7 · 16. Februar 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Long Covid: Mit Nadeln gewappnet Dass es bislang keine etablierten Therapien gibt, ist für Betroffene frustrierend. Doch die Akupunktur kann helfen. · Seite 23 Dem Land dienen – oder es ausplündern? „In ein Gespräch eingetreten“ Gemeinsam anders sehen Nigeria steht vor einer entscheidenden Wahl, die Auswirkungen auf ganz Afrika und darüber hinaus haben könnte. Ein Lagebericht. · Seite 5 Runder Tisch zur Kontinentalsynode, die Anfang Februar in Prag stattfand: Kirchliche Spannungen in Europa wurden deutlich. · Seiten 10–11 Kunst soll für möglichst alle zugänglich sein. Wichtig sind daher auch Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen. · Seite 17 Das Thema der Woche Seiten 2–4 Foto: Collage: Rainer Messerklinger (unter Verwendung von Bildern der APA: Robert Jaeger bzw. Eva Manhart sowie von iStock: Grafissimo, GeorgiosArt, serts,Thananat, FooTToo, Creativemarc & DieterMeyrl Krisen rütteln an der eigenen Identität. Ob Geschlechterrollen, Heimatgefühle oder Othering: Das Verständnis von Identität bestimmt unser Zusammenleben. Über Klischees, das innere Ich und das gute Kollektiv. Was macht uns aus? „Russlands Delegation soll kommen“ Karl Schwarzenberg, tschechischer Außenminister a. D. und Europäer, über neue Zäune auf diesem Kontinent, den Krieg in der Ukraine, die Atomkrieg-Drohung aus dem Kreml und Österreichs Neutralität. Seite 7 Das Jahrhundertbeben in der Türkei und Syrien führt nicht nur zu unfassbarem Leid, sondern offenbart einmal mehr die fehlende politische Ehrlichkeit in puncto Flucht. Was nun zu tun wäre. Trümmerpolitik Von Doris Helmberger Als am 1. November 1755 in Lissabon die Erde bebte, danach ein Tsunami die Stadt überrollte und schließlich noch eine Feuersbrunst wütete, starben nicht nur über 60.000 Menschen. Es starb auch der Optimismus der Aufklärung – und der Glaube daran, dass diese Welt die beste aller möglichen sei, erschaffen von einem gütigen Gott. Wie sonst, fragten damalige Zeitgenossen von England bis Königsberg, habe dieser so viel Leid zulassen können? Heute hat sich diese Theodizee-Frage längst in die individuell-religiöse Sphäre verlagert. Die Frage nach der politischen Verantwortung stellen sich Menschen, die ihre Familie und jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren haben, freilich einst wie jetzt. Wer ist Schuld daran, dass nach dem verheerenden Erdbeben vom 6. Februar im türkisch-syrischen Grenzgebiet so viele Häuser kollabierten – besonders rasch jene, die nach dem Beben von 1999 und der Einführung einer eigenen Steuer eigentlich „erdbebensicher“ hätten gebaut werden sollen? Mit jedem toten Körper, der aus den Trümmern gezogen wird, steigt die Wut auf eine Regierung, die nicht nur autokratisch, sondern auch korrupt und dysfunktional „ Nötig sind legale Fluchtrouten nach Europa – und die Klarstellung, dass ‚Hilfe vor Ort‘ etwas kostet. “ agierte. Ob all dies die Macht Recep Tayyip Erdoğans zum Einsturz bringt oder dieser die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai verschiebt, wird sich zeigen. Versagt hat in der Katastrophe freilich auch die internationale Gemeinschaft. „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen“, gestand UN-Nothilfekoordinator Martin Griffith vergangenen Sonntag auf Twitter. Erst eine Woche nach dem Beben lenkte Machthaber Baschar Al-Assad ein und öffnete zwei weitere Übergänge an der türkisch-syrischen Grenze für Hilfskonvois ins ohnehin bürgerkriegsverheerte Land. Das vorangegangene Gezerre im UN-Sicherheitsrat zeigte einmal mehr dessen Zahnlosigkeit. Zäune als Lösung des Problems? Und die Europäische Union? Dort war man vergangene Woche eigentlich mit dem Bauen von Zäunen beschäftigt. Zumindest hatte die österreichische Regierung im Vorfeld des von ihr geforderten Sondergipfels zur Asyl- und Migrationspolitik deren gemeinsame Finanzierung an den EU-Außengrenzen gefordert. Beschlossen wurden zwar nur Mittel für „Infrastruktur“ sowie zwei Pilotprojekte. Bundeskanzler Karl Neham- mer (ÖVP) bewertete dies dennoch als Erfolg, wie er Dienstag dieser Woche im zweiten „Kanzlergespräch“ vor Journalistinnen und Journalisten bekräftigte: Immerhin sei es gelungen, Asyl und Migration wieder auf die EU-Agenda zu bringen. Wobei er nicht „so kurzsichtig sei“, Zäune für die Lösung des Problems zu halten, so Nehammer ganz offen. Wichtig sei vielmehr, Fluchtbewegungen „bestmöglich zu verhindern“: durch Hilfe vor Ort und die „Visa-Hebelmethode“ mit Herkunftsstaaten. Visa-Erleichterungen für Bebenopfer mit Verwandten in Österreich, wie dies der Erste Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas, in der Pressestunde nach deutschem Vorbild vorgeschlagen hatte, lehnte er ab. Eine erwartbare Reaktion – zumal sich der Blick Nehammers derzeit vor allem in Richtung FPÖ richtet, die mit ihrer „Nein gegen alles“-Politik Zulauf hat. Dennoch – und umso wichtiger – wäre es, als selbstdefinierte Partei der Mitte auch hier das Notwendige zu tun und den Menschen zu erklären: von der Einrichtung legaler Fluchtrouten nach Europa, die zur Einhaltung der Grund- und Menschenrechte unabdingbar sind, bis zur Klarstellung, dass drei Millionen Euro als „Hilfe vor Ort“ nicht reichen. Wie viele letztlich nötig sind, wird eine EU-Geberkonferenz eruieren. Was für ein Ende einer „Trümmerpolitik“ in puncto Flucht und Migration nötig wäre, steht im Buch „So schaffen wir das“ von Othmar Karas und Judith Kohlenberger. Der Glaube an die Kraft der Aufklärung – er stirbt zuletzt. doris.helmberger@furche.at @DorisHelmberger INTRO Er ist einer der letzten großen Europäer: Karl Schwarzenberg. Und er ist auch mit 85 Jahren ein Freund klarer Worte: Wie er dieses – sein – Europa heute sieht, hat er Wolfgang Machreich in Prag erzählt. Wie Gottfried Waldhäusl Wien sieht, ist bekannt. Die Empörung über seinen rassistischen Ausfall war groß. Doch was heißt das überhaupt: Identität? Manuela Tomic hat sich dieser Frage im Fokus „Was macht uns aus?“ genähert. Einen Blick nach Nigeria, wo demnächst gewählt wird, bietet das Journal. Der Kompass eröffnet mit einer Würdigung von Sophie Scholl, die vor 80 Jahren von den Nazi-Schergen ermordet wurde. Otto Friedrich hat anlässlich der Kontinentalsynode in Prag einen Runden Tisch über die Zukunft der katholischen Kirche Europas moderiert, Jana Reininger die Erfahrungen einer Elementarpädagogin nachgezeichnet – und Georg Stern eine Replik zur Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ verfasst. Wie das Kunsthistorische Museum von Menschen mit Beeinträchtigungen wahrgenommen werden kann, ist im Feuilleton zu lesen – ebenso wie ein Beitrag zur Friedensforschung und zu Long Covid. Beschlossen wird diese FURCHE damit, wie Erinnerung an die Schoa nach dem Tod der letzten Zeitzeugen möglich ist. Was uns ausmacht, wusste wohl kaum jemand besser als sie. (dh) furche.at Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0
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