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DIE FURCHE 15.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 20 8 Religion 16. Mai 2024 Raus aus Irrelevanz Annette Schavan, ehemalige deutsche Bildungsministerin sowie Botschafterin beim Heiligen Stuhl, versteht das Christentum „als Perspektive, nicht als Retrospektive“. Kann man in den christlichen Kirchen noch mit Überraschungen positiver Art rechnen? Der Essayband „Pfingsten!“ von Annette Schavan ermutigt dazu. Impulse für pfingstliche Professionalität Von Andreas R. Batlogg SJ Dieses Lesebuch ist ein echtes Mutmachbuch. Ein Buch, das anregt. Den einen oder die andere wird es auch aufregen. Angeschrieben wird hier gegen die Gleichgültigkeit und gängige Szenarien des Niedergangs, die sich wie Mehltau über den kirchlichen Alltag gelegt haben – und die wirken: Wer will „mit so einer“ Kirche noch etwas zu tun haben? Umso mehr ist Herausgeberin Annette Schavan, ehemals Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft in den Kabinetten Merkel I und II sowie zuletzt deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl, daran gelegen, mit „Pfingsten!“ einen Kontrapunkt zu setzen. „Der Niedergang der Kirchen, beschrieben in vielen Sprachen, überdeckt die Kraft, die im Christentum immer noch und gerade heute steckt“, schreibt sie im Vorwort. Wie schon in ihrer früheren Veröffentlichung „geistesgegenwärtig sein“ ruft sie in Erinnerung, dass „Geistesgegenwart gefragt“ sei: „Daraus ergibt sich ein starker Impuls für einen Aufbruch der Christenheit und die Suche nach einer neuen, pfingstlichen Professionalität in den christlichen Kirchen“. Aufbruch in fragiler Zeit In ihrem Auftaktartikel „Worum geht es?“ fragt Schavan, was aus der „provozierenden Perspektive“ der Urgemeinden geblieben ist, die im jungen Christentum die „Kraft zur Weltgestaltung“ fanden. Heutzutage überwiegt, mindestens hierzulande, das Gefühl Andreas Batloggs Besprechung von Annette Schavans Essaysammlung „geistesgegenwärtig sein“ (1.9.2021) finden Sie unter „Gespür für das Christentum“ auf furche.at. „ Es gibt zu viele Analogien der Kirche unserer Zeit zur DDR kurz vor 1989. Der Karsamstag des Christentums ist schwer auszuhalten. “ Thomas Arnold der „Irrelevanz für die eigene Lebensgestaltung“, auch wenn Andrea Riccardi, der Gründer der Laiengemeinschaft Sant’Egidio, vom Christentum als einer „Perspektive, keine Retrospektive“ spricht – von Schavan oft zitiert. Seinerzeit war „ein Signal des Aufbruchs, eine stimulierende Kraft“ fällig. Das gilt heute ebenso: „Es braucht auch heute eine stimulierende Kraft – eine Aufbruchsgeschichte in fragiler Zeit.“ Stimulieren wollen die einzelnen Beiträge. Ihr Spektrum ist breit, der Duktus eindringlich, unter den 28 Autorinnen und Autoren finden sich klingende Namen wie Aleida Assmann, Heinz Bude, Ottmar Edenhofer, Tomaš Halík, Charlotte Kreuter- Kirchhof, Thomas de Maizière, Heribert Prantl, Volker Resing, Nikodemus C. Schnabel OSB oder Arnold Stadler, aus Österreich Waltraud Klasnic und Jan-Heiner Tück. Sie verschonen die Leser nicht mit Krisenbeschreibungen und bieten keine Rezeptur für Reformen. Deutlich wird: Geistesgegenwart ist nicht delegierbar. Aber das Ereignis von Pfingsten wird musealisiert, wenn dem Geist Gottes nicht auch heute subver- Foto: IMAGO / Future Image sive Überraschungen zugetraut werden. Thomas Arnold fragt eingangs, wie kirchlich Engagierte heute „Hoffnungsmacher“ werden können und warnt: „Es gibt zu viele Analogien der Kirche unserer Zeit zur DDR kurz vor 1989.“ „Der Karsamstag des Christentums“, so der langjährige Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, seit Kurzem im sächsischen Staatsministerium des Inneren tätig, „ist schwer auszuhalten“. Darauf setzt er: Räume für das Heilige zu entwickeln und die mystische Dimension des Christentums wiederzuentdecken. Der Theologe und Literaturwissenschaftler Markus Barth meint nüchtern: „Wer nicht weiß, was wann wegzuwerfen und endgültig zu vergessen ist, weiß von Tradition gar nichts. Alles muss raus, was nichts mehr taugt.“ In „spirituellen Dingen“ brauche es „Freischwimmer“. Analysiert werden auch die bisher elf Pfingstpredigten von Papst Franziskus, in denen der Heilige Geist als „Protagonist“ fungiert. Für eine „Renaissance gläubiger Zuversicht“ plädiert die Theologin Stefanie Geiger – weil die „immer gleichen Therapiefloskeln“ einer in „Selbstlähmung“ gefangenen Kirche nicht mehr ziehen. Von Tomaš Halík ist die Rede bei der europäischen Kontinentalversammlung in Prag (Februar 2023) nachgedruckt: „In jeder Phase der Kirchengeschichte müssen wir uns in der Kunst der Unterscheidung üben und am Baum der Kirche die lebendigen von den vertrockneten und toten Zweigen unterscheiden.“ Dass dies Konsequenzen hat für die Bereiche Ökumene, Bewahrung der Schöpfung oder die Friedensfrage, bei der Heribert Prantl „trotzige, pfingstliche Einsprüche“ und „verwegene Visionen“ vermisst, versteht sich von selbst. Der Publizist vermisst auch den Mut, dem Beten etwas zuzutrauen: „Gott, wenn es ihn gibt, ist kein Icon, das man anklickt, um das Programm zu öffnen, das man haben will.“ Die Germanistin Hanna Leitgeb geht das Risiko ein, als „Wischiwaschi-Kulturchristin“ denunziert zu werden, indem sie an Religion als „Kontingenzbewältigungsstrategie“ erinnert. Ähnlich Europa-Minister Nathanael Liminski, Leiter der Staatskanzlei von Nordrhein-Westfalen, der den Linken-Politiker Gregor Gysi zitiert („Ich glaube nicht an Gott, aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft“): Kirche müsse „überzeugende Sinnstiftung und gelebte Gemeinschaft vor Ort erfahrbar machen“ und dürfe sich nicht auf Strukturdebatten fixieren. Thomas de Maizière warnt vor einer Banalisierung von Pfingsten. Auch mit einfachen Beobachtungen: „Wenn ich ein Abo kündige, werde ich bestürmt, mir das noch mal anders zu überlegen. Tun wir das auch?“ „Stachel im Fleisch“ der Moderne Der Pfingststurm ist kein sanftes Mailüfterl. Der Publizist Volker Resing warnt davor, nur auf „Oasen der Frommen“ zu setzen, die gerade nicht „Stachel im Fleisch der Moderne“ (Jürgen Habermas) sein können (und wollen): „Die Kirche muss das Anderssein im Dabeisein erlernen.“ Pfingsten als „ein Zusammenkommen von Sehnsüchtigen“ – das klingt mir vom Abt der Jerusalemer Dormitio-Abtei nach. Sehnsucht hat mit Neugierde zu tun: Dass es auch anders sein könnte, selbst in der Kirche! Wer nur auf Skandale schaut und die „Trümmer eines gewaltigen Traditionsabbruchs“ (Aurelia Spendel OP) sortiert, übersieht vielleicht, was der Geist Gottes der Kirche heute sagen will. Immer wieder: Pfingsten reloaded! Der Schriftsteller Arnold Stadler will das „Wunder von Pfingsten hinüberretten“ – und erklärt mit den Beatles den Unterschied zwischen heaven und sky. Dass die „soziale Temperatur in der Gesellschaft“ ohne Kirche „sinken“ wird, wie Jan-Heiner Tück meint, dürfte auch bei „religiös Unmusikalischen“ auf Zustimmung stoßen. „Gerade durch die memoria passionis et ressurectionis Christi“ wird Kirche für den Wiener Dogmatiker „zu einem institutionellen Widerlager gegen das Diktat des Funktionalismus und unterbricht das oft gnadenlose Effizienz- und Leistungsdenken in Wirtschaft und Gesellschaft“. Sie muss an der „Perspektive der Rettung und Vollendung“ festhalten. „Man lebt, als ob es keinen Auferstehungssonntag am Horizont gäbe“: Diese Beobachtung von Cesare Zucconi, Generalsekretär von Sant-Egidio mit Wien-Vergangenheit, lässt sich auch auf Pfingsten übertragen: Wir können nicht so tun, als hätte es damals nicht einen gewaltigen Aufbruch gegeben, Verständigung trotz vieler Sprachen, Einmütigkeit trotz Differenzen. Warum sollte das nicht auch heute möglich sein? Synodale Erneuerung in der Kirche geht nicht ohne den Geist von Pfingsten. Rechnen wir noch mit Überraschungen positiver Art? Schavans Buch ermutigt dazu. Der Autor ist Jesuit und Publizist in München. Pfingsten! Warum wir auf das Christentum nicht verzichten werden. Von Annette Schavan (Hg.) Droemer 2024, 304 Seiten, gebunden, € 27,50.

Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 20 16. Mai 2024 Gesellschaft 9 Rund 13.000 Jugendliche leben in Österreich in Wohnformen der Kinder- und Jugendhilfe oder Pflegefamilien. Sozialpädagoge Georg Streißgürtl erklärt, warum viele dieser jungen Menschen mit der Volljährigkeit plötzlich im Stich gelassen werden. „Die Betreuung wird mitten im Maturajahr beendet“ Von Naz Kücüktekin An der Alpen-Adria- Universität Klagenfurt forscht der Sozialpädagoge Georg Streißgürtl zur Situation von „Care Leavern“. Im Interview spricht er über Bildungshürden und die Suche nach Familie. DIE FURCHE: Mit 18 Jahren fallen viele Jugendliche - sogenannte Care Leaver - aus den Maßnahmen der Kinderhilfe. Was genau versteht man unter diesem Wort? Georg Streißgürtl: Der Begriff meint Personen, die eine Zeit in der Jugendhilfe oder in Pflegefamilien gelebt haben und jetzt als junge Erwachsene ein eigenständiges Leben führen. Im deutschen Sprachraum ist der Begriff eher positiv besetzt, da er dazu beigetragen hat, die Anliegen dieser jungen Menschen sichtbar zu machen. Auch Selbstvertretungsvereine wie der Care Leaver Verein Österreich verwenden ihn. DIE FURCHE: Wie ist die Situation von Care Leavern in Österreich? Streißgürtl: Grundsätzlich werden die Maßnahmen der Jugendhilfe mit 18 Jahren beendet. Es gibt aber die Möglichkeit der Ausdehnung bis zum 21. Geburtstag. Einige Bundesländer gewähren diese Unterstützung häufiger als andere. Diese Verlängerungen werden dann sehr oft auch an Bedingungen geknüpft, zum Beispiel an eine Ausbildung. Diese Verlängerung wird zunehmend in Anspruch genommen. Das ist auch nicht verwunderlich. Das durchschnittliche Auszugsalter von jungen Menschen in Österreich liegt in etwa bei 25 Jahren, was unter dem europäischen Schnitt ist, aber deutlich über 21 Jahren. Foto: Getty Images / Mikolette DIE FURCHE: Sie arbeiten derzeit an einem Forschungsprojekt zu dem Thema. Streißgürtl: Unser Team geleitet von Stephan Sting untersucht in einem vom FWF geförderten Projekt, welche Bedeutung Familie für junge Menschen hat, im Übergang von der Jugendhilfe zu einem eigenständigen Leben. Es geht um soziale Zugehörigkeit, Unterstützung, aber auch Identitätsbildung. Care Leaver haben schwierige familiäre Beziehungen erlebt, und auch das Verlassen der Jugendhilfe ist eine Herausforderung. Gerade in diesem Übergang rückt Familie wieder in den Fokus, auch weil nach der Maßnahme sehr oft soziale Beziehungen abgebrochen werden. Das Unterstützungsnetzwerk ist häufig sehr dünn. Unsere vorläufigen Ergebnisse zeigen ein Spannungsfeld, das sich aus der Auseinandersetzung der jungen Menschen mit gesellschaftlichen Vorstellungen, Normen und Erwartungen von F‘amilie ergibt. DIE FURCHE: Welche anderen Herausforderungen gibt es? Streißgürtl: Es gibt Steine, die diesen jungen Menschen in den Weg gelegt werden, und die sind oft struktureller Natur. Wenn ich weiß, dass mit 18 Jahren die Unterstützung wegfällt und ich dann auf eigenen Beinen stehen muss, dann ist die Motivation, eine kürzere Ausbildung wie eine Lehre zu machen, wahrscheinlich höher. Das wird von den Institutionen manchmal auch gefördert. Da ändert sich aber auch einiges. Matura und Studium werden vermehrt in Anspruch genommen. Dennoch wurde bei „ Das Schlagwort ist Beziehungskontinuität. Nach der Jugendhilfe halten die Betroffenen vor allem zu Personen Kontakt, die sie schon kennen. “ einigen jungen Menschen, die wir befragt haben, die Betreuung mitten im Maturajahr beendet. In solchen Fällen rücken Themen wie Wohnungssicherheit in den Vordergrund. So schafft das System unnötige Hürden. Care Leaver haben im Durchschnitt geringere Bildungsabschlüsse. In unserer Studie zeigt sich allerdings, dass sie sehr wohl motiviert sind und auch viel auf sich nehmen, um wieder in den Bildungsprozess einzusteigen und einen höheren Abschluss zu erzielen. Das Leben meistern Sozialpädagogen der Universität Klagenfurt forschen zur Situation junger Menschen, die die Kinder- und Jugendhilfe verlassen. Welche Hürden erwarten sie, und wer gibt ihnen Halt? DIE FURCHE: Wie könnte die Politik diese Hürden beseitigen? Streißgürtl: Wichtig wäre ein Rechtsanspruch auf die Ausdehnung der Unterstützung, zum Beispiel bis zum 24. Lebensjahr. Die Verlängerung ist derzeit eine Kann-Bestimmung. Es müsste eine Rechtssicherheit geben, damit Care Leaver nicht in die Rolle von Bittstellern kommen, wenn sie länger betreut werden möchten. Auch wesentlich wäre die Möglichkeit der Rückkehr. Das heißt, dass selbst wenn die Betreuung beendet ist, weiterhin die Möglichkeit besteht, wieder einzusteigen. Dann wären bedarfsgerechte Unterstützungsformen und die Möglichkeit, zwischen diesen flexibel zu wechseln, ebenfalls eine Verbesserung. Care Leaver halten vor allem zu Personen Kontakt, die sie schon kennen. Momentan gibt es aber keine systematische Übergangsbegleitung und ehemalige Betreuer halten den Kontakt oft ehrenamtlich. DIE FURCHE: Einige Bundesländer haben Beratungsgutscheine eingeführt. In Wien steht Care Leavern nach Beendigung der Betreuung kostenlose Beratung im Ausmaß von 45 Stunden bis zum 24. Lebensjahr zur Verfügung. Wie gut funktioniert das? Streißgürtl: Care Leaver nutzen diese Beratungsgutscheine vor allem dann, wenn sie so mit Personen in Kontakt bleiben können, die sie während ihrer Zeit in der Jugendhilfe kennengelernt haben. Das Schlagwort ist Beziehungskontinuität. Eine Sonderstellung hat vielleicht Kärnten. Dort gibt es zwei Careleaver Anlaufstellen der Diakonie de la Tour in Villach und Klagenfurt, die offen sind für alle. Ihr FURCHE-Abo Als Mitglied unserer geschätzten Leserschaft profitieren Sie von zahlreichen exklusiven Vorzügen, die Ihr Abo mit sich bringt. Entdecken Sie die Angebote, auf die Sie zugreifen können: 9 Jeden Donnerstag die frisch gedruckte Ausgabe in Ihrem Briefkasten 9 E-Paper für unterwegs und Zugang zu allen Inhalten auf furche.at zurück bis 1945 9 Mit dem interaktiven FURCHE-Navigator Schätze aus 78 Jahren FURCHE entdecken 9 In die Welt der Literatur eintauchen mit unserer Beilage „booklet“ Viel vor. Viel dahinter. 35 · 31. August 2023 Gastkommentator Ben Segenreich stößt sich an der Berichterstattung zur israelischen Justizreform. Eine Positionierung. · Seite 6 Illustration: Rainer Messerklinger Das Thema der Woche Seiten 2–5 E igentlich hatte man sich vergangenen Montag auf ganz andere „Jugendsünden“ eingestellt – nämlich auf jene vieldiskutierten von Andreas Babler. Nein, er habe keine Lenin-Büste in seinem Büro stehen, betonte der SPÖ-Chef im ORF-„Sommergespräch“ – aber dafür gebe es dort drei andere Dinge: eine Büste von Victor Adler, dem Gründungsvater der österreichischen Sozialdemokratie; ein Bild von seinem Vorgänger als Traiskirchner Bürgermeister; und ein von Papst Franziskus geweihtes Kruzifix, das ihm der Bürgermeister der Insel Lampedusa geschenkt habe. Auch hinsichtlich der Europäischen Union, die er noch 2020 als „aggressivstes militärisches Bündnis“ bezeichnet hatte, habe er heute eine „andere Betrachtungsweise“, so Babler: Zwar bestehe bei ihm nach wie vor eine „Grundskepsis“, erklärte der SPÖ- Chef; ein EU-Austritt sei für ihn aber „tabu“. Herbert Kickl hatte dieses Tabu eine Woche zuvor gebrochen – wie so viele andere auch. Während freilich der bundespolitische Newcomer Andreas Babler seine prononciert linken Forderungen (darun- DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Israel – ein Gottesstaat? „Wissenschaft ist das, was uns retten wird“ Fundamental anders Während Bayerns Vizeministerpräsident von seiner Schulzeit eingeholt wird, offenbart ein Video der freiheitlichen Jugend den – ganz aktuellen – Abgrund der FPÖ. Ein Offenbarungseid. Mehr als Jugendsünden Von Doris Helmberger „ Wer auch immer mit Kickls FPÖ koaliert oder sie gar inhaltlich kopiert, hat die Ver antwortung zu tragen. “ formulierte, lieferte der Demagoge Kickl druckreife Sager der Systemzertrümmerung – und ließ dabei kaum eine Säule der liberalen Demokratie aus: vom ORF-Setting im Parlament als „Stasi-Verhörzimmer“ über die „selbst ernannten Eliten“ als neue Erzfeinde bis zu den rechtsextremen Identitären als ganz normale „NGO“. Untergang des Abendlandes? Medizinethikerin Alena Buyx über den aktuellen „One Health“-Ansatz, Arbeitszeitreduktion und den Klassenkampf im Klimaschutz. · Seite 12 Dass die Unterschiede zu den Identitären unter Herbert Kickl längst völlig eingeebnet sind, zeigte sich kurz vor Bablers „Sommergespräch“ in einem Video der Freiheitlichen Jugend. Veröffentlicht auf dem parteieigenen YouTube-Kanal „FPÖ TV“, ließ man in Rhetorik und Bildsprache endgültig alle ideologischen Hüllen fallen: Identitären-Begriffe wie „Remigration“ und „Bevölkerungsaustausch“ flimmerten ebenso durchs Bild wie missliebige Journalistinnen und Journalisten sowie ideologisch einschlägige Köpfe: Ernst Jünger, der mitunter als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus gilt; Alain de Benoist, ein Vordenker der Neuen Rechten; oder auch Oswald Spengler, als Autor des 1918 er- autoritären Denkens. Man sei „die letzte Generation, die sich das Land zurückholen könne“, raunte eine Stimme – optisch unterlegt von der Regenbogenfahne und der brennenden Kathedrale Notre-Dame. Fackelzugsequenzen mit strammen Burschen und einem lachenden Udo Landbauer folgten. Am Ende hieß es: „Wir aber wollen eine Zukunft!“ – samt Kameraschwenk auf die Neue Burg am Heldenplatz mit dem „Hitler- Balkon“. Deutlicher und unmissverständlicher kann eine Botschaft nicht sein. Man könnte über dieses Machwerk hinweggehen und jede Reaktion auf diese Provokation vermeiden – schließlich ist genau dies auch der Zweck. Die aktuelle Stimmungs- und Umfragenlage zwingt gleichwohl zur Konfrontation. Ebenso die Tatsache, dass das dynamisierte Wiedererstarken der extremen Rechten und das Sich-Ausbreiten „brauner Flecken“ kein österreichischer Spezialfall sind. Der aktuelle Fall des bayrischen Vizepräsidenten Hubert Aiwanger, der in seiner Schulzeit Ende der 1980er Jahre eine Hetzschrift voll Judenhass (mutmaßlich verfasst von seinem Bruder) verteilt haben soll, macht das überdeutlich. Statt sich prompt und klar zu entschuldigen und zu distanzieren, wurde tagelang herumlaviert. In Kickls FPÖ zeigen sich diese Abgründe freilich nicht nur als vergangene „Jugendsünden“, sondern als Abgrund hier und jetzt. Wer auch immer mit dieser Partei koaliert oder sie gar inhaltlich kopiert, hat die Verantwortung zu tragen. „Grüne Arbeit sichert unser Dasein“ Um „Green Jobs“ zu fördern, braucht es ein Zusammenspiel von Politik, Unis und Wirtschaft. Wie die grüne Wende gelingt. · Seiten 7–8 Die heurige Architekturbiennale in Venedig versteht sich als Labor für die Zukunft und richtet ihren Blick vor allem auf Afrika. · Seite 17 Welche Chancen bietet die Digitalisierung für die Demokratie? Und welche Gefahren gehen mit TikTok und Co einher? Antworten vom Europäischen Forum Alpbach. Politik zum Einloggen AUS DEM INHALT Die Wehen des Krieges In der Ukraine ist die Geburtenrate um 28 Prozent eingebrochen. Aber nicht alle legen ihre Lebensplanung auf Eis. Ein Besuch in einer Geburtenklinik in Kiew. Seite 9 Lernen bei AD(H)S Kinder mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten sind keine „Allrounder“, sondern Spezia listen. Eltern haben einen Knochenjob – können aber viel erreichen. Seite 11 Harmlos-lieber Jesus? Eine Irrlehre! „Jesus stört. Weil er vom Entsetzen über die Leiden in der Schöpfung zu einem Mitleiden weist. Ist das links?“, fragt Hubert Gais bauer in „Erklär mir deine Welt“. Seite 14 „Doch wo ist dieses Fremdland“ Sabine Gruber erkundet in ihrem jüngsten Roman „Die Dauer der Liebe“ Wege und Möglichkeiten der Trauer, der Erinnerung, des Weiterlebens und der Literatur. Seite 18 Die Krise der Streamingdienste Sie unterschätzen die Konsumenten, folgen immer denselben Rezepten. Daniel Wisser aber möchte Mut belohnen, Andersartigkeit und das Brechen von Regeln. Seite 20 furche.at Empfehlungen und Tipps aus der Redaktion! Jetzt Newsletter anmelden: furche.at/newsletter +43 1 512 52 61-52 furche@furche.at

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