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DIE FURCHE 15.06.2023

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DIE FURCHE · 24 2 Das Thema der Woche Vom Wert des Eigennutzes 15. Juni 2023 AUS DER REDAKTION Wie gehen Wohlstand und Moral zusammen? Darüber könnten die beiden ungleichen Stürmer und Dränger, Andreas Babler und René Benko, wohl trefflich streiten. Der vor 300 Jahren geborene schottische Moralphilosoph, Ökonom und Aufklärer Adam Smith sah jedenfalls einen Konnex. Welchen, hat Brigitte Quint im aktuellen Fokus „Vom Wert des Eigennutzes“ zusammengeführt. Den Bogen von Smith zurück zu Babler schließt im „Klartext“ Wilfried Stadler – während Wolfgang Machreich in Studien Hinweise sieht, dass eine klare Links-Positionierung für die SPÖ nicht die schlechteste Entscheidung gewesen sein könnte. Es bleibt jedenfalls spannend in der Sozialdemokratie. Das kann man übrigens auch von Serbien behaupten, wo Zehntausende nicht nur gegen Massenmorde, sondern auch gegen das autokratische Regime von Aleksandar Vučić demonstrieren. Vedran Dhizic hat für uns dazu einen Essay verfasst. Wie krankmachend Überforderung für Ärztinnen und Ärzte ist, beschreibt Jana Reininger, Michaela Hessenberger skizziert die Zwänge, mit denen homosexuelle katholische Religionslehrer leben – und Judith Kohlenberger kommentiert den „historischen Durchbruch“ beim EU-Asylrecht. Mit einem brillanten Essay über „Verzählungen“ von Daniel Wisser eröffnet das Feuilleton – und der Psychiater Ansgar Rougemont stellt im Interview fest, dass wir nicht so weiter wirtschaften können wie bisher. So viel Moral muss bei allem Wohlstand sein. (dh) Die Funken des Lebens à la Michelangelo (hier ein Ausschnitt von dessen „Erschaffung Adams“) hatte Smith ohne die Lehre der Erbsünde interpretiert. Er gilt als Deist. Der Ethik schrieb Adam Smith die Aufgabe zu, den Weg zum diesseitigen Glück aufzuzeigen. Gleichzeitig betonte er die Beziehung zwischen Wohlergehen und menschlicher Natur. Welche Weltanschauung steckt dahinter? Ein Gastbeitrag des Philosophen Gerhard Streminger. Foto: istock / estelle75 Von Gerhard Streminger Adam Smith wurde wahrscheinlich am 16. Juni 1723 in der schottischen, frühindustrialisierten Hafenstadt Kirkcaldy – wie Edinburgh am Firth of Forth gelegen – geboren. Die wenigen uns bekannten Hinweise lassen vermuten, dass er einer frommen, aber nicht frömmelnden Familie entstammte. Als knapp nach dem Tod des Vaters eine Liste des Hausinventars erstellt wurde, standen etwa 80 Bücher in den Regalen, wobei die meisten religiösen Inhalts waren. Auch dürften religiöse Bilder an den Wänden gehangen haben, so auch eines von der Jungfrau Maria, eines von den Heiligen Drei Königen und eines von Johannes Calvin. Diese Tatsache legt den Schluss nahe, dass der spätere Aufklärer religiös, aber nicht sektiererisch erzogen worden war. Der kleine Adam wuchs durchaus privilegiert auf. Seine Mutter war Spross einer der mächtigen, begüterten Familien Schottlands, nämlich der Douglas, die seit dem Mittelalter die Geschicke ihres Landes mitbestimmte. Smiths Vater wiederum war Rechtsanwalt, verstarb aber noch vor der Geburt seines später so berühmten Sohns, der somit als Halbwaise groß wurde. Als Dreijähriger Opfer einer Entführung Aus Adams ersten Lebensjahren ist nur ein konkretes Ereignis bekannt: Als er etwa drei Jahre alt war, besuchte seine Mutter mit ihm ihren Bruder in Strathenry Castle nahe Leslie, nur wenige Meilen von Kirkcaldy entfernt. Adam spielte allein vor dem Schloss, als eine Roma- oder Sintifrau vorbei kam und ihn mitnahm. Sein Verschwinden wurde rasch bemerkt und die Suche aufgenommen. Als die Kidnapperin bemerkte, dass sie verfolgt wurde, floh sie in den Wald und ließ das schreiende Kind allein zurück. Unversehrt wurde Adam wieder ins Haus gebracht. Dieser Vorfall dürfte die Sorge seiner Mutter um ihren einzigen, kränklichen Sohn, den sie – untypisch für calvinistische Gesellschaften – regelrecht verhätschelt haben soll, noch um einiges gesteigert haben. Lesen Sie auch ein Interview mit Konrad Paul Liessmann: „Vernunft und Glaube: getrennte Welten“ (22.9.2016) auf furche.at. Der Glaube an die Ideen einer klugen Gottheit Gewiss gehörte der sonntägliche Kirchgang zu den Selbstverständlichkeiten der Woche. Nachhaltigen Eindruck könnte diese Verpflichtung insofern gemacht haben, als Smith in späteren Jahren gedankenlose religiöse Riten strikt ablehnte. Aber zeitlebens interessierten ihn ethische Fragen – eine Wissbegierde, die durch die wöchentlichen Predigten genährt worden sein dürfte, wenn auch in unbeabsichtigter Weise. Denn die calvinistische Doktrin von der völligen Verderbtheit unserer Natur – als Folge des Sündenfalls von Adam und Eva – lehnte Smith zumindest als Erwachsener vehement ab und entwarf als Philosoph ein diametral entgegengesetztes Menschenbild. „ Der dritte Antrieb für Moralität: Nicht nur geliebt, sondern auch liebenswert zu sein, der Zuneigung anderer teilhaftig zu werden. “ Von 1737 bis 1740 studierte er an der Universität Glasgow und fand in der Person Francis Hutcheson einen höchst anregenden Lehrer. Weniger als Autor, aber als Lehrer war Hutcheson weithin bekannt. Inmitten einer fanatischen Umwelt lehrte er seine Studenten die Schönheit von Toleranz und Humanität. Obwohl selbst Geistlicher, war Hutcheson überzeugt, dass Menschen auch ohne Religion wissen könnten, was gut und böse sei, und dass ein ethisches Leben darin bestehe, das Glück anderer zu fördern. Diese Lehren trugen ihm seitens Gottesfürchtiger Beschimpfungen ein, lautete doch das calvinistische Dogma, dass Menschen nur aufgrund der Gnade Gottes moralisch sein könnten und dass den meisten die Hölle vorherbestimmt sei. Aber Hucheson, der gemeinhin als „Vater der schottischen Aufklärung“ gilt, hörte nicht auf, die Häresie zu lehren. Er war überzeugt, dass die Natur des Menschen nicht verderbt, sondern dieser eher geneigt sei, sich tugend- als lasterhaft zu verhalten. Gefühle als Basis moralischen Wissens In der 1759 publizierten „Theorie der ethischen Gefühle“ arbeitete Smith dieses positive Menschenbild weiter aus, wobei er auch aus anderen Quellen schöpfte: So hatte sein religionskritischer Freund David Hume in der 1751 veröffentlichten Untersuchung über die Prinzipien der Moral ebenfalls ein positives Menschenbild gezeichnet und die These vertreten, dass aufgeklärte, kultivierte Gefühle die Basis moralischen Wissens seien. Somit ist unsere Kenntnis von Gut und Böse kein rein rationales Wissen. Der Verstand vermöge zwar mithilfe von Erfahrung und Experiment Wahres und Falsches zu erkennen, nicht jedoch Richtiges und Unrichtiges. Neben den genannten Philosophen wurde Smith in seiner Anthropologie in entscheidender Weise vom Deismus inspiriert, einer damaligen religiösen Strömung, die ebenso ein anspruchsvolles Menschenbild nahelegte: Isaac Newton hatte gezeigt, dass durch die Annahme einer Anziehung der Massen sowohl das Fallen eines Apfels als auch die rätselhaften Bewegungen der Planeten erklärt werden könne. Es herrsche also Ordnung im Universum, wodurch Leben erst möglich wurde. Diese Geordnetheit, so folgerten die konfessionsfreien Deisten, lässt auf einen gütigen Schöpfer schließen, welcher der Natur seine Ideen für ein wohlgeordnetes Ganzes einschrieb. Also nicht im Buch der Bücher, sondern im Buch der Natur finden wir Gotttes weise Ratschlüsse! Aber welche sind es in der Natur des Menschen? Zunächst bestimmt Smith als Aufgabe der Ethik, den Weg zu diesseitigem Glück aufzuzeigen. Wirkliches Wohlergehen können Menschen seiner Ansicht nach nur dann erfahren, wenn sie moralisch sind. Somit ist es Aufgabe der Ethik, uns über den Weg zu einem moralischen Leben aufzuklären. Um dies leisten zu können, so Smith weiter, bräuchten Moralphilosophen nur die menschliche Natur ernst zu nehmen. Dort fänden sich Antriebe, die uns zu einem moralischen und damit glücklichen Leben motivieren. Konkret sind es deren drei: Den ersten Antrieb zu einem moralischen Leben nennt Smith sympathy. Weil Menschen soziale Wesen sind, verspüren sie den Wunsch, andere zu verstehen und an deren Situation Anteil zu nehmen, also mitzufühlen. Sympathy ist ein tief verwurzeltes emotionales Teilen und Anteilnehmen, das fundamentaler als Sprechen ist. Smiths Ethik nimmt ihren Ausgang von einer Form zwischenmenschlicher Kommunikation, der Philosophen, auch und gerade seit Immanuel Kant, wenig Beachtung schenkten. Vergeltungsgefühl als „Schutzwächter“ Der zweite Antrieb zu einem moralischen Leben ist das Vergeltungsgefühl (resentment), worunter Smith einen Sinn für Gerechtigkeit versteht. Dieser ist, so schreibt er, der „Schutzwächter der Gemeinschaft“, um die „Schwachen zu schützen, die Ungestümen zu zähmen und die Schuldigen zu züchtigen“. Aufgrund dieses Antriebs verändern Menschen die Gesellschaft um der Gerechtigkeit willen. Aber dieser Antrieb richtet sich auch gegen sie selbst und schafft Gewissensbisse, sollten sie Unrechtes getan haben.

DIE FURCHE · 24 15. Juni 2023 Das Thema der Woche Vom Wert des Eigennutzes 3 Der dritte Antrieb zur Moralität findet sich meines Wissens nur bei Smith. Er bestimmt ihn als den Wunsch, nicht nur geliebt zu werden, sondern auch liebenswert zu sein, also zurecht der Zuneigung anderer teilhaftig zu werden. Um dies herauszufinden, bedarf es der Perspektive der Unparteilichkeit, die eine Distanz zu uns selbst und anderen schafft. Die ethischen Empfindungen des unparteiischen Betrachters (oder guten Richters) sind dann der Maßstab für das Gute und Richtige, sie entscheiden, ob man sich liebenswert verhalten hat oder nicht. Smiths Betonung der Notwendigkeit von Unparteilichkeit im Prozess der Entwicklung eines ethischen Bewusstseins dürfte auf Kant einen mächtigen Einfluss ausgeübt haben, der Smith seinen „Liebling“ genannt haben soll. Smith, der Deist, lokalisierte also in der Menschennatur mehrere Antriebe, ein moralisches und damit glückliches Leben zu führen. Dieser Sichtweise liegt eine Hochschätzung antiken Gedankenguts zugrunde. Denn gemäß traditioneller christlicher Lehre leben wir in einem nach-paradiesischen Zustand voll Leid und Übel – Gott hat die Menschen wegen der Ursünde aus dem Paradies vertrieben. Somit gibt es großen Anlass zur Zerknirschung, aber kaum triftige Gründe, von der Natur zu lernen. Viel eher soll sie überwunden, bekämpft, gestaltet und nutzbar gemacht werden. Lange Zeit war „Natur“ das Andere des Seins des Menschen, dessen Welt sich über das Natürliche erhob. Smith dachte ganz anders: In der Natur, gerade auch der menschlichen, zeigen sich die Ideen einer klugen Gottheit. Ethik ist für ihn das Bewusstmachen dieser natürlichen Ordnung, ein moralisches Leben ist seiner Ansicht nach ein naturgemäßes. Wie alle Deisten lehnte auch Smith die Ursündenlehre entschieden ab. In dem vielleicht größten deistischen Kunstwerk, in Joseph Haydns „Die Schöpfung“, fehlt die Geschichte von der Foto: istock / bradleyhebdon geliebt hat oder lieben wird, und den ich gewiss mehr liebte und achtete, als ich jemals jemanden lieben oder achten werde, als einen sehr schweren Schlag zu empfinden.“ Wohltäter und Menschenfreund Mit langen Unterbrechungen hatten die beiden etwa 45 Jahre lang in einem Haushalt gelebt. Da er ihr einziges Kind war und sie für ihn der einzige Elternteil, war ihre Beziehung besonders innig. Ein Freund des Hauses meinte einmal, dass einer der direktesten Wege zu Smiths Herzen der über seine Mutter sei. Nach ihrem Tod magerte Smith bis zum Skelett ab. Viele sahen in der großen Trauer ein Indiz dafür, dass er nicht zu jenen gehörte, die an ein Weiterleben in einer Welt jenseits dieser glaubten. Im September 1788 traf ihn ein weiterer schrecklicher Verlust: Die Cousine war gestorben und ließ Smith, wie dieser in einem Brief bemerkte, „als einen der elendsten Menschen in Schottland zurück“. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich erneut, und als schließlich auch noch, auf Smiths ausdrücklichem Wunsch, sein Großneffe nach Glasgow ging, um zu studieren, war der alternde Philosoph „allein und hilflos“ (D. Stewart). Der Kreis eines engeren Familienlebens, das Smith einige Jahre lang genossen hatte, war endgültig zerbrochen. Im Juli 1790 starb Smith in Edinburgh. Als seine sterblichen Überreste zu Grabe getragen wurden, hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, darunter viele Trauernde, die üblicherweise den letzten Weg eines Universitätsprofessors nicht begleiten. Smith, der Menschenfreund, hatte einen Großteil seiner immensen Einkünfte den Armen der Stadt geschenkt. Wohltätigkeit war für den Begründer der Politischen Ökonomie nicht bloß eine Sache des Herzens, sondern auch der Hände. „ Viele sahen in Smiths großer Trauer um seine Mutter ein Indiz dafür, dass er nicht zu jenen gehörte, die an ein Weiterleben in einer Welt jenseits dieser glaubten. “ Verfehlung der ersten Menschen und – als verdiente Strafe Gottes – von der Vertreibung aus einem Paradies; vielmehr leben wir mitten darin. Obwohl Smith nur zwei Bücher veröffentlichte, geriet sein Erstlingswerk nach dem Tod des Autors rasch in Vergessenheit und findet erst jüngst wieder größere Beachtung. Dabei hielt Smith seine Ethik für wichtiger als seine Wirtschaftstheorie, die aus dem Geist der Moralphilosophie geboren war und diesem zeitlebens treu blieb. 1778 wurde Smith zum königlichen Zollkommissar in Edinburgh ernannt. Den Umzug von Kirkcaldy in die Hauptstadt machten auch seine inzwischen sehr betagte Mutter sowie Smiths Cousine mit, die schon seit Jahrzehnten bei ihnen wohnte. Da zudem Smiths Großneffe David Douglas, der 1769 geborene Sohn vom Bruder der Cousine bei ihnen lebte, erfuhr der Gelehrte erstmals so etwas wie ein reiches Familienleben. Die Cousine übernahm nun praktisch allein den Haushalt sowie die Betreuung und Pflege der alten Dame. Dadurch befreite sie den gelegentlich sehr zerstreuten Herrn Professor „von einer Verpflichtung, für die er besonders schlecht geeignet war, nämlich durch ihre freundliche Oberaufsicht von der Organisation des Haushalts“ – so Dugald Stewart, ein Freund Smiths, dessen erstmals 1794 erschiene Smith-Biografie die Grundlage aller späteren Darstellungen vom Leben des Philosophen ist. 1784 starb Margaret Smith, die ihrem genialen Sohn ein unbeschwertes Gelehrtenleben ermöglicht hatte. „Ich bin gerade zurückgekommen“, schrieb Smith seinem Verleger, „um an meiner alten, armen Mutter meine letzte Pflicht zu erfüllen … ich kann nicht umhin, die endgültige Trennung von einem Menschen, der mich gewiss mehr liebte, als mich jemals jemand Denkmal in Edinburgh Smith´Bronzestatue vor der St. Giles‘ Kathedrale wurde am 4. Juli 2008 errichtet. Etwa drei Monate später brach eine der schlimmsten Finanzkrisen der modernen Geschichte aus. Der Autor ist Philosoph und Professor i.R. an der Universität Graz. Seine Biografien und Kommentare zu Smith und David Hume gehören zu den deutschsprachigen Standardwerken. Adam Smith von Gerhard Streminger Rowohlt E-Book 2022. 160 Seiten 5,99 € Adam Smith. Wohlstand und Moral. Gerhard Streminger. C.H. Beck 2017. 254 Seiten. 24,95 € KREUZ UND QUER PADRE PIO UND DIE WUNDMALE – PORTRÄT EINES UMSTRITTENEN HEILIGEN DI 20. JUNI 22:35 Padre Pio von Pietrelcina (1887-1968), der die Stigmata – die Wundmale Christi – am eigenen Leib trug, galt vielen als charismatischer und wundertätiger Mann. Doch der Kapuzinerpater war schon zu Lebzeiten auch umstritten: Der Vatikan selbst verbot Pio zeitweise das öffentliche Auftreten. ORF-Regisseurin Cornelia Vospernik zeichnet in ihrer Doku ein differenziertes Bild des schillernden Kapuzinerpaters, der vor allem in der emotionalen süditalienischen Volksfrömmigkeit enorme Resonanz gefunden hat. religion.ORF.at Furche23_KW24.indd 1 06.06.23 15:17

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