11 · 16. März 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Achtsamkeit: Jedem seine Glocke Wie das Prinzip Achtsamkeit aus asiatischen Klöstern für das „industrialisierte Bewusstsein“ übersetzt wurde. · Seite 9 Ukrainischer Botschafter: „Einen Plan B? Den gibt es nicht.“ Die russische Gesellschaft sei besessen vom neo-imperalistischen Gedankengut, sagt Vasyl Khymynets. Ein Gespräch über Friedensdebatten, Trugschlüsse und ein mögliches Ende Putins. · Seite 5 Lauffeuer der Proteste Ein großes Panoptikum an Protest bewegungen in Niederösterreich in den letzten 175 Jahren zeigt die Schau „Aufsässiges Land“. · Seite 17 Das Thema der Woche Seiten 2–4 Die Diagonale, das österreichische Filmfest in Graz, öffnet ihre Pforten. Einmal mehr will sie Film, Kunst und Gesellschaft miteinander ins Gespräch bringen. Film in Foto Cover: Elsa Okazaki; Foto Khymynets: Carolina Frank Dialog Während der Kanzler mit einer Retro-Rede zur „Zukunft der Nation“ irritierte, kämpft die SPÖ nun offen über ihre Richtung. Beiden fehlen vorerst die große Erzählung – zur Freude der FPÖ. Die rechten Visionen Von Doris Helmberger Man kennt den Satz. Aber nicht alle kennen seine verworrene Geschichte. „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt“, soll der einstige SPÖ-Kanzler Franz Vranitzky im Frühling 1988 beim SPÖ-Parteitag im Wiener Konzerthaus gesagt haben. Dass dieses Bonmot dem Ex-Banker nie im Wortlaut über die Lippen gekommen ist, sondern vorerst nur eine Pointe im Profil-Bericht von Hubertus Czernin war, erfuhr man erst später. Doch es passte einfach zu gut zum pragmatischen „Nadelstreif-Kanzler“, der vielen das Erbe Kreiskys zu verraten schien. Heute weiß man um die Kraft und Macht von politischen Visionen – auch wenn man mittlerweile lieber von „Erzählungen“ oder „Narrativen“ spricht. So wichtig Pragmatismus, Kompromissfähigkeit und taktisches Geschick in der politischen Alltagsarbeit sind, so zentral ist es, medial als jemand rezipiert zu werden, der eine konkrete Vorstellung davon hat, wie sich dieses Land entwickeln soll. Sebastian Kurz konnte den Menschen dieses Gefühl in beeindruckender Weise vermitteln – und damit Wahlen gewinnen. Mit welcher politischen (Un-)Kultur das „ Was ist eine Zukunftsvision wert, die sich über die Ängste der Jungen und das Prinzip Verantwortung hinwegsetzt? “ einherging und wie wenig Substanzielles tatsächlich erreicht wurde, zeigte sich erst retrospektiv. Karl Nehammer, bislang vor allem als „Krisenkanzler“ gefordert, versuchte die visionäre Leerstelle nun mit einer „Rede zur Zukunft der Nation“ zu füllen. Was blieb, war freilich vor allem Irritation. Sie betraf nicht nur die Grundsatzfrage, ob sich hier der Kanzler oder der ÖVP-Chef an „die Nation“ gewandt hatte (es war der Parteichef); bzw. ob das Umwerben freiheitlicher Wähler nur der bevorstehenden Landtagswahl in Salzburg geschuldet war oder schon eine Vorentscheidung in Richtung 2024 darstellte. „Untergangsirrsinnige“ Wissenschaft? Noch grundlegender war die Irritation darüber, wie sehr hier ein bürgerlicher Regierungschef – bei aller legitimer Betonung von Leistungsbereitschaft, Eigentum und Bildung – bereit war, „das größte Problem, das auf uns zukommt“ (Copyright: Christoph Badelt), nämlich die längst spürbare Klimakrise, in seiner Dringlichkeit als „Untergangsirrsinn“ zu relativieren. Man mag über die Methoden junger „Klimakleber“ geteilter Meinung sein – aber dass ih- re Sorgen wissenschaftlich begründet sind, ist unbestritten. Was aber ist eine Zukunftsvision wert, die zwar nach der Pandemie das Gemeinsame einmahnt, sich aber über die Sorgen und Ängste der Jungen, die plausiblen Szenarien der Wissenschaft und nicht zuletzt das Prinzip Verantwortung hinwegsetzt? Auch und gerade für Visionen gilt das Wort von Walter Scheel: „Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, das Populäre zu tun. Seine Aufgabe ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen.“ Was das für die SPÖ bedeutet, deren öffentlicher Selbstzerfleischungsprozess mit der überraschenden Ankündigung von Hans Peter Doskozil für den Parteivorsitz eine neue Stufe erreicht hat, ist noch nicht abzusehen. Pamela Rendi-Wagner hat ihre Vision – vom Sozialbereich bis zur ewig ungeklärten Migrationsfrage – bislang nicht plausibel zu transportieren vermocht; für welche Zukunft ihr Konkurrent steht, ist einstweilen im Burgenland zu besichtigen: u. a. mit einer Staatswirtschaft, die zwar Tatkraft signalisiert, aber auch verbrannte Erde hinterlässt (vgl. „Zugespitzt“, S. 15). Wer sich letztlich in der Sozialdemokratie durchsetzt, ob der oder die an der SPÖ- Spitze eine „große Erzählung“ formulieren kann und ob das große Narrativ der ÖVP sich doch noch mit der Zukunft und Wissenschaft versöhnen lässt, ist noch nicht absehbar. Zu wünschen wäre jedenfalls, dass zwei glaubhafte visionäre Angebote zur Auswahl stünden. Sonst profitiert – so lehrt es die Geschichte – nur die FPÖ. doris.helmberger@furche.at @DorisHelmberger INTRO Fühlen Sie sich derzeit im falschen Film? Dann sollten Sie in den richtigen gehen. Die Diagonale, das von 21. bis 26. März in Graz stattfindende Festival österreichischer Filmkunst, bietet ein breites Angebot an Auseinandersetzungen mit den großen (polarisierenden) Fragen der Zeit. Otto Friedrich hat dazu den aktuellen Fokus „Film in Dialog“ gestaltet. Um den Krieg, das Ende jedes Dialogs und oft auch jeder Humanität, geht es im Journal: Brigitte Quint hat mit dem ukrainischen Botschafter Vasyl Khymynets gesprochen – und Markus Schauta analysiert die Lage im Irak 20 Jahre nach der US-Invasion. Wie sich ländlicher Unmut gegen „die da oben“ richten kann, illustriert Tobias Müller anhand der niederländischen BauernBürgerBewegung – und Christian Jostmann im Feuilleton anhand eines Essays über die Ausstellung „Aufsässiges Land“ in St. Pölten. Achtsamkeit bietet derweil der Kompass, ebenso wie Beiträge über die innerevangelische „Leuenberger Konkordie“, über KI-produzierte Bilder fiktiver Menschen und über eine prämenstruelle Störung, die viele Frauen schwer belastet. Die Literatur wartet schließlich mit Percival Everetts exzeptionellem Roman „Die Bäume“ auf – und das Wissen mit dem Ende des Permafrosts. Diesem „Film“ sollte man sich stellen – bevor es endgültig zu spät ist. (dh) furche.at Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0
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