DIE FURCHE · 7 4 Das Thema der Woche Was macht uns aus? 16. Februar 2023 Von Manuela Tomic Die sechste Klasse des Laaerberg Gymnasiums in Wien Favoriten wurde in der vergangenen Woche zum politischen Spielball. Während einer Puls- 4-Sendung hatte der niederösterreichische Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ) der Klasse mit Migrationshintergrund beschieden, dass „Wien noch Wien“ wäre, wenn man die Asylpolitik der FPÖ umgesetzt hätte und die Schüler nicht hier wären. Die Aussage des Politikers sorgte für große Entrüstung. Einige hundert Menschen versammelten sich daraufhin am Reumannplatz in Favoriten zur „Solidaritätskundgebung für Vielfalt und Zusammenhalt“, um gegen die Asylpolitik-Aussage von Waldhäusl zu protestieren. Das Motto: „Wien sind wir alle.“ Der Waldhäusl-Sager regte vor allem deshalb auf, weil er die Schulklasse – in klassisch rassistischer Manier – als Fremdgruppe definiert, die sich von der eigenen Gruppe, den „echten“ bio-österreichischen Wienerinnen und Wienern, angeblich fundamental unterscheide. Und genau dieses othering legitimiert Ungleichbehandlung und kreiert ein vermeintliches Kollektiv, das auf Unterdrückung basiert. Der Versuch der scharfen Abgrenzung zweier Gruppen wird jedoch durch unscharfe Biografien zunichte gemacht. Wann ist ein zugezogener Kärntner, Vorarlberger oder Salzburger ein echter Wiener? Waldhäusl, der das „Wienerische“ für sich proklamiert, ist selbst Niederösterreicher. Mit der Frage, was ein gutes Kollektiv ausmacht, hat sich bereits 1950 der deutsche Psychiater und Philosoph Karl Jaspers beschäftigt. Sein Vortrag „Das Kollektiv und der Einzelne“ liefert gute Erklärungen, warum sich Gemeinschaften spalten lassen und was man antidemokratischen Unterwerfungsphantasien entgegnet. Jeder Einzelne ist gefragt Gerade in der Massengesellschaft, wie Jaspers attestierte, kommt der Einzelne zu kurz. Dabei brauchen wir das Kollektiv, um Mensch zu werden. Denn der Mensch „wächst nicht, wie alle Tiere, durch die biologischen Erbsubstanzen von selbst [...], sondern durch die Erziehung in geschichtlichem Wandel“. Schon in der Lehre des Konfuzius heißt es, dass das menschliche Leben eine ständige Wiederherstellung des ewig Gleichen ist. Mit den Folgen der Technik, schreibt Jaspers, stehe die Gemeinschaft – und damit das menschliche Leben – nun aber in neuer Gestalt da. „Die Gemeinschaft, die früher in eins sich bewegte, ist gespalten. Diese Spaltung ist unter dem Namen des Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft bewußt geworden“, schreibt der Philosoph. Während Brauchtum, Geschichte und Gebräuche, al- Collage: Rainer Messerklinger (unter Verwendung von Bildern von iStock: GeorgiosArt, FooTToo, Yummy pic, Firn sowie DieterMeyrl) Wie es Migrant(inn)en in Europa geht, können Sie in der Podcast-Folge „Vor Grenzen habe ich immer Angst“ nachhören: furche.at. Der Waldhäusl-Sager, Wien wäre ohne Ausländer „noch Wien“, sorgte für Empörung. Aber ein Kollektiv kann auch anders gedacht werden: mit Respekt für Minderheiten und ohne antidemokratische Unterwerfungsphantasien. Das gute Kollektiv so vieles, das die Identität ausmacht, durch die Familie und die Gemeinschaft überliefert werden, gehe die technische Massengesellschaft im Augenblick auf, sei vergangenheitslos, wiederholbar und restlos geplant. Diese Massengesellschaft ist zudem identitätslos, da sie den Einzelnen ersetzen könne, ohne sich zu ändern. Von jeher sei sie da gewesen, schreibt Jaspers, die Spannung von traditionellem Wiederholen und rationalem Verändern, „von im technischen Sinne gedankenlosem Sichfügen und von planmäßigem verbesserndem Denken“. Nicht zuletzt hat das auch die Corona-Pandemie gezeigt. Noch nie gab es so rasch nach dem Ausbruch eines neuen Virus eine Impfung, und selten sind wir in jüngsten Debatten auf so viel Mythen und Rückbesinnungen zu „natürlichen“ Heilmitteln gestoßen. Diese Polarität gehöre als Ganzes zum Menschen, schreibt Jaspers. Wenn eine Seite überwiege, bedeute das auch für diese einen Mangel. Denn fester Bestandteil unserer gemeinschaftlichen Identität ist auch die Sehnsucht nach Nächste Woche im Fokus: „ Gerade in der Massengesellschaft, wie der Philosoph Karl Jaspers bereits 1950 attestierte, kommt der Einzelne zu kurz. Dabei brauchen wir das Kollektiv, um Mensch zu werden. “ Transzendenz. Ein gutes Kollektiv besteht also sowohl aus dieser substanziellen Gemeinschaft als auch aus der technischen Gesellschaft. Nun bestehe aber die Gefahr, dass der Mensch in diesem technischen Kollektiv verschwindet. Von dem reichen, lebendigen Kollektiv, in dem der Mensch sich selber fand, sei nur noch der Betrieb geblieben. Dieses Sinnesvakuum ist essenziell, um die heutige Spaltung zu verstehen. Menschen flüchten in alternative Welten, weil sie im technischen Kollektiv versinken. Die Ohnmacht führt zur Sinnsuche. Diese kann wiederum gefährlich werden. Parteien am rechten Rand, Verschwörungstheoretiker und viele mehr möchten die Sinneslücke füllen. Dabei stellen sie eine vermeintliche kollektive Gemeinschaft her, die, im Falle Waldhäusls, auf rassistischen Machtstrukturen beruht. Solche Mythen, etwa vom „bösen Ausländer“, verwässern die Realität und sind falsch, weil sie das verhindern, worauf es für die Verwirklichung des Menschen und eines guten Kollektivs ankommt, so Jaspers: das klare Denken, die vernünftige Prüfung, den verantwortlichen Weg in die Zukunft. Zur Demokratie gehört die Achtung von Minderheiten. Daher ist jeder Einzelne in der heutigen Zeit mehr denn je gefragt. Von ihm oder ihr könne die Neubildung einer „durchseelten“ Gemeinschaft ausgehen. Denn, so Jaspers, „in allem Ruin bleibt die Möglichkeit des Menschen selbst“. »Über Gefahren und Chancen der Freiheit« und »Das Kollektiv und der Einzelne« Zwei Essays von Karl Jaspers, Reclam 2021 71 S., kart., € 6,20 Am 24. Februar 2022 marschierten russische Truppen in die Ukraine ein und brachen damit Völkerrecht. Seither herrscht ein blutiger Krieg, dessen Ende immer weniger abzusehen ist. Ein Schwerpunkt zum Jahrestag der Invasion und der Frage, wie Putins Angriff die Welt verändert hat. Die Antike im Griff der Identitätspolitik Die Antike gilt als identitätsstiftende Wiege Europas. Doch sie ist längst im Griff der Identitätspolitik. Und dabei spielt Dan-el Padilla Peralta, ein Wissenschafter aus der Dominikanischen Republik, eine sehr große Rolle. Der deutsche Philologe Daniel Wendt spricht mit FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic über Rassismus, Zitationsnetzwerke und die Kanonisierung von Forschungspositionen. furche.at/chancen
DIE FURCHE · 7 16. Februar 2023 International 5 Von Hypolite Adigwe Erstmals seit 1914, dem Jahr der britisch-kolonialen Fusion jener Einheiten, die heute Nigeria bilden, und 63 Jahre nach der politischen Unabhängigkeit (anno 1960) wäre die Zeit reif für Stabilität. Auch um ein gewisses Maß an Zusammenhalt innerhalb der nigerianischen Bevölkerung zu erreichen, sowohl für ein friedliches Zusammenleben als auch eine zivilisierte Wahl der politischen Verantwortungsträger. Allerdings ist die Konsensfindung in dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Land Afrikas die Herausforderung schlechthin, zumal sich die 220 Millionen Einwohner auf rund 400 Sprachen und ethnische Gemeinschaften verteilen, von denen jede ihre eigenen Regeln für Regierungsführung bzw. Wahlen besitzt. Foto: APA / AFP / Pius Utomi Ekpei Ende Februar sind fast hundert Millionen Nigerianer(innen) aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Die junge Bevölkerung setzt auf Newcomer Peter Obi. Ein Lagebericht aus Westafrika. Dem Land dienen – oder es ausplündern? Einflüsse von außen Großbritanniens anhaltendendes Interesse daran, wer Nigeria regieren soll, sowie die Ansprüche der USA an den Erdölvorkommen im Süden des Landes erschweren die Bedingungen zusätzlich. Noch bedeutender ist jedoch, dass die Bevölkerung selbst nicht genug getan hat, um sich zu helfen. Diese Unzulänglichkeit wird in dem kürzlich von der Katholischen Bischofskonferenz von Nigeria (CBNC) verfassten „Gebet für freie, faire und friedliche Wahlen in Nigeria“ benannt – mit dem Eingeständnis, dass „wir alle, Führer und Anhänger, [...] Korruption, Straflosigkeit und Gewalt begünstigt haben. Wir geben zu, dass wir zugelassen haben, dass Habgier, Hass und Betrug unsere Wahlen bis heute durchdringen und beeinträchtigen“. Eine Umwandlung „unserer Wahlbeamten in unparteiische und nicht korrumpierbare Schiedsrichter“ sei erforderlich. Dennoch liegt bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl der Wille zum Wandel in der Luft. Das Bewusstsein der Menschen, dass sie selbst in der Pflicht stehen, um diesen herbeizuführen, scheint gestiegen zu sein. Man könnte es auch als die Einsicht bezeichnen, dass die aktuelle Art des Regierens einem völlig neuen Ansatz weichen muss. Und um das zu erreichen, müssen eben die alten Politiker einer neuen Generation mit einer anderen Perspektive Platz machen – so das gängige Narrativ. Auch ist davon die Rede, dass die ethnische Zugehörigkeit und das Religionsbekenntnis bei der Entscheidung für oder gegen ein Staatsoberhaupt an Relevanz verlieren müsse. All das dürfte die Wahl vom 25. Februar auf unterschiedliche Weise beeinflussen. Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1999 wurden die Wahlen in Nigeria von zwei großen politischen Parteien dominiert: der aktuellen Regierungspartei „All Progressive Congress“ (APC) sowie der Oppositionspartei „Peoples‘ Democratic Party“ (PDP). Gleich zu Beginn der Vorwahlen zur Auswahl der Spitzenkandidaten gerieten APC wie PDP ins Kreuzfeuer der Kritik. So gab die Regierungspartei ihre Formulare für potenzielle Wahlbewerber für jeweils 100 Millionen Naira (rund 200 000 Euro) aus – was viele Nigerianer (Jahresdurchschnittseinkommen: umgerechnet 1760 Euro) als ungeheuerlich empfanden. Die PDP verlangte 40 Millionen, zwar weniger, aber immer noch vollkommen überzogen. Noch empörender war, dass viele Menschen, darunter auch einige, die in Regierungsämtern saßen, diese Formulare tatsächlich kauften. Man begann sich zu fragen: Woher hatten diese Leute das Geld? Warum wollen sie sich um die Präsidentschaft bewerben? Wollen sie wirklich dienen oder das Land ausplündern? Die Regierungspartei APC schickte schließlich Bola Ahmed Tinubu, einen Muslim aus dem Süden und Angehöriger der Ethnie Yoruba (dessen ranghöchster König in der heiligen Stadt Ile-Ife seinen Sitz hat), ins Rennen. Die Oppositionspartei PDP stellte schließlich Atiku Abubakar, Angehöriger der Hausa/Fulani aus dem Norden, auf. Der Blitzschlag aus dem Süden Dann erregte plötzlich und unerwartet das Auftreten eines Peter Obi, eines Igbo aus dem Süden, der ursprünglich Mitglied der PDP gewesen war, die Aufmerksamkeit der jungen Generation. Offenbar konnte er die Politik und die Aktivitäten der beiden großen Parteien nicht mehr mittragen. Er beschloss, auszutreten und sich einer der 16 anderen, in der Öffentlichkeit weniger bekannten Parteien anzuschließen, der Labour Party (LP). Die LP empfing ihn mit offenen Armen und machte ihn zu ihrem Spitzenkandidaten. Sein Auftreten war wie ein Blitzschlag und veränderte die gesamte politische Arena. Seine Anhängerschaft wuchs und wuchs, vor allem viele junge Nigerianerinnen und Nigerianer setzten auf ihn. Anfangs wurde Obi von Mitgliedern der großen Parteien belächelt. Sie waren der Ansicht, dass seine neue Partei, die LP, nicht professionell genug agiere, strukturelle Mängel aufweise. In der Tat hat die LP von den insgesamt 1496 gewählten politischen Positionen im Land nur drei Sitze inne (die APC 892; die PDP 507). Allmählich wuchs allerdings die Erkenntnis, wie gefährlich ihnen Peter Obi und sein Vizekandidat, Yussuf Datti Baba-Ahmed, werden könnten. Denn die jungen Wähler(innen) schienen ihre Hoffnungen auf eine Wende in der politischen Geschichte Nigerias genau auf diese Personen zu setzen. Das wiederum führte dazu, dass sich Millionen von ihnen um eine permanente Wählerkarte (PVC) bemühten und in die Büros der Unabhängigen Nationalen Wahlkommission (INEC) strömten. Dadurch stieg die Gesamtzahl der „ Auf dem Kontinent und darüber hinaus geht die Sorge um, Nigeria könnte in drei oder mehr unabhängige Staaten zerfallen. “ Wahlberechtigten um ganze 11,3 Prozent – auf 9.464.924 Personen. Ende Februar wird es also erstmals nicht um eine Entscheidung zwischen den beiden großen, sondern zwischen drei Parteien gehen: Tinubu, Atiku und Obi. Drei Männer, die die Wähler(innen) in Nigeria, ja Menschen in ganz Afrika in einen Zustand der Spannung und Besorgnis versetzt haben. Ein Novum in der (Wahl)-Geschichte Nigerias. Doch was motivierte so viele Junge, sich auf ihr Recht auf politische Teilhabe zu besinnen? Vor allem die Sorge um die öffentliche Sicherheit. Viele argumentieren, dass sich diese in den vergangenen acht Jahren der Regierung Buhari radikal verschlechtert habe. Auch setzen sie auf eine Verbesserung der Wirtschaftslage (die Inflationsrate liegt bei 21,3 Prozent) und die Schaffung von Arbeitsplätzen (die Arbeitslosenquote beziffert sich auf 33 Prozent, bei der jungen Bevölkerung sogar auf 42,5 Prozent). Ob dieser Perspektivenlosigkeit sehen sich etwa Hochschulabsolventen gezwungen zu emigrieren. Nicht nur für diese Gruppe gilt Peter Obi als ein unkonventioneller, kompetenter Politiker mit integrem Charakter, der in der Lage sei, das Land vom Konsum zur Produktion zu führen. Kostspielige Kandidatur Der Spitzenkandidat der „Democratic Party“ (PDP) zahlte 40 Millionen Naira, um nominiert zu werden; sein Gegner von der APC sogar 100 Millionen. Summen, die das Wahlvolk vorab skeptisch stimmten. Lesen Sie dazu auch: „Zwischen Traum und Beschluss“ (2.9.2020) über innerafrikanische Migration von S. Schocher auf furche.at. Gleichzeitig scheint es, als ob die gegenwärtigen politischen Amtsinhaber vor allem an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert wären. Das Ausland, insbesondere Großbritannien und die USA, aber auch afrikanische Länder, ist indes besorgt, dass Nigeria infolge des Missmanagements der Wahl in drei oder mehr unabhängige Staaten zerfallen könnte. Neben dieser berechtigten Sorge ist auch der Krieg in der Ukraine mitentscheidend für die Wahl. Die Nahrungsmittelknappheit angesichts der überschaubaren Getreidelieferungen schürt die Unzufriedenheit einmal mehr. Es bleibt also zu hoffen, dass die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen ordnungsgemäß abgewickelt werden, andernfalls wären negative Auswirkungen weit über die Grenzen des Landes hinaus zu befürchten. Präsident Buhari und die INEC kennen das Risiko und versuchen technisch wie verbal vorzubauen, um freie und faire Wahlen zu garantieren. Ob die Bemühungen am Ende Früchte tragen, bleibt abzuwarten. Der Autor ist Vorsitzender der „Catholic Education Commission“ im Bundesstaat Anambra in Nigeria. Er absolvierte einen Teil seines Theologiestudiums in Wien.
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