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DIE FURCHE 16.03.2023

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DIE FURCHE · 11 8 International 16. März 2023 Galionsfigur Van der Plas beschreibt ihre Protestpartei „BBB“ als politisch „rechts der Mitte“ und sozial „links“. Die Bewegung wurde in den Niederlanden zum Bezugspunkt der Unzufriedenen. Von Tobias Müller * Amsterdam Am ersten März- Wochenende erschien De Telegraaf, die auflagenstärkste Zeitung der Niederlande, mit einer bemerkenswerten Titelseite: Sie zeigte Caroline van der Plas, 55, in ihrer charakteristischen offenen Lederjacke und mit kritischem Blick. Darunter stand ein Zitat der Politikerin, um die in diesem Frühjahr ein regelrechter Hype entstanden ist: „BBB nicht in Koalition mit Rutte.“ Das soll heißen: Solange der Premier an der Spitze seiner Partei VVD steht, wird die „BoerBurgerBeweging“ in Den Haag nicht mit dieser zusammenarbeiten. Die VVD ist seit zwölf Jahren die größte niederländische Partei, Rutte genauso lange Regierungschef. Die BBB dagegen existiert seit Ende 2019, nahm einmal an Parlamentswahlen teil und stellt in Den Haag genau eine Vertreterin: Caroline van der Plas. Ihre vollmundige Aussage ist ein Symbol dafür, dass einiges in Bewegung geraten ist im einst so beschaulichen Polderland. Die BBB wiederum hat in diesen turbulenten Tagen erneut eine dominante Rolle übernommen. Politische Beobachter wollen nicht ausschließen, dass bei den aktuell stattfindenden Provinzwahlen zwischen Groningen und Maastricht (es sind zwölf) – vergleichbar mit Bundesländern – die VVD vom Thron gestoßen werden könnte. Der Inbegriff von „normal“ Die niederländische BauernBürgerBewegung (BBB) – einst Sprachrohr unzufriedener Landwirte – verkörpert inzwischen den Unmut weiter Teile der Bevölkerung. Bei den Provinzwahlen will sie den großen Wurf landen. Warum Mark Ruttes Sessel stark zu wackeln beginnt. Das „platteland“ ist nicht mehr still Wie ist der Wandel erklärbar? Woher kommt ein derartiger Aufschwung für eine Partei, die vor zwei Jahren noch als exotische Interessenvertretung des agrarischen Berufsstands belächelt wurde? Caroline van der Plas zieht an ihrer Zigarette. „Bauern sind harte Arbeiter, die fest anpacken. Das gilt für viele Niederländer auch. Menschen in normalen Vierteln, normalen Dörfern, die ganz normal mit dem Wohnwagen in Urlaub wollen und das Gefühl haben, dass aus dem Elfenbeinturm über sie regiert wird. Lange hat man das aus den Augen verloren. Und die Bauern haben diesen Unmut repräsentiert.“ „ Eine Regierung tritt zurück und nach der Wahl macht die Koalition einfach weiter. Die gleichen Personen, weitab der Wirklichkeit stehend, werden Minister. “ Caroline van der Plas „Die Bauern“ und ihr Unmut, das ist seit den wochenlangen Protesten im letzten Sommer ein latentes Reizthema in den Niederlanden (vgl. auch Seite 17). Kurz gesagt geht es darum, dass Ruttes Mitte-Rechts-Regierung die Stickstoff-Emissionen bis 2030 halbieren will, um Umweltauflagen zu erfüllen und Naturgebiete zu schützen. Pläne, den Viehbestand zu halbieren und Landwirte auszukaufen, gibt es seit Jahren. Proteste Betroffener, die Enteignungen – von der Regierung als letztes Mittel angekündigt – fürchten, auch. In einer ähnlichen Stimmung entstand 2019 die BauernBürgerBewegung. Im Sommer 2022 solidarisierten sich weite Teile der Bevölkerung mit den Bauern. Ihr Symbol, die umgedrehte Flagge, tauchte an Straßen, Brücken und Laternenpfählen nahezu im ganzen Land auf. In der Provinz sieht man sie noch immer. Auf dem Weg nach Nieuw-Balinge etwa, einem 800-Einwohner-Dorf mitten in Drenthe, wohin Caroline van der Plas an diesem kalten ersten März-Samstag gekommen ist. Hier, im Nordosten unweit der deutschen Grenze, hat ihre Partei besonders gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Vor mehreren Häusern und Bauernhöfen sind Banner mit dem Wahlkampfmotto „Jeden Tag BBBesser“ gespannt. Auch eine umgedrehte Landesfahne findet sich, mit der Losung „Wählt sie ab!“ und den durchgestrichenen Logos der vier Koalitionsparteien der Rutte-Regierung. Dorfbewohner, die aufbegehren „Hätte die VVD ihre Versprechen gehalten, wäre die BBB nicht gegründet worden.“ Auf diesen Nenner bringt es Derk-Evert Waalkens, der am Beginn des Nachmittags Foto: IMAGO / ANP mit etwa 15 anderen Parteikollegen auf Van der Plas wartet. Der Treffpunkt: das Gelände eines mittelständischen Baubetriebs am Kuckucksdeich. Mehr Peripherie geht nicht. Waalkens, Mitte 50, hat die Partei in der Provinz Drenthe mit aufgebaut. Der Bauernsohn, Dozent in der Erwachsenenbildung, wählte bis vor wenigen Jahren wie seine Eltern selbst VVD. Andere hier bevorzugten die Christdemokraten, ebenfalls Teil der Den Haager Regierung und traditionell die Vertreterin der agrarischen Bevölkerung. Auch Caroline van der Plas kandidierte einst in ihrem Wohnort Deventer auf einer CDA-Liste für den Stadtrat. Waalkens’ Kommentar steht beispielhaft für den Aufschwung der BBB und die Abkehr von der etablierten Politik. „Eine Krise löst die nächste ab. Die Zuschlag-Affäre, die Erdbeben in Groningen. Eine Regierung tritt zurück, und nach der Wahl macht die gleiche Koalition einfach weiter. Die gleichen Personen, weitab der Wirklichkeit stehend, werden wieder Minister. Und alles dreht sich um die großen Städte, das Platteland ist nur ein Anhängsel.“ Nun macht sich die BBB also auf, um von dort das ganze Land zu verändern. „Die Stimme der und für die Provinz“, lautet das Motto. Warum das nicht nur Bauern anspricht? „Wir haben keinen öffentlichen Verkehr hier“, beginnt ein weibliches Mitglied aus Nieuw-Balinge. Den Verlust an Infrastruktur kennt man auch in anderen Provinz-Regionen. Die zunehmenden Krisen-Erfahrungen des weit fortgeschrittenen niederländischen Neoliberalismus, schon vor dem Ukraine-Krieg deutlich spürbar, schlagen zudem eine Brücke zur Stadtbevölkerung. Hinzu kommt, dass die Kluft zwischen Bürgern und Den Haag im niederländischen Diskurs seit gut zwei Jahrzehnten ein prägendes Leitmotiv ist. Generationen von Rechtspopulisten bauten ihre politische Karrieren darauf auf. Auch die BBB ist eine eher konservative Protestpartei, die als rechts wahrgenommen wird. „Wenn man schaut, wie wir abstimmen, liegen wir ein bisschen rechts von der Mitte. Im sozialen Bereich eher links“, so Van der Plas im Telegraaf. Beim Gespräch im Dorfhaus von Nieuw-Balinge geht es indes fast ausschließlich um soziale Themen – und um „Regeln“, die Bauern und Bürgern aus Den Haag auferlegt werden. „Die Leute erkennen sich in uns“, so begründet die Galionsfigur Van der Plas den BBB-Aufstieg. Im Hintergrund spielt allerdings mit, dass die Reputation etablierter Politik in den Niederlanden an einem Tiefpunkt angelangt ist. Im Herbst gab die Hälfte der Teilnehmer einer Umfrage an, wenig Vertrauen in Kabinett und Parlament zu haben. Die Landbevölkerung ist in dieser Gemengelage zu einem Bezugspunkt der Unzufriedenen geworden als Gegenpol zum vermeintlich abgehobenen „Den Haag“, zum „Westen“, also dem demografischen, politischen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes. Nächstes Ziel: Europawahlen Ein Hinweis darauf aus einer ganz anderen Ecke war bereits im Sommer 2021 ein Lied, das damals in fast allen Radio-Stationen ständig gespielt wurde: „Es ist still hier auf der anderen Seite/ aber hier komm ich her“, sang das Duo Suzan & Freek in einer populären Hymne an ihren peripheren Herkunftsort im Osten des Landes. Mit der Stille in der Provinz ist es nun freilich vorbei. Und wie relevant die vermeintliche Bauern-Thematik ist, zeigt sich dieser Tage in Belgien: Auch dort wächst sich das Thema Stickstoff zu einem latenten Problem aus. Die BBB will unterdessen nächstes Jahr bei den Europawahlen antreten – unter dem Namen „Farmer Citizen Movement“. Und bevor sie Drenthe wieder verlässt, merkt Caroline van der Plas noch an: „Vor zwei Jahren lachte man uns aus. Jetzt sehen sie, dass wir nicht nur ein kleines Bauern-Parteichen sind. Die anderen Parteien müssen sich bewegen, damit ihre Wähler nicht zu uns überlaufen.“

DIE FURCHE · 11 16. März 2023 Lebenskunst 9 Das Prinzip der Achtsamkeit wurde aus asiatischen Klöstern in die moderne Lebenswelt übersetzt. Ursula Baatz beleuchtet einen komplexen Kulturtransfer in gigantischem Ausmaß. Geistesgegenwart Im Buddhismus wird Achtsamkeit durch Bilder und Erzählungen vermittelt. In der Wissenschaft sucht man nach messbaren Definitionen. Von Martin Tauss Ein Mann trägt eine Schale voll Öl auf dem Kopf. Seine heikle Aufgabe: Mit dieser Schale durch eine ausgelassene Menschenmenge zu gehen, ohne auch nur einen Tropfen Öl zu verschütten. Hinter ihm geht ein Mann mit Schwert. Dieser würde ihm sofort den Kopf abschlagen, wenn er die Aufgabe nicht meistern kann. Das ist ein Gleichnis für Achtsamkeit, gefunden im Pali-Kanon, der ältesten zusammenhängenden Sammlung buddhistischer Schriften. Die Botschaft ist klar: Es geht darum, sich mit existenzieller Ernsthaftigkeit in Geistesgegenwart zu üben. Andere traditionelle Gleichnisse zielen auf die Sorgfalt und die nötige Unterscheidung zwischen ethisch heilsamen und unheilsamen Geisteszuständen: So wie wenn ein Chirurg mit einer Sonde eine Wunde untersucht; wenn ein Bauer den Boden pflügt, um die Saat vorzubereiten; oder wenn ein Wächter am Stadttor den unliebsamen Gästen den Zutritt verwehrt. Diese Gleichnisse spiegeln die Lebenswelt im Gangesbecken während der Eisenzeit wider – als die ersten Städte erblühten und wandernde Asketen wie der Buddha ihre spirituellen Lehren verbreiteten. Worauf es dabei ankommt, wurde zunächst mündlich in einer Reihe von leicht zu merkenden Bildern und Erzählungen weitergegeben. Modernisierter Buddhismus Zurück in die Gegenwart: Das Prinzip der Achtsamkeit ist wissenschaftlich evaluiert und therapeutisch hilfreich. Anstatt sich wie im alten Indien in die Einsamkeit zurückziehen, üben viele Menschen mitten im hektischen Alltag. Meditations-Apps verzeichnen Millionen von Nutzern und Nutzerinnen. Und „Achtsamkeit“ ist zum beliebten Schlagwort geworden; eine weltweit bekannte Ware, vermarktet von einer Milliarden-Dollar-Industrie. Sie ist eingekehrt in Schulen und Wellness-Zentren, in Banken und Manager-Seminare, in Büroetagen und Einfamilienhäuser. Und an diesem Boom scheiden sich längst die Geister: Manche sehen in Mindfulness die geistige Ressource eines tiefen sozialen Wandels; anderen hingegen gilt sie als perfide kapitalistische Machttechnik, als Kontrollinstrument einer neoliberalen „Psychopolitik“ (Byung-Chul Han). Führt man sich vor Augen, wie Achtsamkeitspraktiken aus asiatischen Klöstern für die modernen Lebensbedingungen in den westlichen Industriestaaten Jedem seine Glocke übersetzt und angepasst wurden, sieht man einen komplexen Kulturtransfer in atemberaubendem Ausmaß – der wohl noch nicht abgeschlossen ist. Wer wissen will, wie dieser Aneignungsprozess verlaufen ist, ist mit dem neuen Buch von Ursula Baatz gut beraten. In „Achtsamkeit: Der Boom“ (2023) beschreibt die Wiener Philosophin den langen Weg einer kulturellen Dynamik, die in dieser Vielschichtigkeit noch kaum ausgeleuchtet wurde. Achtsamkeit sei wie ein Mikroskop, mit dem ein „reines Beobachten“ der geistigen Prozesse möglich wird – so wie wenn die mentalen Objekte „gesäubert, isoliert und unter der Linse festgehalten werden“. Das schreibt der buddhistische Mönch Nyanaponika 1952 in einem Klassiker der Meditationsliteratur. Es sind keine lebensweltlichen Bezüge einer Agrargesellschaft, sondern die Metaphern eines naturwissenschaftlichen Diskurses, die hier herangezogen werden, um das „Geistestraining durch Achtsamkeit“ (so der Titel des Buches) zu kennzeichnen. Und das ist kein Zufall, wie Baatz zeigt: Denn die meditative Praxis wird da bereits anhand von moderner Psychologie vermittelt – auch innerhalb des Buddhismus. Schließlich hatte der antikoloniale Kampf in Myanmar und anderen Ländern Südostasiens dazu geführt, die dort verankerten buddhistischen Traditionen in zeitgemäßer Form wiederzubeleben. In der Konfrontation mit den Kolonialmächten sollte so die eigene kulturelle Identität gestärkt werden. Hippies auf Morgenlandfahrt Die Ansicht, dass die buddhistische Lehre mit der Naturwissenschaft kompatibel sei und somit ohne weiteres zum modernen Weltbild einer technisch fortschrittlichen Gesellschaft passe, ist auf dieses historische Momentum seit dem späten 19. Jahrhundert zurückzuführen. Aus dieser Strömung erwachsen Bemühungen, die buddhistische Meditation möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Das ist der Ursprung der Vipassana-Bewegung, die später mit weltweit bekannten Lehrern wie S. N. Goenka auch zahlreiche „Westler“ (zum Beispiel den israelischen Historiker Yuval Noah Harari) in ihren Bann ziehen wird. Der Funke springt über, als sich die Hippies seit den 1960er-Jahren auf eine „Morgenlandfahrt“ begeben und dann wesentlich zum Import buddhistischer Lehren in den Westen beitragen. Aus dieser Generation stammt auch der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn, dem 1979 auf einem Meditationsretreat eine folgenschwere Vision vor dem inneren Auge erscheint: Er sieht, wie sich die Achtsamkeitspraxis in Spitälern, Praxen und wissenschaftlichen Einrichtungen auszubreiten beginnt. Tatsächlich entwickelt er schon bald sein Programm zur „Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion“ (MBSR) – die Initialzündung für unzählige „ Manche sehen in der Achtsamkeit die geistige Ressource eines sozialen Wandels; anderen gilt sie als perfide Machttechnik. “ Foto: iStock / marie martin „Das ‚Nicht- Selbst‘ ergründen“ (14.6.2019): Über Meditation im Werk von Yuval Noah Harari siehe furche.at. therapeutische Verfahren, denen das meditative Prinzip der Geistesgegenwart zugrunde liegt. Doch der aktuelle Hype um Mindfulness ist ohne die innere Entwicklung der westlichen Gesellschaften nicht denkbar, argumentiert Ursula Baatz: Die steile Karriere von Achtsamkeitsübungen stehe in direktem Zusammenhang mit der Zunahme von Stress und Burnout. Das „ökonomisch motivierte Interesse an Leistungssteigerung und zugleich ein Bedürfnis nach Erholung von psychosozialem Druck“ zählen u. a. zu den „Hauptvektoren des Achtsamkeitsbooms“. Und dieser hat mittlerweile so unterschiedliche Zugänge, Definitionen und Zielsetzungen hervorgebracht, dass man eigentlich gar nicht mehr von einem übergreifenden Konzept sprechen kann. Militärische Aneignung Moderne Biotope der Achtsamkeit reichen von der Spiritualität über Arbeit, Freizeit und Lifestyle bis hin zur Finanz- und Wirtschaftswelt. Am äußersten Ende des Spektrums stehen militärische Zwecke, so Baatz: Dort geht es nicht um einen „bewussteren, humaneren Umgang mit Emotionen und Vor-Urteilen“, sondern darum, Gefühle und Gedanken eiskalt auszublenden. Das aber behindere jede Praxis, die sich an menschlichem Wachstum, an einer „Erfahrung der Verbundenheit und Verletzbarkeit des Lebens“ orientiert. Ursula Baatz ist selbst Achtsamkeitslehrerin und Zen-Praktizierende, doch in ihrem Buch wahrt sie stets die kritische Distanz. Es gelingt ihr, die ganzen Ambivalenzen differenziert darzulegen, die heute mit dem Begriff verbunden sind. Denn es gibt Formen der „Achtsamkeit“, die mehr oder weniger von industriell-militärischen Interessen vereinnahmt wurden. Insofern hat das Buch eine ganz praktische Absicht – als Hilfestellung für die „Unterscheidung der Geister“. Achtsamkeit: Der Boom Hintergründe, Perspektiven, Praktiken Von Ursula Baatz Vandenhoeck & Ruprecht 2023 176 S., kart., € 26,–

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