DIE FURCHE · 24 20 Ausstellung 15. Juni 2023 Der Wahrheitsgehalt von Bildern steht im Fokus der „Foto Wien“, die heuer zum 10. Mal stattfindet. Wirklichkeit oder Lüge? Von Wenzel Müller Nein, anheischig gibt sich die „Foto Wien“ heuer nicht. Eine Totenkopfmaske auf ihrem Werbeplakat. Dazu der Titel des Festivals: „Die Lügen der Fotografie“. Man könnte geradewegs meinen, Besucher sollen ferngehalten werden. Sollen sie aber natürlich nicht. Die Veranstalter wollen vielmehr mit gezielter Provokation Neugier wecken. Die Totenkopfmaske, die auch den Ausstellungskatalog ziert, was zeigt sie überhaupt? Einen alten Menschen? Oder einen Schauspieler, der gerade geschminkt wurde? Oder ein künstlich-digital hergestelltes Konstrukt? Je länger wir das Bild betrachten, desto mehr gerät unsere erste Vermutung ins Wanken. Damit wird eine grundlegende Frage der Fotografie berührt: Liefert sie, wie ihr traditionell attestiert wird, tatsächlich ein getreues Abbild der Wirklichkeit? Diese Ansicht wurde gerade in jüngster Zeit nachhaltig erschüttert, durch ein Bild, das durch alle Medien ging: der Papst in weiß-puffiger Daunenjacke. Nein, das hatte kein Paparazzi geschossen, sondern es wurde durch ein KI-Programm erstellt. Ein paar Textbefehle eingegeben, und schon spuckt es täuschend echte Bilder aus. Robert Capa Bei einer Reise durch die Sowjetunion 1947 hielt der Fotograf (1913‒1954) das Leben der Bevölkerung fest. Bild oben: „Woman gathering a bundle of hay on a collective farm“, Ukraine, UdSSR, 1947; unten: „Girl sitting on wooden fence on a collective farm“, Ukraine, UdSSR, 1947. Fakt oder Fake? Die heurige „Foto Wien“ greift also ein heiß diskutiertes Thema auf: Wie sehr können wir Bildern noch trauen? Künstlerischer Leiter des Festivals ist erstmals Felix Hoffmann, der voriges Jahr das Foto Arsenal Wien übernommen hat, ein Fotografiezentrum, das seine Pforten erst Ende 2024 öffnen wird. Da die Bauarbeiten an diesem neuen Zentrum noch andauern, findet die „Foto Wien“ vorübergehend Unterschlupf im MuseumsQuartier. Dort befindet sich ihre Zentrale, mit Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen. Dazu kommen zahlreiche weitere Standorte, die nun einen Monat lang ganz im Zeichen der Fotografie stehen. Hier die Arbeiten junger Künstlerinnen, dort eine Verkaufsausstellung von Vintagebildern. Anders als es der Titel vermuten lässt, werden nicht ausschließlich „Lügen“ präsentiert. Oder doch. Das hängt ganz davon ab, wie eng oder weit man den Begriff Jürgen Klauke Mittels Gepäckscanner schuf der 1943 geborene Fotokünstler in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren Werke wie dieses: „Toter Fotograf“, 1988/1993. fasst. Die ersten Arbeiten der Fotografiegeschichte waren Architekturaufnahmen, ohne Menschen auf der Straße. Natürlich waren die auf der Straße, nur wurden sie aufgrund der damals noch üblichen langen Belichtungszeit in ihrer Bewegung nicht erfasst. Diese fotografischen Dokumente zeigen also nicht die ganze Wahrheit. Anders formuliert: Schon in ihren Anfängen log die Fotografie. Heute denken viele, die Retusche begann mit Photoshop (ab 1987), diesem technischen Hilfsmittel, mit dem man Hautpickel verschwinden und eine Person schöner aussehen lassen kann, als sie in Wirklichkeit ist. Doch schon früher, in analogen Zeiten, war es möglich, wenn auch mit größerem Aufwand, Personen aus einem Bild zu entfernen. Was ist Fakt, was Fake? Diese Frage stellen wir uns jetzt insbesondere bei den Kriegsbildern, die uns aus der Ukraine erreichen. Welche Fotos vor Ort aufgenommen wurden und welche Archivmaterial sind, das kann nur ein Militärexperte beurteilen. Die Machthaber geben mit gutem Grund nur ausgewähltes fotografisches Material frei, wissen sie doch um die Macht des Bildes, um dessen Potenzial, die Stimmung der Öffentlichkeit in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dazu ist es nicht einmal nötig, ein Foto zu manipulieren. Das berühmteste Kriegsfoto, daran erinnert Anton Holzer in seinem Katalogbeitrag, stammt von Robert Capa, 1936 im Spanischen Bürgerkrieg aufgenommen: Der „fallende Soldat“. Gerade scheint er von einer Kugel getroffen worden zu sein. Scheint – weil bis heute umstritten ist, ob der Fotograf tatsächlich Zeuge dieses einmaligen Augenblicks zwischen Leben und Tod war oder die Szene nachgestellt wurde. Die Kraft der Fotografie lag schon immer in ihrer niederschwelligen Glaubwürdigkeit. Gerade dies macht sie interessant für Menschen mit finsteren Absichten. Aber auch für künstlerisch ambitionierte Fotografen, die die Aufnahme (die eigene oder auch die anderer Menschen) als Rohmaterial verwenden, um daraus mittels Bearbeitung ein neues künstliches Bild zu erschaffen. Die Verfremdung als kreativer Akt. Manche nennen das Ergebnis auch: eine Lüge. Foto Wien 2023 Bis 30. Juni 2023 Ausstellungen, Präsentationen, Veranstaltungen www.fotowien.at IN KÜRZE LITERATUR ■ Cormac McCarthy (1933–2023) Der US-amerikanische Bestsellerautor ist im Alter von fast 90 Jahren in seinem Haus in Santa Fe gestorben. Obwohl er bereits ein Dutzend Romane veröffentlicht hatte, war Cormac Mc- Carthy jahrzehntelang nur wenigen Experten und Fans ein Begriff. Weltberühmt machte ihn dann Hollywood. Der Westernthriller „No Country for Old Men“ – eine Geschichte über einen erfahrenen, sowohl job- als auch lebensmüden Sheriff und einen Vietnamveteranen, die im südlichen Wüstengebiet der USA mit einem Massaker durch die Drogenmafia konfrontiert werden – gewann 2008 vier Oscars. Auch sein Buch „All the Pretty Horses“ (1992) wurde verfilmt und zum Bestseller, ebenso Foto: Stephen Lovekin / AFP Getty / picturedesk.com der 2006 veröffentlichte Roman „The Road“, der ihm auch den Pulitzer-Preis bescherte. Geboren 1933 in Rhode Island und als Sohn eines Anwalts mit fünf Geschwistern in Tennessee aufgewachsen, hielt sich McCarthy selbst so weit es ging von der Öffentlichkeit fern und gab nur selten Interviews. Er war unbequem, drastisch – für seinen Kollegen Stephen King freilich der „vielleicht größte amerikanische Schriftsteller“ seiner Zeit. LITERATUR ■ Joyce Carol Oates, 85 1938 wurde sie in Lockport, New York, geboren. Sie zählt zu den vielseitigsten und bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart und gilt seit Jahren als Anwärterin für den Nobelpreis für Literatur. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award für „them“, dem Man Booker International Prize und dem Jerusalem Prize. Dreimal war sie für den Pulitzer-Preis nominiert, für „Black Water“, „What I Lived For“ und für „Blonde“. Am 16. Juni feiert die vielschreibende Schriftstellerin ihren 85. Geburtstag. MEDIEN ■ ORF-Gesetz im Nationalrat Die ORF-Gesetzesnovelle hat den Ministerrat passiert, eine entsprechende Regierungsvorlage wurde im Nationalrat eingebracht. Die Novelle bringt einen neuen „ORF-Beitrag“ in Höhe von 15,30 Euro pro Monate als Haushaltsabgabe für alle – statt der gerätegekoppelten GIS-Gebühr von 18,59 Euro. Zugleich erhält der ORF mehr Möglichkeiten im digitalen Raum, die Siebentagebeschränkung für Abrufe in der TV- Thek wird ausgedehnt. Wie geplant, soll die „blaue Seite“ orf.at beschränkt werden, dem Verband Österreichischer Zeitungen (VÖZ), der die „Zeitungsähnlichkeit“ von orf.at kritisiert, geht dies aber nicht weit genug.
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