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DIE FURCHE 15.06.2023

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DIE FURCHE · 24 10 Diskurs 15. Juni 2023 ERKLÄR MIR DEINE WELT Wenn ich heute schon so ehrlich mit Ihnen bin... Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche. at/podcast. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. „ Ich finde Provokationen gut. Aber ich hinterfrage den Dialog, wenn ich von Alltagssexismus erzähle – und Sie mit einer unterhaltenden Reizung antworten. “ Dieses Mal fällt es mir schwer, Ihnen zu antworten. Gerade jetzt, da sexualisierter Machtmissbrauch (der im Patriarchat seinen Ursprung findet) in aller Munde ist, höre ich aus Ihnen die Stimme des alten weißen Mannes sprechen. Ich nehme Ihren Vermerk, dass Sie die Bezeichnung „sehr hübsche Frau“ streichen sollten und dann noch einmal auf Ihre Bewertung ihrer Optik eingehen, als provokant wahr. Grundsätzlich finde ich Provokationen ja gut, sie können den Diskurs anregen. In diesem Fall mache ich mir jedoch Sorgen um den respektvollen Austausch zwischen uns. Ich hinterfrage den Sinn des Dialogs, wenn ich mich Ihnen (und unserem Publikum) öffne, von Grenzüberschreitungen und Alltagssexismus erzähle, welche ich erlebe – und Sie darauf mit einer unterhaltenden Reizung antworten. In einem saloppen Dialog fühlte sich Ihre Reaktion für mich wie folgt an. Ich schreibe: „Lieber Herr Gaisbauer, es fühlt sich echt nicht fein an, wenn man offensichtlich angestarrt wird, auch nicht, wenn der Grund dafür ist, dass man fesch ausschaut.“ Sie antworten mir: „Ich möchte es mir aber nicht nehmen lassen, eine Frau anzuschauen, wenn ich sie hübsch finde. Übrigens habe ich letztens eine sehr hübsche Frau angestarrt, ich kann nichts dafür, sie ist schuld, wäre sie nur nicht so hübsch, dann müsste ich sie nicht anschauen.“ Wenn ich heute schon so ehrlich mit Ihnen bin, wundert es mich nicht, dass die Person teilnahmslos schaute. Diese Aura ist manchmal auch mein Schutzmantel, um in Ruhe gelassen zu werden. Wissen Sie, ich stimme Ihnen zu, dass Blicke und Offenheit im zwischenmenschlichen Austausch wichtig sind. Ich möchte mich frei fühlen, diese auszutauschen. Ja, auch ich merke das in meinen Interviews mit Gesprächspartner(inne)n. Allerdings kam es schon häufig vor, gerade bei Männern, dass ich dann zum Beispiel zu hören bekomme: „Ich kann mich nicht konzentrieren, Sie schauen mich so lieb an.“ Also verzeihen Sie mir bitte meine heutige Emotionalität. (Warum bitte ich Sie gerade um Verzeihung? Anscheinend habe auch ich das Patriarchat internalisiert.) Männer hören Musik, Frauen Text? Abschließen möchte ich heute mit einem freudigen Beispiel von feministischer Arbeit und Unterhaltung. Am Wochenende war ich bei einer Live-Aufzeichnung von Mari Langs Podcast „Frauenfragen“. Auf der Bühne in der Kulisse Wien begrüßte sie einen Kabarettisten und stellte ihm Fragen, mit denen Journalist(inn)en klassischerweise weibliche Interviewpartnerinnen konfrontieren. Eigentlich ein lustiges und gleichzeitig informatives Spiel, Sie sollten sich den Podcast unbedingt anhören. Das Gesprächs-Ping-Pong ist allerdings getrieben von binären Geschlechterstereotypen. Ein Beispiel, der Kabarettist sagt: „Männer hören Musik und Frauen den romantischen Text.“ Mich schüttelt es bei dieser Verallgemeinerung. Mari Lang aber (und dafür feiere ich sie) geht ganz gelassen mit der Situation um. Sie bleibt ruhig und kontert trocken: „Also das macht mich traurig, das heißt, während wir Frauen bei einem Streit verstehen, was ihr Männer sagt und wollt, hört ihr nur unsere Tonlage?!“ Bam! Tosender Applaus im Publikum. Krieg ist ein Wort, das man nicht so schnell in den Mund nimmt. Doch die USA und die EU befinden sich mit Russland in einem symbolischen und einem wirtschaftlichen Krieg, während sich die Ukraine vor der Übermacht Russland tatsächlich mit Waffen verteidigt. Kein Wunder also, dass der größten Luftwaffenübung in der Geschichte der NATO in diesen Zeiten eine besondere Bedeutung zukommt. 250 Flugzeuge – davon 190 Kampfjets – und fast 10.000 Soldaten aus 25 Ländern nehmen an der Übung teil, die bis zum 23. Juni dauert. An dem Manöver unter deutscher Führung beteiligen sich vor allem NATO-Mitgliedstaaten, aber auch Japan und der NATO-Beitrittskandidat Schweden. Auch wenn der deutsche Luftwaffenchef und Kampfpilot Ingo Gerhartz betont, die Übung richte sich gegen niemanden, ist sie natürlich klarerweise eine Demonstration der Stärke und Einigkeit der NATO. Sie dient zur Einschüchterung Putins. Es wäre naiv anzunehmen, dass dem nicht so sei. Und das ist auch gut so. Ein Nebenschauplatz der Übung findet in Österreich statt: Dort sollen am Freitag zwei F-35-Tarnkappen-Bomber der US-Streitkräfte in Zeltweg landen. Der Grund ist die einjährige Partnerschaft des Bundesheeres mit der Nationalgarde des US-Bundesstaats Vermont. Amerikanische NATO-Jets auf österreichischem Boden? Auch das klingt in diesen Zeiten provokativ und lässt das neutrale Österreich in ei- LASS UNS STREITEN! Dürfen Nato-Jets in Österreich landen? Nein! Denn das macht die Diskussion oder das Festhalten an der Neutralität Österreichs noch unglaubwürdiger. Es ist geradezu zynisch angesichts der Tatsache, dass sich Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) vehement dagegen ausspricht, Entminungsexperten des Bundesheeres in die Ukraine zu schicken. Die Landung zweier US- F-35 „Lightning II“ am Rande der NATO-Großübung in Deutschland soll die Partnerschaft mit der Nationalgarde von Vermont untermauern, die das Bundesheer 2022 eingegangen ist. Die Vorbereitungen für den dazugehörigen pompösen Festakt am Militärflughafen Zeltweg laufen bereits auf Hochtouren, verlautbart das zuständige Ministerium. Doch während die einen das Anfliegen Österreichs als Höflichkeitsbesuch benem anderen Licht erscheinen. Doch so sehr sich Österreich um seine Neutralität bemüht: die geopolitischen Zeiten haben sich zu schnell verändert. Im März 2022 verkündeten die EU-Staaten bei einem Gipfel in Paris, dass sie im Falle eines Angriffs auch jene EU-Länder schützen würden, die kein NATO-Mitglied sind. Spätestens seit dieser Zusage muss auch Österreich Farbe bekennen. Unter dem Schutzschirm der NATO stehen, aber wenn es passt, immer die Neutralitätskarte zu spielen, reicht nicht mehr. Österreich ist schon wegen seiner geopolitischen Lage ein Land, dass diese Übung öffentlichkeitswirksam unterstützen sollte. Schließlich versteht Putin einzig die Sprache der Macht. Nur, wenn er seine Schwäche erkennt, beginnt er zu verhandeln. (Manuela Tomic) werten, mutmaßen andere, dass dies auch als Appell gesehen werden könnte. Die sicherheitspolitische Rosinenpickerei Österreichs ist zu offensichtlich. Die hoch gelobte Bündnisfreiheit kann sich das Land nur leisten, weil es von befreundeten Staaten umgeben ist, die wiederum fast alle Mitglieder der NATO sind. Somit ist Österreich auch ein Trittbrettfahrer, wenn es um militärische Investitionen der Nordatlantischen Allianz geht. Stünde ein Aggressor vor der Tür, hofft man hierzulande, in jedem Fall „beschützt“ zu werden. Für den „worst case“ wehrtechnisch gerüstet, ist das Bundesheer jedenfalls nicht. Die US-Mehrzweck-Kampfflugzeuge, die morgen, am 16. Juni, im steirischen Zeltweg zu sehen sein werden, verdeutlichen diese unwahrhaftige Position nur einmal mehr. Kritiker würden an dieser Stelle einwenden, dass ohnehin längst von einer „aktiven Neutralität“ die Rede ist. Meine Entgegnung: Das ist lediglich eine Hüllfloskel. Jene Mehrheit der Österreicher, die unbedingt an der Neutralität festhalten wollen, können mit diesem Euphemismus leben und jene Bevölkerungsteile, die sich mehr Sicherheitspolitik wünschen, werden damit vertröstet. „Aktive Neutralität“ ergibt daher nur innenpolitisch Sinn und ist außenpolitisch eine Farce. Es wäre also nur konsequent gewesen, sich zu 100 Prozent aus der NATO-Großübung herauszuhalten und die Ausgaben für den Festakt für einen anderen Zweck zu verwenden. (Brigitte Quint) Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Jana Reininger BA MA, Victoria Schwendenwein BA, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: 01 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo: € 181,– Uniabo (Print und Digital): € 108,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Anzeigen: Georg Klausinger 01 512 52 61-30; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Druck Styria, UW-NR. 1417

DIE FURCHE · 24 15. Juni 2023 Diskurs 11 Nach dem Migrationsgipfel in Luxemburg präsentierten die EU-Innenminister(innen) einen „historischen Durchbruch“. Doch wird diese Asylrechts-Reform halten, was sie verspricht? Ein Gastkommentar. Wird das Sterben im Mittelmeer jetzt beendet? Das muss man ihr zugutehalten: Die EU-Asylreform hat einen hohen Plausibilitätsanschein. Schnelle Verfahren an der Grenze, rasche Abschiebungen, endlich eine solidarische Verteilung von Geflüchteten unter den Mitgliedsstaaten, die insofern verpflichtend ist, als man sich zwar durch Kompensationszahlungen freikaufen, aber nicht gänzlich entziehen kann; Rückstellung in „sichere“ Herkunftsländer oder Drittstaaten. Noch dazu sind minderjährige unbegleitete Flüchtlinge davon ausgenommen; Familien mit Kindern nur deshalb nicht, um falsche Anreize zu vermeiden. Soweit, so plausibel – aber eben nur dem Klang nach. Denn der Teufel steckt wie so oft in der europäischen Asylpolitik im Detail. Schon allein die Terminologie – ob bewusst gewählt oder zufällig passiert – verschleiert den tatsächlichen Inhalt der Reform: „Grenzverfahren“ sind mitnichten faire, vollwertige Asylverfahren, sondern Vorprüfungen, ob Personen zu diesen überhaupt zugelassen werden. Dies kommt in letzter Instanz einer schleichenden Aushöhlung des Asylrechts gleich, stellt doch das Recht auf Asylantragstellung einen Kern dessen dar: Jeder Mensch, der Schutz sucht, hat Anrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren, in dem er seine Fluchtgründe darlegen darf und angehört wird. Dies ist in einem Grenzverfahren, das innerhalb von drei Monaten abgeschlossen werden soll, weder vorgesehen noch operativ machbar. Zwar wird seitens der Verhandler(innen), allen voran der deutschen Innenministerin, die sich bis zuletzt für den Schutz von Familien einsetzte, betont, dass Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung während des Grenzverfahrens gegeben sei. Doch die Praxis aus den Grenzstaaten lehrt das Gegenteil. Ebenso wird sich erst weisen, inwiefern sich Polen und Ungarn, die gegen die Reform stimmten, sanktionslos an einer „flexiblen Solidarität“ beteiligen werden. Sich bequem aus der Verantwortung stehlen Auf dem Papier ist vieles dessen, was die Mitgliedsstaaten vergangenen Donnerstag in Luxemburg entschieden haben, eine Verschärfung bestehender Regelungen. Der Zugang zu Asylverfahren in der EU wird erschwert, es Foto: Christian Lendl DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Judith Kohlenberger „ Je schärfer der Umgang mit Schutzsuchenden, desto höher das Risiko für all jene, deren Flucht alternativlos ist. “ sind haftähnliche Lager an den Außengrenzen geplant, zudem bekommen Geflüchtete zukünftig ein Preispickerl – wenn auch ein verkehrtes. Die 20.000 Euro pro Flüchtling muss nämlich zahlen, wer sie nicht haben will. Das ist nicht nur zynisch, sondern eröffnet für Mitgliedstaaten auch eine bequeme Möglichkeit, sich aus der Verantwortung zu stehlen und „den anderen“ die Versorgung und Integration von Schutzsuchenden zu überlassen. Der Plan ist also ambitioniert und, folgt man der massiven Kritik von Hilfsorganisationen und Expert(inn)en, drastisch. Ob er aber jemals Realität werden wird, bleibt fraglich. Zuerst einmal wäre da die operative Ebene, denn „einig“ ist man sich in der EU nicht, wenn der Rat zu einer Entscheidung kommt, sondern wenn das Parlament zugestimmt hat. Dieses zeigte sich in Asylfragen in der Vergangenheit zwar durchaus restriktiv, dennoch bleibt zu erwarten, dass die einzelnen Fraktionen noch starke Adaptierungen der Reformpläne vornehmen werden wollen, bevor sie entscheiden. Und dann wäre da noch die Frage der tatsächlichen Umsetzbarkeit. Angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre müssen wesentliche Eckpunkte der Reform als reine Träumerei abgetan werden. Der deutsche Rat für Migrati- on wies in einer ersten Stellungnahme auf Evidenz aus Pilotprojekten an den EU-Außengrenzen hin, die eine Art Blaupause für die jetzige Reform darstellen. Die Evaluierung dieser Projekte zeigte, dass menschenrechtliche Standards in Auffangzentren an der Grenze nicht eingehalten werden konnten. Ebenso wenig war Rechtsbeistand gewährleistet, vielmehr wurden Anwälte und NGOs kriminalisiert. Rückstellungen als Fiktion Ähnlich unwahrscheinlich ist, dass durch die Reform Sekundärmigration, also die Weiterreise von Schutzsuchenden von einem EU-Mitgliedsstaat in einen anderen, unterbunden wird. Weder Länder mit Außengrenzen noch Geflüchtete selbst hätten irgendeinen Anreiz dazu, im Gegenteil; niemand wird freiwillig in den Auffangzentren in den Grenzländern bleiben, doch zurück werden viele der abgelehnten Asylwerbenden ebenfalls nicht wollen. Noch dazu, weil ein zentraler Baustein der Reform, nämlich die Rückstellung von Geflüchteten in sichere Herkunftsländer oder Drittstaaten, ohne deren Einbeziehung beschlossen wurde. Welche Länder sich konkret dazu bereit erklären werden, die eigenen Staatsbürger(innen) oder gar nur durchgereiste Migrantinnen und Migranten aufzunehmen, bleibt offen. Vor allem aber fällt die Reform hinter das zentrale Versprechen der EU-Innenminister(innen) zurück, das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Die Annahme, dies würde durch mehr Abschottung und Auslagerung von Asylverantwortlichkeit gelingen, unterliegt einem fundamentalen Trugschluss, nämlich: Je „schärfer“ die Verfahren, desto weniger Menschen würden sich auf den Weg nach Europa machen. Dem muss auf Basis der wissenschaftlichen Evidenz und der Erfahrungen der letzten Jahre, die sukzessive Verschärfungen des EU-Asylregimes mit sich brachten, deutlich widersprochen werden: Je schärfer, härter und abgeschotteter Europas Umgang mit Schutzsuchenden, desto höher das Risiko für all jene, deren Flucht alternativlos ist. Die Autorin ist Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien und Autorin von „Das Fluchtparadox“ (Kremayr & Scheriau 2022). ZUGESPITZT Die Sünden der Jugend Andreas Bablers Sturm- und Drangjahre werden uns alle noch bestens unterhalten. Wie die Krone genussvoll extemporierte, soll Babler mit Mitte 20 als damaliger SP-Gemeinderat in Traiskirchen in der SJ-Mitgliederzeitung direkt – wenn auch indirekt – zum Verbrennen von Schulkreuzen aufgefordert haben, weil man diese als „öffentlichen Aufruf zur Gewalt, nämlich zum Annageln von Menschen auf Holz“ betrachten könne. Das Standard-Archiv wiederum spuckt aus, dass Babler noch Anfang 2020 nicht nur eine Marx-, sondern auch eine Leninbüste in seinem Bücherregal stehen hatte. Und da war er immerhin schon 46. Als Jugendsünde geht das eher nicht mehr durch. Übrigens ebenso wenig wie das, was der heute ebenfalls 46 Jahre junge René Benko so treibt. Dessen Sturm- und Drangzeit hat bekanntlich eher nicht in marxistischen Grundsatzdiskussionen bestanden, sondern darin, mit 20 seine erste (Schilling-)Million zu erreichen, zu Weihnachten 2017 mit Hilfe des noch jugendlicheren Sebastian Kurz die Leiner-Perle in der Mariahilferstraße zu kaufen, danach die ganze Kika-Leiner-Gruppe zu „retten“ und nach deren Verkauf, Insolvenz und geplanter Kündigung von 1900 Mitarbeitern um 300 Millionen Euro reicher zu sein. Ab wann ist man eigentlich erwachsen? Doris Helmberger NACHRUF Ein Cäsar, der Europas Teppich neu ausrollte Bevor Silvio Berlusconi den EU-Ratsvorsitz innehatte, lag im Eingangsfoyer des Brüsseler Ratsgebäudes ein roter Teppich. Auch nach Italiens Ratspräsidentschaft war der Vorleger wieder rot – und ist das immer noch. Nur während der sechs Monate im zweiten Halbjahr 2003, als Italien und sein Ministerpräsident im „Chefsessel Europas“ saßen, begrüßte die EU-Regierungschefs ein beigefarbener Teppich. Den Tausch hatte Berlusconi persönlich veranlasst. Er dachte, dass Beige seinen Teint besser zu Geltung bringe. Diese Erinnerung an den ebenso kapriziösen wie eitlen Berlusconi – der FURCHE vom damaligen Protokollchef des Rats erzählt – ist mehr als eine Anekdote. Sie beschreibt Berlusconis „Mit mir kann sich keiner vergleichen“-Selbstverständnis: Wenn ihm die Rahmenbedingungen nicht passten, egal ob in Wirtschaft, Medien oder Politik, dann rollte er einen für ihn vorteilhafteren Teppich aus. Und das „Who is Who“ aus der Welt der Mächtigen, Reichen und Schönen ließ sich nur zu gern vom „Cavaliere“ aufs Parkett führen oder zu Partys und darüber hinausgehendem Service einladen. Insofern gebührt „Italiens großem Verführer“ das zweifelhafte Verdienst, das Role Model heutiger Volksverführer allerorten zu sein. Für hüben wie drüben des Atlantiks hat Berlusconi meisterhaft vorgezeigt, wie sich Medienmacht in politisches Kapital und damit nicht geizend wieder in wirtschaftliche (Korruptions-) Erfolge ummünzen lässt. Wobei Berlusconi 2001 bei seiner zweiten Regierungsbildung das Glück hatte, dass die EU ihr Sanktionspulver im Jahr davor gegen Schwarz-Blau in Österreich und die Regierungsbeteiligung der FPÖ seines Senza Confini-Rechtspopulisten-Freundes Jörg Haider bereits verschossen hatte. Dass Berlusconi da von der EU der rote Teppich ausgelegt wurde und er ihn schwupps gegen einen beigen tauschen konnte, war keine Glanzstunde europäischer Grundsatz- und Wertepolitik. Aber auch nach seinem Tod wird Berlusconis Politikmodell nicht mit ihm zu Grabe getragen, sondern feiert inklusive der ihm eigenen Weinerlichkeit, wenn einmal gegen ihn entschieden wurde, fröhliche Urständ. Das zeigt dessen US-Alter Ego Donald Trump, der über die „Hexenjagd einer politisch motivierten Justiz“ gegen ihn schimpft. Und das werden Berlusconis cari amici weiter zeigen, wo und wann immer sie den Teppich ihres Paten und Vorbilds ausrollen. (Wolfgang Machreich) Foto: APA/AFP/ Tiziana FABI Silvio Berlusconi (1936-2023) hat vorgezeigt, wie sich Medienmacht und Korruption in politisches Kapital ummünzen lassen.

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