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DIE FURCHE 16.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 42 12 Gesellschaft 17. Oktober 2024 Der Judenhass ist bei den 16- bis 27-Jährigen seit dem 7. Oktober zwar „stabil“ geblieben, doch er wird „lauter“. Das zeigt eine vom Parlament beauftragte Studie. Wie sieht die Situation in der Praxis aus? Unsere Autorin, Lehrerin an einer Wiener Mittelschule, erzählt. Jesus war kein Moslem Von Katharina Tiwald Ein prophetischer Blick in die Zukunft des Christentums Spirituelle Perspektiven auf drängende Gegenwartsprobleme Tomáš Halík blickt auf die Herausforderungen der Gegenwart – seien es Missbrauchsskandale, Klimawandel, Kriege oder der Umgang mit künstlicher Intelligenz. Wie können wir Menschen all das bewältigen? Halík stellt sich das Ideal eines »Papstes aller Suchenden« vor: Raphael. Mit ihm tauscht er Gedanken und Fragen, Hoffnungen und Ängste aus. Dabei entfaltet Halík prophetisch seine Vision einer allumfassenden, wahrhaft ökumenischen Kirche der Menschlichkeit, die zugleich mutig und verantwortungsvoll die Zeichen der Zeit zu lesen weiß. Ein Bekenntnis der Hoffnung. Mit Workshops will das Wiener Haus der Geschichte bei Jugendlichen und jungen Erwachsen das Bewusstsein für Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus stärken. Die Teilnehmenden lernen, Judenfeindlichkeit kritisch zu hinterfragen. BEST- SELLER- AUTOR € 22,70 (A) | ISBN 978-3-451-39903-9 www.herder.de spiele und TikTok-Videos schweben mögen, und äußert sich in Szenen wie jener, in der ein Zehnjähriger wütend weint. Nach dem Grund befragt, berichtet er in schluchzender Anklage, seine Freunde hätten gesagt, er sei kein Moslem. Wer allerdings glaubt, die Wiener Mittelschulen seien kurz davor, sich in Außenstellen von Moscheen zu verwandeln, liegt natürlich falsch. Wer glaubt, der religiöse Hintergrund spiele gar keine Rolle, tut das auch; wie immer ist die Wahrheit komplexer und fordert uns Lehrkräfte (Kraft, das gefällt mir!) dazu heraus, klar Haltung zu zeigen. „ Unvergessen, wie in meinem ersten Dienstjahr mitten im Unterricht ein Zehnjähriger den Satz ‚Ich hasse Juden!‘ von sich gab. “ Die Ansagen in der Klasse sind ebenfalls klarer Natur und zeugen davon, worüber zu Hause und in der Peergroup geredet wird. Unvergessen, wie in meinem ersten Dienstjahr, 2012, mitten im Unterricht ein Zehnjähriger völlig unvermittelt den Satz „Ich hasse Juden!“ von sich gab. Ich stoppte alles andere, die Stunde nahm eine deutliche Wendung. Es fehlt völlig an basalem Wissen. Eine einfache Abfrage von grundsätzlichen Vorstellungen wird in fast allen Wiener Schulklassen dasselbe Ergebnis zeigen: Die Kinder gehen selbstverständlich davon aus, dass der Islam die älteste Religion ist, die den Eingottglauben praktiziert. Auch wird unhinterfragt angenommen, dass Jesus Moslem war – klar, er gilt als islamischer Prophet. Mit der „Neuigkeit“, dass er Jude war, habe ich neulich unter Vierzehnjährigen, bei denen ich zur Vertretung war, zunächst Verwirrung gestiftet: „Wie hat er dann gebetet?“ Es gibt einen Durst nach religiös grundierter Sinnstiftung. In einer Gesellschaft, die sich zunehmend von or- Fotow: Haus der Geschichte Österreich An gar nicht wenigen Tagen bin ich überzeugt, mir den schönsten Beruf ausgesucht zu haben: Ich unterrichte an einer Wiener Mittelschule. Hier kreuzen sich die Lebenswege von Kindern, die zum Großteil in Wien geboren sind, deren Wurzeln sie aber mit dem Erbe anderer Weltregionen verbinden. Grundsätzlich ist das eine Form von Reichtum. Wenn es so einfach wäre! Es scheint, als würde dieses Potenzial sowohl Aufnahme- als auch Herkunftsgesellschaften überfordern und anstelle von Austausch eine Abkapselung ins Eigene stattfinden. Davon zeugen nicht nur die Erfahrungen mit Rassismus im Alltag, die viele Kinder in Wien machen müssen. Sowohl Erst- als auch Zweitsprache sind bei manchen seltsam gekappt, der Wortschatz ist gering, die Grammatik wird nach dem Versuch-und-Irrtum- Prinzip eingesetzt. Auch kulturelles Wissen ist oft rudimentär ausgebildet: Feste können geschildert, aber ihr Anlass nicht erklärt werden. In das hinein stößt ein Stolz, der sich auf Viertelwissen stützt. Er scheint eine Leere zu füllen, durch die Computerganisierter Religion abwendet, führt das Ausleben von religiösen Vorschriften zu Irritationen – anstatt dazu, dieser Tatsache entsprechend Nägel mit Köpfen zu machen. Das heißt zunächst, dass der lang versprochene Ethikunterricht endlich eingeführt werden muss. Dann werden alle Kinder erreicht und nicht die wenigen (und es sind wenige), die den konfessionellen Religionsunterricht besuchen; im Übrigen weiß ich von meinen Schülern, dass Antisemitismus (vor allem in Bezug auf den Holocaust) auch im islamischen Religionsunterricht thematisiert wird. Die Weltreligionen gehören aber auch zum Lehrplan im Fach Geschichte der sechsten Schulstufe – gerade in städtischen Ballungsräumen muss Lehrenden bewusst sein, dass dieses Thema Vorrang hat, wenn mythisierter Nebel aus den Köpfen gefegt werden soll. Im „echten Leben“ sind unsere Schüler gerade in den Jahren rund um den Beginn der Pubertät ansprechbar und wissbegierig. Im Idealfall passiert die erste Begegnung mit dem Judentum in diesem Rahmen des „echten Lebens“ – also nicht auf das Podest einer Besonderheit entrückt. „Von den Gaskammern wusste ich nichts“ Ein paarmal ist mir eine solche Begegnung ungeplant geglückt; einmal packte ein US-Amerikaner, den ich zum ungezwungenen Plaudern über die Geschichte der USA eingeladen hatte, beiläufig seine Kippa aus und erzählte, ab und zu trage er sie, er komme aus einer jüdischen Familie. Die Kippa wanderte von Hand zu Hand, die Kinder zeigten sich völlig unvoreingenommen. Ein paar Buben setzten sie auf; wir sprachen auch über Situationen, in denen das Tragen einer Kippa zur Gefahr wird, aber der erste Eindruck stand fest. Nämlich: Jude zu sein ist nichts Seltsames. Dass die Situation jetzt, im Jahr zwei nach dem 7. Oktober, eine andere ist, ist klar. Das sollte uns aber nicht verzagen lassen, sondern anspornen. Basiswissen ist immer gut. Was ist das Judentum, wo ist es entstanden? Welche Gemeinsamkeiten verbinden die Weltreligionen? Darüber sollte man bereits mit Zehnjährigen sprechen – nicht erst mit Vierzehnjährigen, wenn Hitler im Geschichtebuch auftaucht. Der Bub, dem ich damals auf seine unsägliche Wortmeldung einen Kurzkurs in Judentum und Holocaust erteilte, kam am nächsten Tag auf mich zu und bat mich, merklich erschüttert, um Verzeihung: „Ich hab das mit den Gaskammern nicht gewusst …“ Wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023 hat sich dieser ehemalige (übrigens muslimische) Schüler per SMS bei mir gemeldet. Unter anderem stand dieser Satz in seiner Nachricht: „Ich wollte dir sagen, dass du mir bei einigen Sachen Klarheit gegeben hast.“ Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Beruf so gerne ausübe. Die Autorin ist Mittelschullehrerin und Schriftstellerin in Wien. Lesen Sie auch dieses ausführliche Dossier über Antisemitismus und seine Folgen auf furche.at.

DIE FURCHE · 42 17. Oktober 2024 Bildung 13 Von Magdalena Schwarz Am 10. Oktober beschloss Lettland ein Handyverbot bis zur sechsten Klasse. Zumindest in der Primarstufe sind Smartphones schon vielerorts untersagt, etwa in Frankreich, Griechenland, Zypern, dem französischsprachigen Teil Belgiens, Italien, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, der Slowakei, Spanien und Ungarn. „Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass Handys im Unterricht schädlich sind. Die Schüler können sich weniger konzentrieren, und ihre Leistung leidet. Davor müssen wir sie schützen“, heißt es in einer Erklärung der niederländischen Regierung. Mit einem pauschalen Mobiltelefonverbot in Primar- und Sekundarschulen hat das Land eine der europaweit strengsten Regelungen. Auch Frankreich und Irland erwägen Verschärfungen bestehender Verbote. Versuche durch einzelne Schulen, die Handynutzung während des Unterrichts zu regulieren, sind oft nicht ausreichend. Es bräuchte eine „Kultur der Nichtakzeptanz“, erklärte die irische Bildungsministerin Norma Foley schon im August. Ein Flyer statt einer Strategie Immer mehr EU-Länder verbieten Smartphones in Schulen. Zu groß sei das Risiko, vor allem für jüngere Kinder. Aber in Österreich fehlt eine einheitliche Regelung. Handys verbannen! Nationale Verbote Testung nationaler Verbote Keine nationalen Verbote Maßnahmen werden auch hierzulande diskutiert. Kein Wunder, denn Mobiltelefone lenken Schülerinnen und Schüler vom Unterricht ab, erhöhen das Risiko von Cybermobbing, haben negative Auswirkungen auf die mentale Gesundheit und behindern den persönlichen Austausch. Die FPÖ fordert ein Handyverbot, die ÖVP will es prüfen lassen. Neos- Vertreter in Vorarlberg und Oberösterreich sprechen sich für handy freie Volksschulen aus. Doch eine Gesamtstrategie fehlt. Aktuell sollen die Schulen den Umgang mit digitalen Endgeräten in ihrer Hausordnung festschreiben. Das Resultat: Manche werben mit Digitalisierung, während sich andere ihre Rückkehr zum Analogen auf die Fahne schreiben. Im September 2024 verschickte das Bildungsministerium einen Flyer mit Empfehlungen. Darin regt es zum Beispiel eine „Handygarage“ an, also eine Box, in der die Smartphones während des Unterrichts gelagert werden. Eine Broschüre statt einer einheitlichen Vorgabe – worauf wartet die Politik? Natürlich gibt es gute Einwände gegen ein Verbot. So können digitale Endgeräte ein nützliches Unterrichtsmittel sein. Wenngleich digitale Vorreiter wie Schweden mittlerweile wieder vermehrt auf Papier und Bleistift setzen. Außerdem gehörten Smartphones zur Lebensrealität junger Menschen. Diese sollten daher Medienkompetenz erwerben, anstatt von der Technologie abgeschirmt zu werden, so das Argument. Nach dem ersten Lockdown 2020 startete die Regierung eine Schuldigitalisierungsinitiative, jedoch fehlten dieser laut aktuellem Rechnungshofbericht eine klare Zielsetzung und Wirkmessung. Wie viele der 236.039 ausgegeben Laptops und Tablets genutzt wurden – und ob sie die Medienkompetenz fördern –, sei unklar. Denn einen gesunden Umgang mit Technologien erwerben Schülerinnen und Schüler nicht en passant. Es gibt auch eine allgemeine Skepsis gegenüber Verboten. Dass staatliche Vorgaben, die in die Lebensführung eingreifen, hierzulande nicht immer beliebt sind, zeigten schon der langwierige Weg zum Nichtraucherschutz sowie der Widerstand gegen Pandemiemaßnahmen. Wie Besser offline Italien führte 2007 ein Verbot von Mobiltelefonen in Klassenzimmern ein und war damit ein Vorreiter in der EU. Die Niederlande untersagen seit 2024 Smartphones, Smartwatches und Tablets in der Primar- und der Sekundarstufe. „ Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass Handys im Unterricht schädlich sind. Davor müssen wir die Kinder schützen. “ Erklärung der niederländischen Regierung Graifk: Rainer Messerklinger bei Zigaretten und Covid-Viren scheinen viele die Gefahren von Handys zu unter- oder ihre eigene Widerstandsfähigkeit zu überschätzen. Die Frage nach der Legitimität eines Verbots ist gerechtfertigt: Gesetzgeber sollten nur dann die persönliche Autonomie einschränken, wenn es notwendig ist. Doch die Warnungen vor Smartphones sind mehr als der Technikalarmismus, der die Einführung von Fernseher oder Internet begleitete. Anders als bisherige Erfindungen sind sie dafür optimiert, abhängig zu machen. Die Stanford-Psychiaterin Anna Lembke schreibt, dass digitale Medien auf ähnliche Weise die Dopaminausschüttung kapern können wie Drogen und Alkohol. Weltweite Kursumkehr Die meisten Handyverbote betreffen Kinder zwischen sechs und zehn Jahren, die kaum in der Lage sind, sich dem digitalen Sirenengesang zu entziehen. Medienkompetenz ist zweifellos eine Schlüsselfähigkeit des 21. Jahrhunderts, was sich dringend in den Lehrplänen widerspiegeln sollte. Aber auf Aufklärung allein zu setzen, scheint naiv, haben doch sogar viele Erwachsene Schwierigkeiten, ihre Bildschirmzeit zu regulieren. Laut UNESCO schränkt bereits eines von vier Ländern weltweit die Handynutzung in Schulen ein, wie etwa Neuseeland und mehrere US-Bundesstaaten. Auch Österreich braucht dringend eine Strategie. Im besten Fall dauert der Prozess nicht wieder über 30 Jahre wie beim Nichtraucherschutz. Lesen Sie auch den Leitartikel „Handyverbot in Schulen: Die echte Reifeprüfung“ (7.5.24) von Magdalena Schwarz auf furche.at. Ihr FURCHE-Abo Als FURCHE-Leser:in schätzen Sie Journalismus mit Sinn: unterschiedliche Standpunkte und neue Perspektiven, am Menschen ausgerichtet, verantwortungsbewusst und tiefgründig. 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