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DIE FURCHE 16.02.2023

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DIE FURCHE · 7 10 Religion 16. Februar 2023 Diskutieren und beten Unter dem Wort des Propheten Jesaja: „Mach den Raum Deines Zeltes weit“, waren die Delegierten in Prag versammelt. Foto: CCEE Das Gespräch führte Otto Friedrich Vom 5. bis 9. Februar war in Prag die Kontinentalsynode versammelt, eine Wegstufe zur Bischofssynode zum Thema Synodalität, die im Herbst in Rom tagen wird. Delegationen von 39 Bischofskonferenzen Europas sowie 40 eingeladene Gäste – von der Fokolarbewegung über Opus Dei bis zu Iustitia et Pax – diskutierten über die Zukunft der katholischen Kirche in Europa. Zugeschaltet waren bis zu zehn Online-Delegierte pro Land, die Präsenz-Delegierten berieten in Kleingruppen. Ein internationales Redaktionsteam stellt in den nächsten Wochen das Abschlusspapier fertig, das die von den Teilnehmer(inne) n eingebrachten Themen dokumentiert , die vom Generalrelator der Synode, Kardinal Jean-Claude Hollerich, in Rom eingebracht werden sollen. Neben dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Salzburgs Erzbischof Franz Lackner, war Österreich in Prag durch die Wiener Pastoraltheologin Regina Polak, die Innsbrucker Hochschulrektorin Petra Steinmair-Pösel und Markus Welte, Referent bei Erzbischof Lackner, vertreten. Siehe auch Otto Friedrichs Analyse „Muss Österreich Synodalität neu erlernen?“ vom 21.9.2022, nachzulesen auf furche.at. Vier Tage beriet in Prag eine Kontinentalsynode Fragen und Probleme der Kirche Europas. Ein Runder Tisch der FURCHE mit Mitgliedern der österreichischen Synoden-Delegation. „In ein Gespräch eingetreten“ „ Es gab in Prag keine Entscheidungen oder Antworten auf die Spannungen, die sichtbar wurden. “ Regina Polak DIE FURCHE: Gibt es eine Conclusio der Europäischen Kontinentalsynode in Prag? Regina Polak: Angesichts der Spannungen, die im Laufe dieser Tage sichtbar wurden, bin ich mit dem zu erwartenden Abschlussdokument zufrieden. Der Bericht dokumentiert vor allem, was diskutiert wurde, es gibt keine Entscheidungen oder Antworten auf die Spannungen, die sichtbar wurden. Es gibt aber ein gemeinsames Commitment, diese synodale Kultur weiterzuführen und zu etablieren. Das ist, glaube ich, erstens notwendig und zweitens schwierig, weil ich schon den Eindruck hatte, dass da auch von Seiten der Leitung – der Kardinäle Jean-Claude Hollerich und Mario Grech – ernsthaft und glaubwürdig ein neuer synodaler Stil etabliert werden soll. Das macht natürlich Spannungen und Schwierigkeiten deutlicher sichtbar. Und ist für viele eine ungewohnte Art und Weise, in ein Gespräch zu treten. Petra Steinmair-Pösel: Mit der Hinwendung zur Synodalität wurde eine neue Richtung eingeschlagen, hin zu mehr Partizipation, auch in Richtung einer inklusiveren Kirche. Die Spannungen sind dadurch deutlich ans Tageslicht getreten. Ich glaube, das ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Unterschiede bearbeitbar werden. Das Sichtbarwerden ängstigt manche, es zeigt einen langen Weg vor uns, aber es war ein wichtiger Schritt. Über diese Tage hinweg ist ein breiterer Konsens in Richtung „Wir wollen alle diesen synodalen Weg gehen“ entstanden. Am Anfang hatten einige grundlegende Bedenken: „Der synodale Prozess ist vom Bösen.“ Das war am Schluss weniger wahrnehmbar. Markus Welte: Ich habe diese Tage in Prag als radikale Horizonterweiterung erlebt. Es waren 39 Delegationen, 45 Länder. Ein ganz breites Bild der Kirche in Europa war versammelt. Ich möchte das nicht romantisieren. Es ist ein heterogenes und widersprüchliches Bild herausgekommen. Es ging in Prag darum, diese Spannungen auszuhalten und mit den widersprüchlichen Gefühlen zurechtzukommen. Da war Rat- und Sprachlosigkeit dabei. Der Hauptzweck der Versammlung war, die Dinge offen zu benennen. Das genügt einmal für diesen Prozessschritt. Ich glaube durch diesen Prozess kann sich etwas ändern, er führt in die Tiefe dessen, was Kirche theologisch wirklich ist: „Volk Gottes auf dem Weg.“ Synodalität ist nicht nur Methode, sondern Wesenszug von Kirche. Den wiederzuentdecken, dazu hat sich der Papst einen gut jesuitischen Lernweg ausgedacht: Nicht theologische Debatte, sondern Experimentierfeld und Erfahrungsraum. So habe ich Prag erlebt. DIE FURCHE: Welche Spannungen wurden da benannt? Welte: Ein Thema ist sicher die Rolle der Frau in der Kirche. Mit dem Themenfeld können alle etwas anfangen, aber wie man damit umgeht, ist sehr unterschiedlich: Für die einen bedeutet es das Nachdenken über die Rolle der Frau in der Hauskirche, in der Familie. Wie können Frauen die Weitergabe des Glaubens vor allem in der Familie unterstützen und ihre Charismen mehr einbringen? Für andere und uns war das nicht genug. Wir wollten auch fragen, wie Frauen an Entscheidungsprozessen in der Kirche mitwirken können. Polak: Besonders zeigten sich Spannungen an der Frage der Inklusion, insbesondere bei marginalisierten Gruppen wie LGTBQI-Personen. Inklusion wollen grundsätzlich alle. Divergenzpunkt ist die Frage: Soll und muss die Inklusion auch Folgen für das kirchliche Lehramt und das Kirchenrecht haben? Oder ist das eine Gefährdung der kirchlichen Lehre und der katholischen Identität? Eine zweite Spannungslinie war zwischen den Ortskirchen im Westen und Osten Europas spürbar. Das führe ich vor allem auf die unterschiedlichen politisch-historischen Kontexte zurück. Das Schlussdokument spricht von „historischen Wunden“, die sich hier auswirken. Da zeigte sich für mich als Theologin, dass das Zweite Vatikanum in vielen dieser Regionen noch nicht so rezipiert wurde wie im Westen. Und welche Rolle spielt die Theologie in dem Ganzen? Diese Frage hat keine zentrale Rolle gespielt. Steinmair-Pösel: Es war eine Grundspannung spürbar bei denen, die fürchten, dass der synodale Prozess zu einer vollkommen anderen Kirche führen könnte, zu einer Aushöhlung des Lehramts. Die andere Seite erhofft sich größeres gegenseitiges Verständnis. Da gab es in Prag eine Annäherung. Polak: Einerseits war es ein geistlicher Prozess mit synodaler Methodik und Anhörkreisen, die geistliche Grundlage für argumentativen Austausch. Gleichzeitig war das überlagert von einem kirchenpolitischen Prozess. Das führt zwangsläufig zu Spannungen, wenn das nicht klar unterschieden wird, etwa wenn im Plenum Argumentationen vertreten werden und in Kleingruppen ganz stark die geistliche Methode praktiziert wird. DIE FURCHE: Insbesondere der deutsche Synodale Weg stellt für manche eine rote Linie dar. Steinmair-Pösel: Das war unterschwellig da, ist aber nie konkret angesprochen worden. Österreich hat da eine Mittelposition und eine Vermittlerrolle eingenommen. Polak: Das war vor allem beim Thema Missbrauch spürbar, wo ganz klar vom deutschen Bischofskonferenzvorsitzenden Georg Bätzing eingefordert wurde, dass auch systemische Ursachen thematisiert werden müssen. In vielen osteuropäischen Kirchen wird das nicht als Thema wahrgenommen oder als „West-Problem“ dargestellt. Es gab schon deutliche Spannungen in den Pausen: Die ZdK-Vorsitzende Irme Stetter-Karp hat erzählt, wie man ihr einfach ausgewichen ist. Die Deutschen hatten es nicht leicht. Steinmair-Pösel: Obwohl die deutsche Delegation im Einbringen von Themen und Wortmeldungen sehr aktiv war, ist sie im Schlussdokument stark unterrepräsentiert. Welte: Die Deutschen hätten sich viel mehr Diskussion über bestimmte Einzelthemen gewünscht. Das hatte in diesem Format aber weniger Platz. DIE FURCHE: Die Geschwindigkeiten in den Ortskirchen sind sehr unterschiedlich: Manche versuchen seit bald 50 Jahren et-

DIE FURCHE · 7 16. Februar 2023 Religion 11 „ Ausgangspunkt bei einigen war nicht einmal: ‚Wir fangen an, nachzudenken‘, sondern eher: ‚Müssen wir überhaupt über etwas nachdenken? Die katholische Lehre ist doch klar definiert.‘ “ Petra Steinmaier-Pösel was weiterzubringen. Denen zu sagen: „Wir fangen jetzt an nachzudenken“ – ist das nicht frivol? Steinmair-Pösel: Der Ausgangspunkt bei einigen war nicht einmal: „Wir fangen an, nachzudenken“, sondern eher: „Müssen wir überhaupt über etwas nachdenken? Die wahre katholische Lehre ist doch klar durch das Lehramt definiert. An dieser gilt es festzuhalten.“ Polak: Was es im Schlussdokument geben wird, ist ein klares Commitment und eine hohe Gewichtung des Missbrauchsthemas. Auch ist immer wieder die Frage von Dezentralisierung und regionalen Zugängen als Vorschlag eingebracht worden. Da gibt es natürlich noch keine Entscheidung. Die Kirchenleitung muss sich aber bewusst sein, dass es einmal Entscheidungen geben wird müssen, wenn sie in unseren Regionen nicht viele vor den Kopf stoßen will. Und bei allem Willen, alle im Boot zu halten (der ist bei allen sehr klar ausgesprochen worden): Es wird keine Entscheidung geben, bei der es nicht Enttäuschte gibt. Da wird sich die Kirchenleitung überlegen müssen, welchen Flügel der Kirche sie zu enttäuschen bereit ist. Welte: Diese Spannung bezüglich der Ungleichzeitigkeit war vor allem bei den Statements zu Beginn zu spüren. Manche Delegationen sind erzählend vorgegangen und haben berichtet, wie die aktuelle Situation in ihrem Land ist und erste Erfahrungen mit Synodalität angedeutet. Andere haben jede Sekunde ausgenutzt, um konkrete Reformideen anzusprechen und ins Tun zu gehen. Diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten in Sachen Synodalität sind nicht unbedingt schlecht: Wer erst beginnt, kann von denen lernen, die schon eine Weile unterwegs waren. Die deutsche Delegation hat etwa die Frage gestellt: „Wo ist die Stimme der Theologie im weltweiten synodalen Prozess?“ Das kann man aufgreifen. Umgekehrt kommt es bei denen, die schon länger in einem Prozess arbeiten, nicht selten zu Ermüdungserscheinungen und Einseitigkeiten. Aus Ungleichzeitigkeiten kann sich also durchaus ein gegenseitiges voneinander Lernen ergeben. DIE FURCHE: Aber gerade bei der Kritik Roms am Synodalen Weg in Deutschland hat es geheißen, dieser sei etwas Elitäres und betreffe die Gläubigen nicht. Das ist ja auch eine Machtfrage: Die, die darüber nachdenken können, sollen nicht nachdenken, weil sie „zu elitär“ sind? Polak: Wir müssen über Macht sprechen. Und wir müssen eine positive Theologie von Macht entwickeln, weil das ein tabuisiertes Thema ist. Macht wird im kirchlichen Raum als Dienst beschrieben, was ja theologisch korrekt ist. Es kann aber auch dazu führen, dass real existierende Machtverhältnisse sehr ungern angesprochen werden, weil „Macht“ negativ konnotiert ist. Das eine ist, mit Vielfalt und den Unterschieden produktiv umzugehen, aber das findet niemals in einem machtfreien Raum statt. Darüber wird nicht offen geredet. Steinmair-Pösel: Über den Begriff der Theo logie der Synodalität ist das theologische Bedürfnis ein wenig zur Sprache gekommen. Ich glaube, dass durch Begriffe wie „Einheit in der Verschiedenheit“, der Dezentralisierung, der Probierräume und auch der Subsidiarität eine Möglichkeit des Umgangs mit dieser Ungleichzeitigkeit angedeutet wird, sodass es nicht zu einer Zerreißprobe kommt. Polak: Positiv ist, dass meiner Meinung nach die verantwortlichen Kardinäle Hollerich und Grech wirklich 100-prozentig dahinter stehen. Ich wünsche ihnen da noch viel Mut, weil ihnen so viel Gegenwind entgegenbläst. Die scheinen es mit dem Kulturwandel sehr ernst zu nehmen. Welte: Ich kann das auch aus meiner Perspektive aus bestätigen: Bei der Leitung ist ein großer Ernst und auch große Lauterkeit zu spüren. DIE FURCHE: In unseren Breiten hat die jüngste Sinus-Milieu-Studie ergeben, dass für die bürgerliche Mitte, also eine der Trägerinnen der katholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten, die Kirche uninteressant geworden ist. Wie kann dieser Erosion begegnet werden, wenn man jetzt erst beginnt, miteinander zu reden, und einmal alles in aller Unterschiedlichkeit nebeneinanderstellt? Für die Kirche sind die Leute doch schon weg oder fast weg. Polak: Die Bischöfe vor Ort sind dringend angehalten, sich zu überlegen, was man auf einer diözesanen und nationalen Ebene an Synodalität jetzt schon verwirklichen kann. Da ist kirchenrechtlich schon einiges möglich, was immer noch nicht verwirklicht ist. Wenn man da nur darauf wartet, was in Rom passiert, dann wird es in der Tat dramatisch, weil unsere Wertestudien zeigen, dass nicht nur die Kirchenbindung, sondern auch der Glaube an Gott implodiert. 2021 lag er schon unter 50 Prozent – da ist Feuer am Dach! Welte: Meine große Hoffnung in Bezug auf die Bischofssynode ist gar nicht, dass ein bestimmtes Thema angegangen wird, sondern dass dort in einer Art Systematik die verschiedenen Ebenen von Synodalität geklärt werden – etwa dass auf der Ebene des Kontinents bestimmte Fragen behandelt werden können und gleichzeitig auf nationaler Ebene und andere auf weltkirchlicher Ebene. Es geht also darum, die Fragen auf verschiedenen Ebenen anzugehen, sonst läuft uns tatsächlich die Zeit davon. DIE FURCHE: Synoden führen normalerweise auch zu Entscheidungen. In Prag gab es keine Abstimmungen, keine Entscheidungen, nicht einmal das Abschlussdokument ist fertig und ebenfalls wird es nicht abgestimmt. Da fehlt doch ein wesentliches Element von Synodalität? Steinmair-Pösel: Wenn man den Prozess in den Dreischritt fasst – Sehen-Urteilen-Handeln, dann widmet man jetzt ganz viel Zeit dem Sehen, dem wirklichen Wahrnehmen, was heißt: Was sind denn die Grundlagen, wo stehen wir tatsächlich, um dann eine Entscheidung treffen zu können, die auf einer möglichst breiten Basis steht. Die Entscheidung in der katholischen Kirche wird immer personal sein, aber je mehr Zeit man dem Hinschauen gibt, desto mehr gibt es die Chance, dass die Entscheidung dann auf einer breiten Basis geschieht. Ich halte es für nicht so schlecht, dass es in Prag keine Voten gab, sondern dass einmal weltkirchlich alles zusammengetragen wird. Hätten wir auf dieser Kontinentalsynode abgestimmt, dann wären Dinge nicht durchgegangen, von den wir hoffen, dass sie letztlich doch mehrheitsfähig werden. „ Das eine ist, mit Vielfalt und den Unterscheiden produktiv umzugehen, aber das findet niemals in einem machtfreien Raum statt. Darüber wird nicht offen geredet. “ Regina Polak Polak: Viele Anliegen gerade des progressiveren Teils der österreichischen Kirche wären auf dieser Europa-Synode nicht durch Abstimmungen durchgekommen. Gleichzeitig wird in Rom entschieden werden müssen. Wir werden die grundlegenden theologischen Konflikte bis zur Bischofssynode in Rom aber nicht gelöst haben. Wir schauen auf zwei Pontifikate mit fast vier Jahrzehnten zurück, wo es keine Kultur gab, diese unterschiedlichen Positionen im öffentlichen Raum auszuhandeln. Wenn in Rom entschieden wird, dann ist für mich die Frage, sind dort Gläubige oder nationale Delegationen oder Frauen oder Jugendliche beteiligt, das ist soweit ich das wahrnehme ja noch offen. Oder wie transparent wird das sein? Erfahren wir dann vorher, nach welchen Kriterien das entschieden werden wird? DIE FURCHE: Es gibt die Befürchtung: Man diskutiert, hört sich alles an, und der Papst entscheidet dann. Und aus. Polak: Denen, die diesen synodalen Prozess begonnen haben, glaube ich, dass es ihnen ernst damit ist. Man muss schauen, welche Prioritätenlisten aus den anderen Kontinenten nach Rom geschickt werden. Wenn das Frauenthema nicht nur aus Eur- Foto: Markus Welte „ Der Anfang ist weniger eine theologische Diskussion, sondern der Anfang ist eine Begegnung. Das war in Prag deutlich spürbar: Die Bereitschaft, in die Welt des anderen überzusetzen. “ Markus Welte GLAUBENSFRAGE Mass Shootings Das englische Wort mass shooting hat keine elegante Übersetzung. Aber es wird definiert als der bewusste Einsatz einer Schusswaffe, bei dem mindestens vier Menschen getötet oder verletzt wurden. Danach gab es in diesem Jahr 39 mass shootings in den USA, während es im letzten 648 waren. Sie geschahen in Einkaufszentren, Tanzlokalen, Gotteshäusern, Schulen. Im letzten November starben drei Studenten an meiner Universität. All dies ist Alltag, und es gibt eine alltägliche Routine der Trauer, der Fragen, des Gedenkens. Strengere Waffengesetze? Heute sind auch die Liberalsten davon überzeugt, dass mehr Waffen mehr Sicherheit bringen. Neues Protokoll: Wer einen Todesschützen sieht, soll nicht mehr das Weite suchen, sondern ihn überwältigen. Da ist es schon besser, einen Revolver am Halfter zu haben. Doch was geht in den Köpfen dieser Massen(selbst)mörder vor? Geistige, seelische Störungen? Hass, Rassismus? Oder einfach Ärger und Zorn? Ein bisschen etwas von alledem, sagen die Experten. Der flämische Soziologe Lambert opa, sondern auch aus den anderen Kontinenten kommt, wird es ein anderes Gewicht bekommen. Dass es in Prag so unterschiedliche Positionen gab, hat auch mit der europäischen Nachkriegsgeschichte zu tun, mit einem geteilten Kontinent mit wechselseitigen Urteilen und Vorurteilen. Bei manchem osteuropäischem Bischof in Prag hatte ich den Eindruck, dass die vieles noch aus der Perspektive eines kommunistisch beherrschten Landes wahrnehmen, auch wenn der Kommunismus seit über 30 Jahren vergangen ist. Die kollektiven Gedächtnisse spielen da eine riesige Rolle. Welte: Mein Vertrauen in diesen Prozess lebt vor allem davon, dass Verstehen immer auch eine personale Dimension hat. Verstehen setzt voraus, dass ich mich treffen und angehen lasse von dem, was ein anderer sagt. Der Anfang ist weniger eine theologische Diskussion, sondern der Anfang ist eine Begegnung. Das war in Prag deutlich spürbar: Die Bereitschaft, in die Welt des anderen überzusetzen, und das zu versuchen, was die moderne Kulturanthropologie „teilnehmende Beobachtung“ nennt. Bei den letzten Synoden hat Papst Franziskus seine Rolle eher als Begleiter solcher Unterscheidungsprozesse angelegt. Einen starken Drang, Entscheidungen absolutistisch zu treffen, kann ich bei ihm nicht erkennen. Mitarbeit: Philipp Axmann Österreichs Delegation bei der Kontinentalsynode (v. li.): Markus Welte, Regina Polak, Petra Steinmaier- Pösel und Erzbischof Franz Lackner, Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz. Von Asher D. Biemann Quetelet aber behauptete schon 1842, dass ein Täter immer nur das ausführte, was die Gesellschaft in ihm vorbereitet hatte. Dabei dachte er natürlich nicht an einen bösen Fernsehkrimi, sondern an die Gewalt des Staates. Er dachte an den Glauben, dass Gewalt, dass der Tod selbst Gerechtigkeit bringen könnten. Die überwiegende Mehrzahl der US-Amerikaner glaubt, die Todesstrafe sei moralisch gerecht. Doch die wenigsten glauben an ihre Abschreckungskraft. Sie glauben nur an die Gerechtigkeit des Todes. Dieser Glaube, mit dem auch das Judentum zu ringen hat, vergisst jedoch, dass Gerechtigkeit manchmal nicht sein kann und dass wir manchmal weiterleben müssen ohne sie. Die Täter aber, die ihr und anderer Leben nehmen, sie glauben bis in den Tod an die Gerechtigkeit. Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA.

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