DIE FURCHE · 24 4 Das Thema der Woche Vom Wert des Eigennutzes 15. Juni 2023 Ein Pfunds- Schotte Adam Smith war der erste Schotte auf einer Banknote der „Bank of England“. 2007 wurde er auf der Rückseite des 20-Pfund- Scheines verewigt. Smiths Werk steht für ökonomische Vernunft, kluge Regulierung der Wirtschaft – und ist keinesfalls ein Plädoyer für egoistisches Verhalten, sagt Wirtschaftshistoriker Andreas Exenberger. Über den Mythos der unsichtbaren Hand, den „positiven“ Eigennutz und historische Missverständnisse. „Die Botschaft: Ich bin erst durch andere“ Das Gespräch führte Jan Opielka Das Ausmaß an Finanzkapitalisierung von heute hätte sich Adam Smith nicht ansatzweise vorstellen könne, ist der Innsbrucker Wissenschafter Andreas Exenberger überzeugt. Abgeneigt wäre er ihm aber nicht. Dennoch sähe er als primären Wertschöpfungsträger nach wie vor die menschliche Arbeit, argumentiert Exenberger im Gespräch mit der FURCHE. DIE FURCHE: Herr Exenberger, Adam Smith wird in der Nicht-Fachwelt vor allem mit der Phrase der „unsichtbaren Hand des Marktes” assoziiert, die liberale Ökonomen stets als Votum für die freie kapitalistische Entfaltung und Grundlage für Wohlstand sehen. Wird man Smith damit gerecht? Andreas Exenberger: Nein, ganz sicher nicht. Ganz grundsätzlich hat Smith Wirtschaft als in die Gesellschaft eingebettet betrachtet. Ohne gesellschaftlichen Rahmen funktioniert Wirtschaft für ihn nicht. Die unsichtbare Hand war eine Art Denkfigur, die in dieser Zeit populär war und die auch er aufgegriffen hat. Es gibt da eine große theoriegeschichtliche Diskussion, was sich für ihn dahinter verbarg – eine Idee griffiger zu machen, oder doch eine Art Gottesglaube. Der Grund aber, warum es in seinem Buch „Wohlstand der Nationen” drinstand, war, dass er stets den Gedanken betonte: es kann in der Ökonomie manchmal auch aus schlechten Motiven etwas Gutes entstehen. Weil man aber nicht versteht, wie dies genau passiert, umschreibt er es mit dem Bild der „unsichtbaren Hand”. Eigentlich ist es also eine Metapher für: „Ich weiß nicht ganz genau, wie es läuft, aber es ist beobachtbar, dass es läuft.“ Doch daraus ein Plädoyer für einen völlig unregulierten Markt abzuleiten, ist ein totales Missverständnis. DIE FURCHE: Smith zeichnet in seinem Buch „Theorie der ethischen Gefühle“ den Menschen als im Kern gut, weil er etwa einen angeborenen Gerechtigkeitssinn habe, und daher fähig zur Selbstkorrektur sei. Wie weit haben seine Moralvorstellungen seinen Blick auf die Ökonomie geprägt. „ Sicher hätte er sich darüber gewundert, was man 100, 200 oder 250 Jahre später aus seinem Denken gemacht hat. “ Exenberger: So, wie er Kaufleute seiner Zeit sah. Er schrieb, dass man etwa mit großer Vorsicht jedem Vorschlag zu einem neuen Gesetz begegnen solle, der von den Handeltreibenden selbst komme – denn sie würden stets nur das Eigeninteresse verfolgen. Smith war einer jener Wissenschafter, der nicht nur durch Nachdenken, sondern durch Beobachten zu Erkenntnissen kommt. Und er stellte fest: Der Mensch ist alles andere als fehlerfrei. Doch seine Schlussfolgerung war: Weniger auf das setzen, was später zur Planwirtschaft wurde, sondern auf die Selbstregulierungskräfte vertrauen. Bei seinen Ideen zum Zurückdrängen von staatlichen Eingriffen ging es immer um den Vergleich zu früher, im Vergleich zu einem stark interventionistischen Staat also, zum ausufernden Merkantilismus. Hinzu kommt: Zu seiner Zeit war de facto nur der Staat ökonomisch übergroß, private Riesenkonzerne gab es damals nicht. Die Monopole der damaligen Zeit wurden zudem vom Staat gesetzt und begünstigt, diejenigen von heute sind aus dem Marktprozess entstanden, gerade wegen unzureichender Regulierung. DIE FURCHE: Stichwort Regulierung. Smith hielt etwa gesetzliche Höchstzinsen für sinnvoll. Sein Argument: Das würde verhindern, dass Kapitalgeber Geld in Risikogeschäfte stecken, statt bei soliden Geschäftsleuten zu investieren. Auch diese Frage ist heute virulent: Börsenspekulation versus langfristige, solidere Investitionen. Was würde er heute sagen? Exenberger: Mit Smith kann man in jedem Fall sagen: Alle großen und kapitalintensiven Unternehmen sind grundsätzlich sehr skeptisch zu betrachten. Klar ist aber auch: Das Ausmaß an Finanzkapitalisierung von heute könnte er sich nicht ansatzweise vorstellen. Er wäre dem heutigen Zinsund Kapitalaustausch sicher nicht gänzlich abgeneigt, sieht es aber auch nicht als besonders wertschöpfend an – Wertschöpfung geschieht bei ihm aus der Produktion heraus, und primärer Träger dabei ist menschliche Arbeit. DIE FURCHE: Hat Adam Smith in Ihren Augen den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital – Ausbeutung, Arbeitskämpfe, Sozialismus – für seine Zeit richtig bewertet oder Foto: Privat Foto: iStock /BrianAJackson die brutalen Auswüchse der Industrialisierung vorausgesehen? Exenberger: Die Klassenkämpfe, das haben dann andere Denker übernommen – Karl Marx war von Smith beeinflusst, und es gibt zwischen den beiden auch gewisse Parallelen. Man kann in positiver oder negativer Bezugnahme auf Smith Erkenntnisse zum Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ziehen. Aber man muss ihn in seiner Zeit sehen: Wir sprechen von einer Epoche, in der die industrielle Revolution erst im Aufkommen war. Die Art von riesigen Industriebetrieben, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden, oder das große Städte-Wachstum, gab es noch lange nicht. Ausmaß und Komplexität der späteren Entwicklung hat er eher nicht vorausgesehen. Er hat die Gegenwart analysiert – das meiner Meinung nach aber sehr gut. Er hätte sich sicher eine Welt gewünscht, in der es die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit nicht gibt – aber da hört man es: Er wünschte sich etwas, doch die ideale Welt existiert nicht. DIE FURCHE: Würde er denn 100 Jahre später, aber auch heute, angesichts der tragischen Situation von Millionen von Arbeitern, seine Ansichten zur sogenannten Selbstregulation der Marktteilnehmer, und zur Arbeit – überdenken? Exenberger: Ich bin tatsächlich der Meinung, dass er später in Richtung Mindestlöhne und einem menschenwürdigen Dasein argumentiert, aber weiter die Transaktionsfreiheit betont hätte. Es würde ihm also um Selbstorganisation gehen, aber innerhalb eines Regulierungsrahmens, zu dem eine Garantie für die lebensnotwendigen Güter gehört. Auch war für ihn der Aspekt der Bildung ganz wichtig, Menschen könnten durch sie vom Joch der monotonen Arbeit und der ausbeuterischen Verhältnisse befreit werden – und dies sah er als Aufgabe des Staates. Gleichwohl, es ist schwierig zu sagen, was er 100 Jahre später gesagt hätte. Aber sicher hätte er sich darüber gewundert, was man 100 Jahre, und erst recht 200 oder 250 Jahre später aus seinem Denken gemacht hat. Andreas Exenberger: Volkswirtschaftswissenschafter sowie Wirtschafts- und Sozialhistoriker. DIE FURCHE: Wo sehen Sie die gröbsten Fehlinterpretationen? Exenberger: Seine Apologeten haben etwa aus der „unsichtbaren Hand“ und der Betonung des Eigennutzes die Tugend des Egoismus gezimmert, egoistisches Verhalten wäre normativ gut. Doch das ist falsch. Egoistisches Verhalten hat Smith für schlecht befunden, er stellte nur praktisch fest: Manchmal und im Zusammenspiel mit anderen kann das Streben nach Eigennutz schon zum positiven Ergebnis führen. Im Begrifft des „homo oeconomicus“ ist das Missverständnis dann auf die Spitze getrieben. Deswegen schrieb ich nach der Finanzkrise: Im 21. Jahrhundert würde uns weniger Neo-Liberalismus und mehr Neo-Smithianismus gut tun. Dafür müsste man ihn neu lesen – und zwar beide Werke, nicht nur „Der Wohlstand der Nationen“, sondern auch die „Theorie der ethischen Gefühle“. Im zweiteren ist die Botschaft: „Ich bin erst durch andere.“
DIE FURCHE · 24 15. Juni 2023 Das Thema der Woche Vom Wert des Eigennutzes 5 Was, wenn Adam Smith im digitalen Zeitalter leben würde? Vermutlich würde er versuchen, mit der neuen Technologie die Produktion anzuheizen. Ein Gedankenspiel – inklusive eines fiktiven, historischen Dialogs via ChatGPT. Die unsichtbare Hand 2.0 Von Adrian Lobe Im Jahr 1756 eröffnete der schottische Instrumentenbauer James Watt an der Universität Glasgow eine Werkstatt, wo er unter anderem Musikinstrumente, Teleskopteile und Barometer reparierte und verkaufte. Zu seinen Kunden gehörte kein Geringerer als Adam Smith. Der berühmte Nationalökonom, der ein paar Jahre zuvor zum Professor für Moralphilosophie an der Universität berufen worden war, hatte ein paar Meter entfernt seinen Hörsaal, wo er in seinen Vorlesungen zur Jurisprudenz unter anderem auch über die Wirkung von Alkoholsteuern dozierte. Glasgow war damals ein recht verschlafenes Studentenstädtchen, der Campus überschaubar, und so kam es, dass Professor Smith öfter mal im Reparaturgeschäft von Herrn Watt vorbeischaute. Die beiden Schotten konnten unterschiedlicher nicht sein: Smith, das Wunderkind aus gutem Hause, der schon mit 14 Jahre auf die Uni ging und – comme il faut – von seinen Eltern auf Bildungsreise nach Frankreich geschickt wurde. Dort der Schrauber und Outsider Watt, der von der Gilde der Hammerschmiede abgelehnt worden war, weil er seine Lehre außerhalb der Bannmeile von Glasgow absolviert hatte und sein Vater kein Bürger der Stadt war. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Sozialisation freundeten sich die beiden Männer schnell an. Während Smith an seinem Monumentalwerk „Wohlstand der Nationen“ schrieb, bastelte Watt ein paar Meter weiter entfernt in seiner Werkstatt am Prototyp seiner Dampfmaschine. Wäre der Ökonom von Twitter fasziniert? Die beiden Schöpfungen haben die Welt verändert: Smith schuf die Grundlage der freien Märkte, Watt die Grundlage der Industrialisierung. Der Ökonom erklärte den Wohlstand, der Instrumentenmacher baute ihn. Was der liberale Vordenker theoretisch ausbuchstabierte – Produktivitätsgewinne durch Arbeitsteilung und Spezialisierung –, hat Watt mit seiner Erfindung praktisch erst ermöglicht. Hätten Smith und seine Professorenkollegen sich nicht dafür eingesetzt, dem unglückseligen Tüftler eine Werkstatt zur Verfügung zu stellen, wäre vielleicht Smith auch nicht als großer Ökonom in die Geschichte eingegangen. Leider gibt es keine überlieferten Briefkorrespondenzen. Man wüsste daher zu gern, was die beiden Herren mit ihrem schottischen Akzent damals diskutierten. Nachfrage bei ChatGPT: „Schreibe einen Dialog zwischen James Watt und Adam Smith, in dem es um Dampfmaschinen, Automatisierung und Arbeitsteilung geht.“ Antwort: „James Watt: Guten Tag, Adam. Wie geht es Ihnen? Adam Smith: Hallo James. Mir geht es gut, danke. Wie geht es Ihnen? Watt: Mir geht es ebenfalls gut. Ich wollte mit Ihnen über meine Erfindung sprechen – die Dampfmaschine. Smith: Ah, ja, ich habe davon gehört. Es ist eine faszinierende Erfindung. Was haben Sie vor? Watt: Ich möchte die Effizienz der Industrie steigern und die Produktion beschleunigen. Die Dampfmaschine kann schwere Arbeit Collage: Alice Sowa (unter Verwendung von Bildern von iStock/Suriyapong Koktong & imago / United Archives International und imago / H. Tschanz-Hofmann leisten und ist ein großer Schritt in Richtung Automatisierung. Smith: Das klingt interessant. Ich habe in meinem Buch „The Wealth of Nations“ über die Vorteile der Arbeitsteilung und Spezialisierung in der Produktion gesprochen. Wie könnte Ihre Erfindung dazu beitragen? Watt: Nun, meine Dampfmaschine kann eine Vielzahl von Aufgaben übernehmen und somit die Arbeitsteilung erleichtern. Mit dieser Automatisierung könnten wir die Effizienz der Produktion verbessern und gleichzeitig die Kosten senken. Smith: Das klingt vielversprechend. Ich glaube, dass Automatisierung und Arbeitsteilung der Schlüssel zur Verbesserung der Produktion sind. Es könnte dazu beitragen, dass wir in der Lage sind, mehr Güter und Dienstleistungen zu produzieren, was wiederum dazu beitragen könnte, den Wohlstand zu steigern. Watt: Das denke ich auch. Ich bin begeistert von den Möglichkeiten, die meine Erfindung bieten kann. Smith: Ich denke, wir sollten uns zusammentun und darüber sprechen, wie wir die Produktion verbessern können. Ihre Dampfmaschine und meine Ideen über Arbeitsteilung und Spezialisierung könnten eine unschlagbare Kombination sein.“ Der fiktive, historisierende Dialog zeigt, wie Maschinen heute auch die geistige Produktion beeinflussen. Smith würde heute wahrscheinlich auch ChatGPT nutzen, „ Die Theoriefigur des Moralphilosophen erscheint im Datenkapitalismus, wo Tech-Konzerne mit Big-Data-Analysen die Nachfrage von Kunden berechnen, in neuem Licht. “ um Abstracts seiner Aufsätze zu schreiben, und vermutlich würde er seinen eigenen Wikipedia-Eintrag bezüglich seines undokumentierten Geburtstags prüfen. Er wäre fasziniert von Werkzeugen wie Google Trends oder Twitter, auch wenn er seine Gedanken vermutlich nie öffentlich teilen würde, weil er immer Angst hatte, dass dies den Absatz seiner Bücher schwächen könnte oder seine Arbeit missverstanden würde. Der Ökonom würde sich aber wohl sehr über die Mechanik der Plattformökonomie wundern: die Neigung zu Monopolstrukturen, die Winner-takes-all-Märkte, die algorithmische Preisbildung. Smiths Theoriefigur der „unsichtbaren Hand“ erscheint im Datenkapitalismus, wo Tech-Konzerne mit Big-Data-Analysen die Nachfrage von Kunden berechnen, in neuem Licht. Amazon hat vor einigen Jahren ein vorausschauendes Logistiksystem patentieren lassen, bei dem Waren verschickt würden, noch bevor der Kunde auf den Bestellknopf gedrückt hat. Jack Ma, der Gründer des chinesischen Online-Riesen Alibaba, sagte vor ein paar Jahren auf einer Konferenz: „Weil wir Zugang zu allen möglichen Daten haben, werden wir womöglich in der Lage sein, die unsichtbare Hand des Marktes zu finden (...) Im Zeitalter der Daten ist es so, als hätten wir ein Röntgen- und CT-Gerät für die Weltwirtschaft (...).“ Wird durch Künstliche Intelligenz die perfekte Planwirtschaft möglich? Die Idee geht zurück auf die sozialistische Kalkulationsdebatte: Eine Gruppe linker Ökonomen um Oskar Lange postulierte in den 1920er und 1930er Jahren, Lesen Sie auch den Text von Manuela Tomic „Kapitalismus am Ende?“ (16.11.2022) auf furche.at. Forscher- Freunde Wie gestalteten sich die Unterhaltungen zwischen Smith (li.) und Watt? Leider ist kein Briefwechsel überliefert. Heute würden sich die Forscher wahrscheinlich via Handy austauschen. dass ein „Zentrales Planungsamt“ Kapitalmärkte „simulieren“ könne. Die neoklassischen Ökonomen um Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises hielten dagegen: Die Informationsfunktion von Preisen könne nicht simuliert werden. Die Planer wissen nicht, wie viele Autos, Toaster und Türgriffe produziert werden müssen, um den Bedarf zu decken. In seinem 1967 publizierten Aufsatz „The Computer and the Market“ argumentierte Lange, dass Märkte als ein „Computergerät des präelektronischen Zeitalters“ fungieren, das dazu diene, simultan ein Gleichungssystem zu lösen. Ob eine Planwirtschaft funktioniert, hänge davon ab, ob man einen Computer mit genügend Rechenleistung bauen kann. Wankt mit dem Fortschreiten der Informationstechnologie Smiths Vermächtnis? Der Liberalismus ist in die Defensive geraten. Die USA, einst der Hort der Freiheit, schotten ihre Wirtschaft ab und führen Handelskriege. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sieht sein Land in einer „Kriegswirtschaft“. Und Tech-Konzerne triumphieren mit den Rezepten aus der sozialistischen Mottenkiste: einer linken, kommunitaristischen Rhetorik („Caring is Sharing“), der Abschaffung von Privateigentum an Daten, die im Namen der Community vergesellschaftet bzw. kapitalisiert werden sowie einer computergestützten Planwirtschaft. Die unsichtbare Hand des Marktes ist in einen roten Handschuh gehüllt. Nächste Woche im Fokus: Wien steht kurz davor, zum historisch zweiten Mal die Zwei-Millionen-Marke zu erreichen. Eine Herausforderung angesichts zunehmender Hitze und steigenden Mietkosten. Wie kann dennoch ein guter Lebensraum gelingen?
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