DIE FURCHE · 11 20 Musik 16. März 2023 Die Wiener Staatsoper setzt ihren Da-Ponte-Zyklus von Mozart mit „Le nozze di Figaro“ fort. Wiederum mit Barrie Kosky als Regisseur und Philippe Jordan am Pult. Große Stimmen bitte! Wie es mit der Ehe von Graf Almaviva (Andrè Schuen) und seiner Frau (Hanna-Elisabeth Müller) weitergehen wird, bleibt in dieser Inszenierung des „Figaro“ offen. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn Von Walter Dobner Hauptsache, für den Kopf zahlt es sich aus. Zwei Drittel der neuen Da- Ponte-Trilogie von Wolfgang A. Mozart an der Wiener Staatsoper sind geschafft. Das letzte Drittel folgt in der kommenden Saison: „Così fan tutte“. In diesem „Figaro“ lässt Barrie Kosky das Geschehen in einer Puppenbühne ablaufen und kreiert damit eine konzentrierte Kammerspielatmosphäre. Das kommt auch einigen der Stimmen zugute. Deren Volumen würde kaum ausreichen, um den gesamten Bühnenraum unangestrengt zu füllen. Raum und Zeit nennt der Regisseur als für ihn wesentliche Parameter dieser Mozart-Oper. Das ließe sich freilich grundsätzlich über jedes Theater sagen. Mit dem Anfangsbild – eine hoch aufragende weiße Wand mit Türen und unerwarteten Klappsitzen –, das am Ende wiederkehrt, steckt er gewissermaßen den Rahmen für die in 24 Stunden ablaufende Handlung ab, macht damit aber gleichzeitig deutlich, dass anschließend ein neuer toller Tag beginnen kann. Sonst läuft die Inszenierung in einer von barockem Ambiente inspirierten Szenerie ab (Bühnenarchitektur: Rufus Didwiszus). Darin tummeln sich die Darsteller betont quirlig in stilistisch von den 1970er Jahren inspirierten, manchmal übertrieben elegant ausgefallenen Kostümen (Victoria Behr). Auf so manche plakative Übergriffe hätte man getrost verzichten können. Spielt der Schlussakt in einem Schlosspark oder doch auf dem Dachgarten eines Palais? Jedenfalls tauchen die einzelnen Personen unvermutet aus Luken auf, was dem Geschehen eine fast skurrile Komödiantik verleiht. Wie es mit der Ehe der Gräfin, von der man auch im Schlussbild mehr Präsenz erwartet hätte, weitergehen wird? Das lässt diese Inszenierung offen, wie man es zugegebenermaßen auch von vielen anderen szenischen Deutungen dieses Mozart-Stücks mehrfach kennt. Die Stimmigkeit von Koskys Lesart, die im Wesentlichen mit den heute üblichen Überzeichnungen das Geschehen reflektiert wiedergibt, mindert das aber nicht. „ In diesem ‚Figaro‘ lässt Barrie Kosky das Geschehen in einer Puppenbühne ablaufen und kreiert damit eine konzentrierte Kammerspielatmosphäre. “ Vielen Dank für Ihren Abo-Beitrag! Gründliche Recherche kostet Zeit – und Geld. Mit professionell recherchierten Hintergründen und kritischen Artikeln ist qualitativer Journalismus eine wichtige Basis für die Meinungsvielfalt in unserer Demokratie. dubistwasduliest.at DU BIST, WAS DU LIEST. Gleich dem in der Corona-Zeit realisierten „Don Giovanni“ blieben auch bei diesem „Figaro“ die sängerischen Leistungen unter den Erwartungen. Andrè Schuens wenig aristokratischem, kurz stillos mit Hacke erscheinendem Almaviva und dem hyperaktiven Figaro von Peter Kellner fehlte es mitunter an Tiefenschärfe. Hanna-Elisabeth Müllers Gräfin mangelte es insgesamt an selbstverständlicher Grandezza und vokaler Strahlkraft. Auch Patricia Nolzʼ Cherubino hätte mehr Phrasierungseleganz und Charme verstrahlen dürfen. Solide die übrigen Comprimarii. Was es heißt, eine Rolle wirklich mit Leben zu erfüllen, zeigte Wolfgang Bankl als spielfreudiger Antonio. Fast wäre diese Premiere nicht zustande gekommen. Wegen plötzlicher Stimmbandbeschwerden konnte Ying Fang, die am Haus am Ring debütieren hätte sollen, die Susanna nicht singen, blieb der Produktion aber als Darstellerin erhalten. Maria Nazarova sang ihren Part aus dem Orchestergraben. Dafür gab es ebenso viel Beifall wie für die übrigen Protagonisten, das exzellent aufspielende Orchester und den gut studierten Chor. Sie alle führte Philippe Jordan mit flüssigen, klug aufeinander abgestimmten Tempi musikantisch-elanvoll durch die Partitur. Le nozze di Figaro Wiener Staatsoper, 17., 19., 23., 26.3.
DIE FURCHE · 11 16. März 2023 Film 21 SPIELFILM SPIELFILM Klamauk statt beißender Satire Idyllischer kann der Ort gar nicht sein, den sich Investmentbankerin Linda (Lavinia Wilson) für ein corporate retreat mit ihren Bankerkollegen ausgesucht hat. Der Landsitz von Lord und Lady McIntosh liegt in den schottischen Highlands und bildet den pittoresken Schauplatz von Lutz Heinekings gut gemeinter Komödie „Der Pfau“. Der Grund für die Zusammenkunft: Ein Compliance-Verfahren steht bevor, die Bank soll fusioniert werden. Da die Jahresbilanz negativ ausfiel, ist die Atmosphäre unter den Teammitgliedern (u. a. Tom Schilling, Jürgen Vogel, David Kross) angespannt. Selbst Chefin Linda muss befürchten, vom neuen Arbeitgeber abserviert zu werden. Als ein wild gewordener Pfau – das Lieblingstier von Lord McIntosh – als Tierkadaver auftaucht, gibt das Anlass für alle möglichen komödiantischen Verwicklungen. „Der Pfau“ basiert auf dem 2016 erschienen Bestseller von Isabel Bogdan und hat definitiv das Potenzial für eine beißende Satire auf den Optimierungswahn der neoliberalen Finanzwelt. Nur schade, dass der platte Humor und die unbeholfene Erzählweise kein kohärentes Bild ergeben. Der Film folgt der Struktur eines Whodunit, bloß dass diesmal ein toter Pfau Grund für zahlreiche Verdächtigungen gibt. Wo Rian Johnsons „Knives-Out“-Filme jüngst vorgeführt haben, wie sich das Genre für treffende Gegenwartsdiagnosen nutzen lässt, bleibt „Der Pfau“ an der Oberfläche dümmlichen Klamauks. (Philip Waldner ) Der Pfau D/B 2023. Regie: Lutz Heineking. Mit Lavinia Wilson, Tom Schilling, Annette Frier, Jürgen Vogel. Tobis. 106 Min. Investmentbankerin Linda versammelt Kolle g(inn)en zum „corporate retreat“. Hirokazu Kore-eda verschlägt es in „Broker“ nach Südkorea und zum Babyhandel. Ein weiteres Meisterwerk des japanischen Starregisseurs. Diese Sippschaft Otto Friedrich Er ist einer der Fixsterne an Japans aktuellem Filmhimmel – und ging zuletzt „fremd“: Nach seinem größten Erfolg „Shoplifters“ (2018, Goldene Palme in Cannes) versuchte es Regisseur Hirokazu Kore-eda in Frankreich mit „La Vérité – Leben und lügen lassen“, mit dem er 2019 in Venedig reüssierte und ein Ensemble rund um Catherine Deneuve, Juliette Binoche und Ethan Hawke versammelte. Nun kommt der erste auf Koreanisch gedrehte Film Kore-edas (nach der Viennale-Premiere) hierzulande ins Kino. Und auch in „Broker – Familie gesucht“ bedient sich der japanische Filmemacher an den Größen des lokalen, also südkoreanischen Kinos – so gibt es ein Wiedersehen mit Song Kang-ho, der ja seit seinem Oscar-Durchmarsch 2020 auch im Weltkino in aller Munde ist. Song spielt in „Broker“ die männliche Hauptrolle, den zwielichtigen Babyhändler Sang-hyun, der verlassene Kleinkinder an kinderlose Begüterte „vermittelt“ – um einen Batzen Geld natürlich. Aber der Reihe nach. Unabhängig vom Lokalkolorit Die junge Mutter So-young (Lee Ji-eun) lässt ihr Neugeborenes in einer Babyklappe einer Mega kirche in Seoul zurück. An diesem Abend tun Song und sein „Geschäfts“-Partner Dong-soo (Dong-won Gang) Dienst in der Kirche – und nehmen den kleinen Woo-Song (den Namen hat die „ Road Trip, ostasiatische (und nicht nur diese Weltgegend betreffende) Gesellschaftsdiagnose, Tragikomö die – all diese Attribute kommen Kore-edas ,Broker‘ zu. “ Liebe Familie Auch wenn man mehr durch Umstände als durch Blutsbande zusammenkommt: Eine traute Gemeinschaft entsteht allemal (re.: Song Kang-ho als Familienoberhaupt Sang-hyun). Mutter auf einem Zettel hinterlassen) mit, auf dass sie ihn an Adoptionswillige verscherbeln können. Allerdings kehrt Mutter So-young zurück, sucht ihr Kind und kommt den beiden Babyhändlern auf die Schliche. Die nehmen die junge Frau in ihre Familie auf, mit der sie nun durch Südkorea auf der Suche nach „Eltern“ für Woo- Song tingeln. Allerdings ahnt die kriminelle Sippschaft nicht, dass ihnen zwei Detektivinnen auf der Spur sind. Und So-young ist überdies offenbar in ein Tötungsdelikt verwickelt. Aber in all den Irrungen und Wirrungen bemerken die ungleichen Beteiligten auf dieser absurden Fahrt durch die Lande, wie glücklich man und frau in einer Familie sein könn(t)en. Road Trip, ostasiatische (und nicht nur diese Weltgegend betreffende) Gesellschaftsdiagnose, Tragikomö die – all diese Attribute kommen Koreedas „Broker“ zu. Einmal mehr eine Filmerzählung der Sonderklasse und gleichzeitig ein Aufweis, dass der japanische Regisseur zwischenmenschliche Fragen unabhängig vom Lokalkolorit (in dem er diese natürlich ansiedelt) stellen kann – Seoul, Paris, Tokio ticken diesbezüglich gleicher als man vermuten würde. Und Song Kang-ho, der Star des in sich stimmigen Ensembles, wurde in Cannes 2022 als Bester Darsteller ausgezeichnet. Broker – Familie gesucht (Beurokeo) Kor 2022. Regie: Hirokazu Kore-eda. Mit Song Kang-ho, Dong-won Gang, Lee Ji-eun. Filmladen. 129 Min. Youssef–Mina–Halim: eine Dreiecksgeschichte, die eigentlich verboten ist. Unterdrückte Gefühle Seit vielen Jahren ist der Kaftan-Schneider Halim (Saleh Bakri) mit Mina (Lubna Azabal) verheiratet. Ihre tiefe Liebe ist spürbar, doch körperlichen Kontakt gibt es kaum, denn Halim ist, wie auch Mina weiß, homosexuell. Nur heimlich kann er aber in Marokko, wo Homosexualität verboten ist und mit Haft bestraft werden kann, sein Verlangen in der Einzelkabine des Hamam ausleben. Bewegung kommt in die Ehe, als das Paar aufgrund einer Erkrankung Minas einen Lehrling einstellt. Reagiert sie zunächst eifersüchtig auf diesen Youssef (Ayoub Missioui), der das Begehren Halims weckt, so wird sie zunehmend sanfter, als sich ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert. Mit größtem Feingefühl erzählt die Marokkanerin Maryam Touzani von dieser ungewöhnlichen Dreiecksbeziehung. Konzentriert auf ihre drei Protagonisten und die in der Altstadt der Küstenstadt Salé gelegene Schneiderei und Wohnung des Paars, entwickelt sie ein leises, aber dichtes Drama über gesellschaftliche Zwänge, unterdrückte Gefühle und langsame Öffnung. Große Sinnlichkeit entwickelt der von einem herausragenden Schauspieler-Trio getragene Film dabei durch die Kameraarbeit von Virginie Surdej. Sie vermittelt durch den geduldigen Blick die Schönheit der Stoffe, Stickereien und Goldfäden ebenso intensiv wie die Sehnsüchte und das Begehren, das Berührungen oder ein nackter Oberkörper auslösen können. (Walter Gasperi) Das Blau des Kaftans (Le Bleu du Caftan) F/M/B/DK 2022. Regie: Maryam Touzani. Mit Lubna Azabal, Saleh Bakri, Ayoub Missioui. Panda Film. 118 Min. DOKUMENTARFILM Wenn sie uns machen ließen ... Es gibt nicht nur die eine Normalität, schon gar nicht im Film. Evelyne Faye zeigt in der ersten Hälfte ihres Dokumentarfilms „Lass mich fliegen“ fast ausschließlich Menschen mit Down-Syndrom. Sie führen ihr Dasein, genießen den Sommer, verfolgen Interessen. Prägen in dieser filmischen Welt die Norm. Unterbrochen wird sie erst, als neben ihnen auch andere ins Bild kommen und die Hindernisse angesprochen werden, die ihnen die Mehrheit der Bevölkerung bei der Lebensgestaltung auch heute noch aufbaut. Sei es die Chance auf einen Job – Opernliebhaberin Andrea etwa berichtet über ihre Tätigkeit als Betreuungsassistentin in der Altenpflege, ehrenamtlich, immer wieder. Sie müsse sich damit abfinden, arbeitslos zu sein, meint die Deutsche, die regelmäßig Vorträge über ihre Erfahrungen hält. Aber auch bei Liebe, Ehe und Kinderwunsch greift die Gesellschaft ein: Erst vor kurzem wurden in Österreich die Sachwalterschaften durch ein bezeichnenderweise Erwachsenen-Schutz-Gesetz benanntes Regulativ ersetzt. Engagieren will sich in diesem Bereich Magdalena, die als Kund(inn)en- rätin beim Fonds Soziales Wien kandidiert und Gleichstellung fordert. Die aber schon bei der Geburt beginnen sollte: „Du bist keine Diagnose“, richtet die Filmemacherin selbst das Wort an ihre Tochter Emma Lou, die ebenfalls Trisomie 21 hat. Aus ihrer eigenen Erfahrung machte Faye bereits 2014 das Kinderbuch für Erwachsene „DU BIST DA – und du bist wunderschön“, dem eine App folgte. In „Lass mich fliegen“ erweitert sie den Blick auf die möglichst selbstbestimmte Zukunft, die sie ihrer Tochter wünscht. Auch wenn die dokumentarischen An- „Du bist keine Diagnose“: Evelyne Faye plädiert in ihrem Film für neues Miteinander mit Trisomie 21-Betroffenen. sätze dieses Regiedebüts eher konventionell sind, findet Faye starke Protagonistinnen und Protagonisten, die eine lebensfrohe Grundlage für ihr Inklusionsplädoyer liefern. Schon allein, als sie von ihnen wissen will, was sie sehen, wenn sie in den Spiegel schauen. Evelyne Fayes Antworten darauf sind vielleicht normaler – und positiver – als jene, wenn wir uns selbst mit dieser Frage vor einen Spiegel stellen. (Thomas Taborsky) Lass mich fliegen A 2023. Regie: Evelyne Faye. Polyfilm. 80 Min.
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