzt in deutscher Übersetzung erschienen sind. Und ich bin gespannt auf die Lektüre. Han Kang ist in der Stadt Gwangju geboren. In der Stadt, in der im Frühjahr 1980 ein Massaker mit mehr als tausend Toten stattgefunden hatte, als Kang neun Jahre alt gewesen war. Damals demonstrierten in ganz Südkorea die Menschen gegen eine herrschende Militärdiktatur. Manche ihrer Romane sind – so lese ich – „wie eine Kerze, die für die Toten angezündet wird“. Ach, denke ich, wie wenig wissen wir wirklich von der Welt und wie wenig berührt uns, was außerhalb unserer oft so gefühllos-lächerlichen Problemzonen geschieht und geschehen ist. Just an dem Tag, an dem ich von der Nobelpreisträgerin aus dem fernen Südkorea höre, ergibt es sich, dass ich am Abend in guten Gesprächen mit Freunden einer Frau aus Südkorea gegenübersitze. So ist mir an diesem Tag ein sehr fremdes Land zweimal nahegekommen. Es gibt keine Zufälle. Wir müssen sie nur als Botschaften verstehen. Oder besser: verstehen lernen. Noch ein Nachtrag zu Philemon und Baucis aus meinem letzten Brief: Im Kunsthistorischen Museum hängt ein Bild von Peter Paul Rubens, in dem das greise gastfreundliche Paar von den Göttern aus einem Weltuntergangsszenario mit Wolkenbrüchen gerettet wird. Großartige Malerei! Ich wünsche Ihnen viel Vertrauen und grüße Sie herzlich, Von Reinhard Haller Vorarlberg hat einen neuen Landtag gewählt. In FURCHE Nr. 38 Über die Seele des Landes schrieb der Psychiater 3800 18. September 2014 Reinhard Haller 2014 in der FURCHE. Die blaue Sensation blieb aus. Bei der Landtagswahl in Vorarlberg konnte die ÖVP Platz eins mit 38,3 Prozent (minus 5,2 Prozentpunkte) behaupten. Die FPÖ hat ihr Ergebnis von 2019 verdoppelt und erreichte 28 Prozent. Die Grünen verlieren Platz zwei und 6,4 Prozentpunkte und kommen nur noch auf 12,4 Prozent. SPÖ und Neos schnitten mit 9,1 und 8,9 Prozent nahezu gleich wie 2019 ab. Politisch tickt das Ländle immer schon anders. 2014 legte Reinhard Haller in der FURCHE folgende „Psychogeographie“ vor. Ghörig“ sagen die Alemannen, wenn sie etwas gut, richtig oder authentisch finden. Ghörig müssen Verhalten und Auftreten, Arbeit und Lohn, Leistung und Erziehung, ghörig auch Obrigkeit und Regierung sein. Da dieses Wort, dessen Wurzel sowohl mit „zuhören“ als auch mit „hörig sein“ zu tun hat, bei Vorarlbergern zu den am meisten verwendeten Ausdrücken gehört, lässt sich daraus auf ihr Wesen schließen. Sofern es in Zeiten der Globalisierung noch spezifische Züge einer Volksgruppe gibt, äußern sich diese in der Sprache. Und die ist im Ländle besonders. Nicht nur, weil hier alemannisch gesprochen wird, sondern wegen der Vielfalt der Dialekte. Wenn diese Psychogramm der Vorarlberger so entschlossen kultiviert werden, dass sich ein Ur-Montafoner und ein Lustenauer kaum verstehen, sagt es viel über Identität aus. Auf wen wird also in Vorarlberg gehört oder besser gefragt, wem schenkt man kein Gehör? Kaum den „Innerösterreichern“ oder den „Wienern“, und schon gar nicht denen da oben. Statt auf die Obrigkeiten wird auf Sitte und Brauchtum gehört, was den Eindruck der konservativen Bürgerlichkeit erweckt. Kein Land, ein Ländle Die Vorarlberger „Psychogeographie“ besteht aus einer kleinen, abgegrenzten Region. Man lebt, wie der Name sagt, vor dem Arlberg und nicht dahinter. Vorarlberg ist kein Land, sondern ein Ländle. Dies ist, wie die von Verkleinerungen gespickte Sprache – Hüsle, Lütle – Foto: Wikipedia/ böhringer friedrich (cc by-sa 2.5) zum Ausdruck bringt, jedem bewusst und löst keine Minderwertigkeitsgefühle aus. „Klein, aber oho“ heißt es in einem Lied von Michael Köhlmeier und Reinhold Bilgeri. Des Vorarlbergers Gefühlsausdruck ist zurückhaltend, selten überschwänglich. Dies verleiht ihm eine distanzierte Aura, die irritiert. Man wird mit den Vorarlbergern nicht leicht warm, kann sich dann auf Dauer auf sie verlassen.In seiner Identifizierung von außen betrachtet man den Vorarlberger gerne als konservativ, wenig weltoffen. Die unterstellte fehlende Weltoffenheit übersieht, dass das Bundesland in einem Dreiländereck mit regem Grenzverkehr liegt, von welchem Paris nicht weiter entfernt ist als Wien. Es heißt, die Vorarlberger hätten keine kulturelle Ader: „Alemannia non cantat“. Dem widersprechen der hohe Anteil an Musikschülern und ein starker Muskel in der österreichischen Literaturszene. Am treffendsten hat wohl Gebhard Wölfle das Vorarlberger Selbstideal auf den Punkt gebracht: „Stets auf das Traditionelle und Bewährte abstellen, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein, sich mit der Heimat identifizieren und persönlich authentisch bleiben“. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. 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DIE FURCHE · 42 17. Oktober 2024 Diskurs 15 Wer eine Resolution des PEN Palestine unterschreibt, in der das Massaker des 7. Oktober verniedlicht wird, betreibt falsche Solidarisierung. Ein Offener Brief an den Vorstand des österreichischen PEN-Clubs. Und wieder scheiden sich die Geister Der Vorstand des österreichischen PEN-Clubs hat sich, wie ich höre wenigstens nicht einstimmig, einer „Resolution on Freedom of Expression in Palestine and Israel“ angeschlossen, die der englische PEN gemeinsam mit PEN Palestine beim 90. internationalen PEN-Jahreskongress in Oxford vorgeschlagen hat, die von den PEN-Clubs von Südafrika, Jordanien, Chile, Libanon, Irak und Wales unterstützt und vom internationalen PEN angenommen wurde.* Als letztes Mitglied des österreichischen PEN, das die NS-Zeit in Österreich in voller Länge erlebte, in dieser Zeit zum NS- Gegner wurde und nach wie vor publiziert, möchte ich erklären, warum ich diesen Schritt für einen schwer verzeihbaren Fehler halte. Der englische PEN gemeinsam mit PEN Palestine: Die Autorenschaft allein hätte genügen sollen, um Sie zu warnen. Wenn nicht, hätten Sie beim Lesen des ersten Satzes begreifen müssen, dass die Handschrift dieses Papiers die des palästinensischen PEN ist – es sei denn, Sie halten den englischen PEN einer derartigen Verniedlichung des Massakers vom 7. Oktober für fähig, wie sie mit der Formulierung „the escalation of violations that have taken place since the attacks carried out by Hamas and other Palestinian armed groups on 7 October 2023 and throughout the ongoing war in Gaza“ begangen wird. „From the river to the sea“? Die Eskalation der Verstöße gegen die Presse- und Meinungsfreiheit durch Israel, von denen in diesem Papier die Rede ist, hat also mit einem Angriff der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen und nicht mit einem stundenlangen Massaker mit 1140 Toten, Massenvergewaltigungen, unvorstellbaren Gräueltaten an Zivilisten und der Entführung von 250 Geiseln begonnen. Was folgt, ist eine lange Liste von Anklagen gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch Israel, die ich nicht überprüfen kann. Am Ende des Papiers werden die politischen Forderungen der Hamas wiederholt. Mit der Annahme dieses Papiers hat sich der internationale PEN in jenen Zug des Zeitgeistes eingereiht, der auf Europas Straßen, aber auch auf vielen ehrwürdigen US-Unis „from the river to the sea“ skandiert und damit, ob die Schreier es wollen und wissen oder nicht, Foto: Gabor Mayerhofer DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Hellmut Butterweck „ Beim Existenzrecht Israels gibt es keinen Spielraum, kein Dazwischen, keine Meinungsvielfalt. “ Israels Vernichtung fordert. Mit Ihrer Unterschrift haben auch Sie, die Sprecher des österreichischen PEN, meines PEN, sich zu dieser Richtung bekannt. Doch nein, nicht mit mir. Nicht in meinem Namen. Und damit stehe ich nicht allein. Selbstverständlich darf Israel nicht nur kritisiert werden, sondern es muss kritisiert werden. Diese Kritik kann aber immer nur von der einen Seite erfolgen – oder von der anderen. Von der Seite, die Israel vernichten will oder von dort, wo jede Kritik an Israels Politik und Kriegsführung, wie hart immer sie auch sein mag, vom Existenzrecht Israels ausgeht und keinen Millimeter davon abweicht. Hier gibt es keinen Spielraum, kein Dazwischen, keine Meinungsvielfalt. Man kann und darf auch der Meinung sein, dass hierzulande zu wenig Israel-Kritik dieser Art zu hören ist. Diese Zurückhaltung hat aber einen guten Grund, nämlich den Beifall von der falschen Seite, dessen man sich hier mit dem leisesten kritischen Wort über Israel sicher sein kann. Jetzt, so scheint mir, ist die ganze Welt so weit. Als ich in der Nachkriegszeit nach Orientierung suchte, wurde der PEN für mich schnell zu einem Leuchtfeuer gegen Nationalsozialismus, Antisemitismus, Diktatur und Inhumanität. Das bleibt man nicht ohne Kämpfe. Der PEN-Club hat Konflikte durchgestanden, die ihn zu zerreißen drohten, zum Beispiel 1933, als die NS-Autoren den österreichischen PEN verließen, als er sich nach allzu langem Zögern doch noch dem Protest gegen die Bücherverbrennungen der Nazis anschloss. Der Antisemitismus kommt mir manchmal vor wie ein bösartiges Virus, das nie ganz verschwindet, immer da ist in verschiedensten Formen, als „gemäßigter Antisemitismus“ der Vor- Hitlerzeit, als stets präsenter Antisemitismus des nationalen Lagers, auf schwer fassbare Weise allgegenwärtig, um immer wieder einmal mit voller Wucht auszubrechen, Menschen erfassend, von denen man nie geglaubt hätte, dass es auch in ihren Hinterköpfen schlief, ein Virus, welches das Denken blockiert, ein Hohn auf den Glauben an den Fortschritt der Menschheit. Offenbar hat der Antisemitismus die seit 1945 vergangenen Jahrzehnte in noch viel größerem Ausmaß als gedacht in allzu vielen Hinterköpfen überdauert. Erzgeschwür des abendländischen Geistes Man kann und soll für die Rechte der Palästinenser eintreten. Wer aber eine Resolution des PEN Palestine unterzeichnet, in der das Massaker vom 7. Oktober verniedlicht wird, betreibt die falsche Solidarisierung. Wenn sich der Internationale PEN auf diese Bahn begibt, scheiden sich auch bei uns, den Poets, Essayists, Novelists, wieder einmal die Geister. Und wiederum scheiden sie sich am übelsten Erzgeschwür des abendländischen Geistes. Jetzt muss wieder einmal jeder wissen, wo er steht. Und der Vorstand des österreichischen PEN muss wissen, dass er nicht für sich selber, sondern dass er im Namen aller österreichischen Mitglieder handelt. Ich fordere Sie, den Vorstand des österreichischen PEN, auf: Bitte denken Sie noch einmal darüber nach, wofür wir stehen und ziehen Sie diese Unterschrift zurück! Der Autor, Jahrgang 1927, war viele Jahre FURCHE-Redakteur und ist Autor zeitgeschichtlicher Standardwerke. Mitunterzeichner dieses Offenen Briefes sind Miguel Herz-Kestranek und Peter Paul Wiplinger. *Hinweis: Der Vorstand des Österreichischen PEN-Clubs hat mittlerweile seinerseits in einem Statement die Unterzeichnung der Resolution begründet – nachzulesen auf www.penclub.at. ZUGESPITZT Das Wohl des Rosses Karl Nehammer bliebe lieber Kanzler und lehnt die Steigbügelhalter-Rolle ab. Um im Bild zu bleiben: Er müsste nämlich zunächst vom Pferd absteigen und dann Herbert Kickl hinaufhelfen. Eine unattraktive Option. Vielleicht hätte Kickl Nehammer anbieten sollen, dass dieser auf dem Tier sitzen bleiben dürfe und nur ein Stück nach vorne rücken müsse. Wenn Kickl dann seine Finger ausstreckte, dann wären für ihn die Zügel in greifbare Nähe gerückt. Dem Pferd wiederum würde die Last zu schaffen machen. Man will es sich gar nicht vorstellen, wie unruhig der Co-Reiter auf seinem ihm zugewiesenen Platz herumrutschem würde. Dabei könnte der Vordere schon einmal das Gleichgewicht verlieren und fallen. Das käme dem Hintermann zupass. Holterdiepolter könnte der sich die Zügel zur Gänze schnappen und davongaloppieren. Wohin? Eine Reitschule in Ungarn läge auf der Hand. Direkt nach Budapest hineintraben dürfte Kickl nicht. Das Wohl des Rosses hat im Nachbarstaat einen hohen Stellenwert. Das Ausreiten ist nur in ländlichen Gebieten erlaubt. Bis auf eine Ausnahme: Ein trojanisches Pferd darf auf dem Burgberg der Hauptstadt verweilen – dort kann es jene Künste einstudieren, die es in Brüssel regelmäßig vorführt. Bis Kickl vorgelassen wird, wird er wohl noch eine Weile aus der Ferne Viktor Orbáns Steigbügel halten müssen. Brigitte Quint PORTRÄTIERT Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Alle Jahre wieder werden vor Bekanntgabe des Nobelpreises für Literatur Namen genannt, die angeblich „gut im Rennen liegen“. Oft gibt es dann überraschte Gesichter, so auch heuer. Die Ermittlungen, die zur Findung von Literaturnobelpreiswürdigen führen, erfolgen halt doch nicht nach den Regeln von Pferde rennen. Mit der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang haben wohl wenige gerechnet. Dabei ist sie auch hierzulande bereits bekannt, liegen bereits fünf deutschsprachige Übersetzungen im Aufbau Verlag vor. (Und die sechste erscheint im Dezember.) „Bevor meine Frau Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar“, beginnt ihr Roman „Die Vegetarierin“. „So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten.“ Kaum zu ertragen sind dieses Ich und sein Blick auf seine (Haus-)Frau. Doch diese Frau wird sich verweigern. Der Mensch ist zu sehr Tier. Eine Pflanze will sie sein, nie mehr Fleisch essen und von Sonne und Wasser leben. Ihre subversive Rebellion ist zugleich ihre Auflösung. „Die Vegetarierin“ erzählt schonungslos und in unterschiedlichen literarischen Bildern und Annäherungen die radikale Verweigerung einer Frau innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft. An der Ausübung von Gewalt beteiligen sich auch Frauen: die Mutter etwa oder die eigene Schwester. In verstörenden Szenen werden vielfältige Weisen der Gewalt thematisiert: durch Blicke, durch Sprache, durch Taten, wie etwa der grauenhafte handgreifliche Versuch der Zwangsernährung inmitten der Familie. Han Kang erhielt 2016 für diesen 2007 im Original erschienenen Roman gemeinsam mit ihrer Übersetzerin den Man Booker International Prize. Gewalt und die dunklen Seiten des Menschen interessieren die 1970 in Gwangju geborene Autorin auch in „Menschenwerk“. In diesem Roman thematisiert sie – und greift dafür auf historische Dokumente zurück – das Massaker, mit dem 1980 in Gwangju Demonstrationen gegen die Militärregierung brutal zerschlagen wurden. „Wozu ist der Mensch fähig?“, fragt Han Kang unter anderem mit ihrer Literatur. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? (Brigitte Schwens-Harrant) Foto: AFP / Geoffroy Van Der Hasselt Nobelpreis für Literatur: Han Kang wurde 1970 in Gwangju, Südkorea, geboren und lebt in Seoul.
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