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DIE FURCHE 15.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 20 18 Wissen 16. Mai 2024 Ab Herbst 2026 soll die Psychotherapie-Ausbildung an den öffentlichen Universitäten verankert sein. Die Akademisierung dieser Disziplin führt derweil zu gemischten Gefühlen. Von Martin Tauss HUMAN SPIRITS Reiseführer fürs weite Land Für viele ist es ein Traumberuf. Doch wer Psychotherapeut beziehungsweise Psychotherapeutin werden will, sollte eine Vorliebe für düstere Geschichten haben. So hat es Alfred Pritz, der Begründer und Rektor der Sigmund Freud Privatuniversität, einmal auf den Punkt gebracht. Ein großer Teil der angehenden Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen befindet sich derzeit in einer Übergangssituation und verbindet mit dem Erwerb der Berufsberechtigung Hoffnungen auf einen gewissen Aufstieg – nicht unbedingt hinsichtlich des Einkommens, aber im Hinblick auf Selbstbestimmtheit, Sinnhaftigkeit, Ansehen sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Jedenfalls gibt es anhaltenden Ausbildungsbedarf. Psychische Probleme und Krankheiten sind durch die Folgen der Corona-Pandemie weiter angewachsen. Dass „ Therapie bedeutet ursprünglich Pflege: So wie Körperpflege selbstverständlich geworden ist, sollte dies auch für die ‚Pflege des Geistes‘ gelten. “ es in Österreich zu wenig psychotherapeutisches Angebot gibt, hat Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) kürzlich bestätigt. Gerade deshalb sei die nun beschlossene Ausbildungsreform so wichtig (siehe Artikel rechts). Wie weitläufig die Dimensionen der Psychotherapie sind, zeigt ein neues Buch von Natalie Eller und Gerhard Stumm. Hier sind die Ausbildungsangebote vollständig dargestellt, geordnet nach den vier großen „Clustern“, wie sie im neuen Psychotherapiegesetz definiert sind: Interessenten können sich so über die psychodynamischen, humanistischen, systemischen und verhaltenstherapeutischen Ansätze informieren, aber auch über Dauer und Kosten der Ausbildungswege, die Akademisierung und die Berufsaussichten. Neben der Linderung psychischer Leidenszustände sollten heute auch andere gesellschaftlich relevante Funktionen der Psychotherapie beachtet werden. Therapie bedeutet im ursprünglichen Wortsinn „Pflege“, und so wie Körperpflege in unserer Kultur selbstverständlich geworden ist, sollte dies auch für die „Pflege des Geistes“ – die „Cultura animi“ (Cicero) – gelten. Dazu gibt es freilich verschiedene Wege, doch die psychotherapeutische Selbsterfahrung ist zweifellos einer der besten. In einer stabilen, wertschätzenden Beziehung zur Selbstreflexion angeregt zu werden, die innere Landschaft zu erkunden und dabei vielleicht auf die eine oder andere unbekannte Region zu stoßen, ist nicht nur für Menschen mit offensichtlichen Problemen wichtig. Es wäre ein Beitrag zur existentiellen Redlichkeit – und zur gesamtgesellschaftlichen Aufklärung. Psychotherapieausbildung in Österreich Von Nathalie Eller und Gerhard Stumm Springer Verlag 2024 237 S., kart., € 31,50 Lernen zwischen Kunst und Klinik Von Martin Tauss Sigmund Freud, Alfred Adler und Viktor Frankl sind die großen Wiener „Marken“ in der Wissenschaft vom weiten Land der Seele. Binnen weniger Jahrzehnte begründeten sie weltweit attraktive Theorien und Behandlungsansätze (Psychoanalyse, Individualpsychologie, Logotherapie) – und revolutionierten damit auch das moderne Bild vom Menschen. Ihre therapeutischen Innovationen wurden außerhalb der universitären Strukturen vorangetrieben. Vor allem Freud und Adler entwickelten ihre Ansätze als selbstbewusste Pioniere und unbeugsame Einzelkämpfer; von der Wiener Universität wurden die beiden Forscher tendenziell marginalisiert. Das ist ein historischer Grund, warum die psychotherapeutische Ausbildung von privaten Vereinen angeboten wird – im Gegensatz zu anderen stark wissensbasierten Berufen wie Arzt, Anwalt oder Architekt, bei denen eine universitäre Ausbildung selbstverständlich ist. Doch im Jahr 2024 schlägt nun auch den angehenden Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen die Stunde der Akademisierung. Mitte April wurde im Nationalrat das neue Psychotherapiegesetz beschlossen, das die bisherigen gesetzlichen Grundlagen aus dem Jahr 1990 ersetzt. Damit wandert die Ausbildung ab Herbst 2026 an die öffentlichen Universitäten und Fachhochschulen. An ein fachlich passendes Bachelorstudium (zum Beispiel Medizin, Psychologie, aber auch diplomierte Gesundheits- und Pflegeberufe) wird ein zweijähriges Masterstudium für Psychotherapie anschließen. Dritter Ausbildungsteil ist eine postgraduelle Fachausbildung bei Psychotherapeutischen Fachgesellschaften, während der die Studierenden bereits unter Supervision arbeiten können. Soziale Zugänglichkeit Ein gängiges Argument für die Akademisierung ist die Bereinigung des „Wildwuchses“, wie die heimische Ausbildungssituation zuweilen bezeichnet wird. Während etwa in Deutschland nur fünf wissenschaftlich ausgewiesene Verfahren zugelassen sind, gibt es hierzulande 23 anerkannte Psychotherapie-Schulen und 43 Fachgesellschaften, die in der Ausbildung aktiv sind. Zudem gibt es private „ Bisher kostete die Ausbildung zwischen 25.000 und 50.000 Euro; mit dem neuen Gesetz sind dann zumindest Bachelor und Master kostenfrei zu erwerben. “ Foto: APA / Claudia Pietrzak Hochschulangebote wie zum Beispiel seit 2005 an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Auch die soziale Zugänglichkeit ist ein großes Thema: Bisher verursachte die Ausbildung Kosten zwischen 25.000 und 50.000 Euro; mit dem neuen Gesetz sind zumindest Bachelor und Master kostenfrei zu erwerben – vorausgesetzt man ergattert einen der 500 Plätze, die dafür geschaffen wurden. Oliver Vitouch sieht darin einen „echten Meilenstein“: Mit der Akademisierung der Ausbildung sei eine große Reform zwischen Gesundheits- und Wissenschaftsministerium gelungen, so der Präsident der Universitätenkonferenz (uniko). Er hofft, dass dies bald nachhaltig zu einer besseren psychosozialen Versorgung, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, beitragen werde. Doch nicht für alle ist die Reform ein Grund zur Freude. So äußerte der Bildungswissenschaftler und Psychoanalytiker Josef Christian Aigner bereits letztes Jahr seine Zweifel in der FURCHE: „Kritiker(innen) sprechen allgemein von ‚Akademisierungswahn‘, der die ganze neoliberale Bildungspolitik durchzieht. Und wenn ‚Hinz und Künzin‘ heute für alles Mögliche einen Bachelor oder Master bekommen, warum soll man das den Psychotherapeut(inn)en vorenthalten? Damit aber trifft die Strategie, Bildungsqualität an ein ‚universitäres Mascherl‘ zu binden, nun eine Profession, deren Erlernen (…) ein Maximum an persönlichkeitsbildender, selbstreflexiver Bildung verlangt. Ebenso wie Zeit und Raum für Diskurs und kollegialen Austausch. Können Universitäten das heute bieten?“ Kritik kommt auch von der Ärztekammer und psychiatrischen Fachgesellschaften. Die Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP) findet es „besorgniserregend, dass Psychotherapeut:innen im Gegensatz zu anderen Gesundheitsberufen zukünftig nicht mehr verpflichtet sind, zumindest Teile der praktischen Ausbildung (…) in medizinischen Institutionen zu absolvieren“ und befürchtet daher „Nachteile vor allem für schwer Erkrankte“. Andererseits gibt es auch den Appell, dass Psychotherapie nicht allein aus Büchern beziehungsweise anhand von Konzepten gelernt werden kann, wie der Linzer Existenzanalytiker Markus Angermayr betont: „Parallel zum sorgfältigen Aufbau der Akademisierung sollten wir nicht übersehen, dass Psychotherapie auch eine ‚Kunst‘ ist – eine Kunst der Begegnung, des Gesprächs, des Hörens. Sie ist eine Kunst des ‚Schauens‘, des Fühlens und Spürens, des zwischenleiblichen Dialogs“. All das erfordere eine Sensibilität für „das Vage, das Stimmungsmäßige, das Atmosphärische, die Eigenheit des ‚Körper-Leiblichen‘“. An welchen Standorten die universitären Ausbildungsplätze angeboten werden, ist noch offen. Ebenso die Frage, wie sehr die Unis dann mit den Fachgesellschaften kooperieren. Bei der Selbsterfahrung sei das unumgänglich, denn sie benötigt Einzelbetreuung und Kleingruppen, sagt die Wiener Psychotherapeutin Susanne Pointner: „Therapie heißt Prozessbegleitung. Es ist oft sehr wichtig, über die eigenen Reaktionen zu reflektieren. Beziehung lernt man nur über Beziehung, daher ist die Selbsterfahrung das Um und Auf der Ausbildung“, so die Vorsitzende im Ausbildungs- und Methodenforum des Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP). „Wir haben lange dafür gekämpft, dass die Selbsterfahrung nicht zu kurz kommt. Und ich glaube, dass die Abwägung von Kosten und Nutzen jetzt gut gelungen ist.“ „Ein Studium wie jedes andere?“ (16.5.2023), Josef Christian Aigner hinterfragt die Akademisierung der Psychotherapie, nachzulesen auf furche.at.

DIE FURCHE · 20 16. Mai 2024 Wissen 19 Von Ilja Steffelbauer Wir reden hier besser nicht über die „Sache“: Das würde bedeuten, sich durch einen Realitätstunnel in ein Wunderland zu stürzen, in dem alle verrückt erscheinen: Rechte, die gemeinsam mit Grünen vor Antisemitismus warnen; queere Aktivisten, die reaktionäre Theokraten verteidigen; Friedensbewegte mit Verständnis für Kriegsherren; Postkoloniale mit Argumenten für Siedlerkolonien – und keine Querfront, die zu „queer“ ist, um nicht irgendwo im Netz eine Nische zu finden. Wir sollten nicht einmal über den Diskurs reden. Der ist nur Mittel zum Zweck. Ein Diskurs, der sich jeder Sache bemächtigen, sie vikarisch vereinnahmen und zu unserer Sache machen kann. Wir, das sind die „WEIRD-People“ (Western Educated Industrialized Rich & Democratic), im Fall der Studentenproteste dort, wo wir am reichsten, gebildetsten, freiesten und westlichsten sind: auf dem Campus unserer Universitäten. In diesem Diskurs reden wir über unser liebstes Thema: uns, auch wenn wir scheinbar gerade über euch reden; wer immer ihr gerade seid: Black lives, Palestinian lives, Female lives, Israeli lives; doesn’t matter. Wir kolonisieren jeden Diskurs – und sind dabei nicht einmal besonders geschickt. Vorgetäuschte Solidarität Unser Narzissmus scheint überall durch unser solidarisches Kostümspiel: Schnell geht es nicht mehr um Kinder, die in Gaza ohne Lebensmittel, Wasser und medizinische Versorgung schlichtweg krepieren, sondern darum, ob die Universitätsleitung vielleicht verhindern möchte, dass Protestierende ihr Essen ins Protestcamp geliefert bekommen. Und auf der anderen Seite geht es schnell nicht mehr um die brutale Vernichtung junger Menschenleben durch religiös fanatisierte Terroristen in Israel, sondern darum, ob man sich als privilegierte jüdische Studentin auf dem Campus noch sicher fühlen kann. Reden wir also am besten über uns. Laut dem US-Komplexitätsforscher Peter Turchin leidet die globalisierte Gesellschaft an etwas, das man kaum für möglich Bei den Pro-Palästina-Protesten an den Universitäten geht es nicht um die Menschen in Gaza, sondern um westlichen Narzissmus. Eine Analyse. Das Kostümspiel gehalten hätte: zu viel Bildung. Oder vielmehr: zu viele Gebildete. Turchin nennt das „Elitenüberproduktion“: Seit dem Zweiten Weltkrieg steigt der Anteil junger Leute mit Uni-Abschlüssen in den meisten westlichen Ländern stetig an. In der rasch expandierenden Wirtschaft der Nachkriegszeit wurde sozialer Aufstieg durch Bildung für viele zur Realität. Dann kam Mitte der 1960er-Jahre der erste Engpass – und die Studentenschaft rebellierte. Zum Glück konnten die konsumistischen 1970er und die Reaganomics der 1980er-Jahre die 68er erfolgreich in die Elite eingliedern, indem die anlaufende Globalisierung und Digitalisierung genug neue Elitepositionen hervorbrachten. Turchins seit 2010 formulierte Theorie geht so weit, auch frühere und spätere Wellen von jugendlichem Aufbegehren auf dasselbe Phänomen zurückzuführen – und die nächste Eskalation für die 2020er- Jahre vorherzusagen. „ Geprellte Elite-Aspiranten fangen an, sich nach Alternativen umzusehen und Ideologien anzunehmen, die den Status quo in Frage stellen. “ Wir sollten daher über die Mechanismen reden, die hinter solchen Wellen der Unzufriedenheit stecken: Gesellschaften bieten – je nachdem, ob sie Missionare oder Konquistadoren, Diversitätsbeauftragte oder Konzernanwälte brauchen – jungen Menschen Kanäle zum sozialen Aufstieg. Sobald diese Kanäle einmal bekannt werden, ziehen sie immer mehr Kandidaten an. Zugleich erzeugt die Neigung von Eliten, ihren eigenen Nachkommen bevorzugten Zugang zu privilegierten Positionen zu verschaffen, Mechanismen, die diese Kanäle künstlich verengen. Die immer kostspieligeren Uni-Abschlüsse in den USA sind ein solcher Mechanismus; ähnlich wie seinerzeit der Verkauf von Offizierspatenten. Gleichzeitig neigen Eliten aufgrund ihrer internen Konkurrenz – die zur Konzentration von Macht und Reichtum in immer weniger Händen führt – dazu, die Zahl an Elitepositionen schrumpfen zu lassen. Turchin nennt das „Überwettbewerb“. Zuletzt können imperiale Eliten, deren Stellung auf der Plünderung und Aneignung peripherer Ressourcen beruht, als Ganzes eine Verknappung erfahren, wenn ihr Ausbeutungsmodell, zum Beispiel die Eroberung neuer Provinzen im hellenistischen Osten, an seine Grenzen stößt. Wir reden hier selbstverständlich von Alter Geschichte. Wenn diese Mechanismen greifen, gibt es plötzlich einen Überschuss von Kandidaten für den Elitenstatus, die meist auch schon erhebliche – teils ruinöse – Vorleistungen für ihren sozialen Foto: APA / Max Slovencik Kettenreaktion Ausgehend von den USA sorgen die Proteste der Studierenden nun auch in Europa für Aufregung. Das Pro-Palästina- Lager im Campus der Uni Wien (Bild) wurde mittlerweile geräumt. Lesen Sie dazu auch „Wie Identitätspolitik entstand“ (15.9.2021) von Khaled Hakami und Ilja Steffelbauer, auf furche.at. Aufstieg geleistet haben, nun aber erkennen müssen, dass die Elite sie nicht alle absorbieren kann. Abgesehen von einem entwürdigenden Spektakel aus Selbstausbeutung, Selbstoptimierung und anderen Erniedrigungen auf der Karriereleiter, führt dies zur Radikalisierung eines Teils der geprellten Eliten-Aspiranten. Diese fangen an, sich nach Alternativen umzusehen und Ideologien anzunehmen oder zu entwickeln, die den Status quo in Frage stellen. So formieren sich Gegen- Eliten. Im römischen Senat waren das schlampig gekleidete, junge Männer, die sich mit dem Volk (populus), also „Popularen“, gemein machten. An den Unis heute sind das ebenso wenig adrette junge Leute, die sich mit den Verdammten dieser Erde solidarisieren – oder sehr adrette Menschen, die es bevorzugen, „unsere Leute“ zu instrumentalisieren. Die Wahl ist postmodern beliebig: Das ist der Grund, warum die Fronten so verquer und die Diskurse scheinbar schizoid sind. Beide eignen sich die manifesten Ungerechtigkeiten der herrschenden Ordnung gegen andere Gruppen an, um ihren Widerspruch gegen ihre eigene drohende Ausgrenzung aus der Elite zu legitimieren. „Ich will auch rein“ ist kein Slogan, mit dem sich Revolution machen lässt, aber empirisch gesehen das häufigste Ergebnis erfolgreicher Umstürze durch Gegeneliten. Worüber wir also reden müssen: Darüber, dass spätestens seit der Weltfinanzkrise 2007/8 ein zunehmend brutaler Verteilungskampf innerhalb der globalisierten Elite stattfindet. Radikale Positionen sind Ausdruck – nicht Inhalt – des tatsächlichen Gemetzels. Von außen bietet diese Selbstzerfleischung der Eliten der westlichen Demokratien autokratischen Gegenmodellen Angriffsflächen, so wie einst Marc Anton römischen Republikanismus an Kleopatras Seite gegen hellenistisches Monarchentum eintauschte. Nach innen freilich ebnen sie dem Aufstieg von Terror und Diktatur den Weg – wir reden natürlich von Caesaren und Jakobinern. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und politischen Bewegungen sind rein zufällig. Der Autor ist Historiker und arbeitet an der Donau-Uni Krems. KREUZ UND QUER DIE WALLFAHRT NACH EL ROCIO DI 21. MAI 22:35 Mit fast 900.000 Pilgern pro Jahr ist die Wallfahrt nach El Rocío eine der spektakulärsten Pilgerfahrten auf der Iberischen Halbinsel: Glaube, Flamenco und volkstümliche Bräuche. Die Doku gibt Einblicke in ein traditionsreiches Spanien. religion.ORF.at Furche24_KW20.indd 1 06.05.24 14:30

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