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DIE FURCHE 15.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 20 16 Medien 16. Mai 2024 Von Bernhard Baumgartner Es ist keine fundmentale Reform, die der Verfassungsgerichtshof (VfGH) in Sachen ORF- Gesetz verlangt. Zwar hob das Gericht bereits im Oktober 2023 Teile des ORF-Gesetzes auf, aber es sind eher kleinere Teile – und eine Sanierung wäre als Minimalvariante an sich schnell erledigt. Wenn man sich denn in der Regierung einig wäre. Tatsächlich aber wird es immer unwahrscheinlicher, dass die Regierenden noch in dieser Legislaturperiode wirklich zur Tat schreiten. Zumindest dürfte man es in Sachen Verhandlungen mit dem Koalitionspartner nicht eilig haben, wie Recherchen der FURCHE ergaben. Das mag verwundern, denn Anfang Juli ist die letzte Sitzung des Nationalrates vor der Sommerpause, und nach dieser sind bekanntlich Nationalratswahlen. Will man die Novelle des ORF-Gesetzes also noch auf den Weg bringen, wäre also Eile geboten. Eine normal lange Begutachtungsfrist von sechs oder acht Wochen geht sich davor schon jetzt nicht mehr aus. Und eine verkürzte Frist ist gerade bei einem umstrittenen Thema wie dem ORF eher unschön, wie selbst Regierungsinsider einräumen. Stiftungsrat zu regierungsnah Viele offene Fragen Unter anderem bei der Besetzung des Publikumsrats soll der Einfluss des Bundeskanzlers schwinden und mehr Mandatare von demokratisch legitimierten Organisationen besetzt werden. Welche das konkret sein sollen, ist noch offen. Das Höchstgericht hob vergangenen Herbst Teile des ORF-Gesetzes auf. Für eine Reparatur in dieser Legislaturperiode bleibt freilich kaum mehr Zeit. Eine Analyse. Kommt die Kickl-Reform? Doch von einem Beschluss kann ohnehin noch keine Rede sein, denn es fehlt ein Gesetzesentwurf. Einen solchen gibt es, dem Vernehmen nach, in Grundzügen zwar schon länger, aber entscheidende Details sind weiterhin offen. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, wer die Gremien des ORF, Stiftungsrat und Publikumsrat, künftig besetzen kann. Vor allem der ORF- Stiftungsrat ist ein machtvolles Instrument – wählt er doch die ORF-Führung, beschließt Finanz- und Sendepläne und bestellt Geschäftsführer. Die Zusammensetzung des Stiftungsrates war dem VfGH zu regierungsnah. Die Verfassungsrichter wollen, dass der Bundeskanzler weniger Mandatare und der Publikumsrat (und somit ihn konstituierende Organisationen) künftig mehr Mandatare im Stiftungsrat ernennen dürfen. Derzeit bestellen die Bundesländer neun, die Bundesregierung ebenso neun, Parteien und Publikumsrat je sechs und der Betriebsrat fünf Mandatare im Stiftungsrat. Ganz konkret geht es den Richtern um drei der 35 Mandate im ORF-Stiftungsrat: Künftig sollen mindestens drei weniger durch die Bundesregierung, dafür drei mehr durch den Publikumsrat entsandt werden. Auch bei der Besetzung des Publikumsrats selbst soll der Einfluss des Bundeskanzlers schwinden und mehr Mandatare von demokratisch legitimierten Organisationen besetzt werden. Welche das konkret sein sollen, ist noch offen. Anzunehmen ist, dass ÖVP und Grüne da Foto: APA / Harald Schneider wohl unterschiedliche Ansichten haben. Auch sollen Stiftungsräte ihr Mandat bei Neuwahlen nicht verlieren, sondern die volle Periode bleiben. Sollte doch noch ein neues Gesetz vor der Wahl Ende September zustande kommen, stellt sich auch die Frage, wann es in Kraft treten soll. Ist das noch vor der Wahl der Fall, könnten Kanzler und Regierung neue Mandatarinnen und Mandatare ernennen, die dann bis weit in die neuen Legislaturperiode im Amt bleiben, auch wenn längst eine andere Regierung am Werk ist. Die da wohl unvermeidliche öffentliche Debatte würde man sich im kommenden Wahlkampf gerne sparen, heißt es bei Personen mit Einblick in die Materie. Zumal die FPÖ ohnehin offensichtlich vor hat, im Wahlkampf voll auf das Thema ORF und die ungeliebte Haushaltsabgabe zu setzen. Erst Donnerstagabend sind etwa die „ Gut möglich, dass eine der ersten Aufgaben einer Regierung unter Herbert Kickl ausgerechnet die Reform des ORF ist. “ ORF-Gagen auf Betreiben der FPÖ Thema im Nationalrat. Da wäre ein ORF-Gesetz, das den Einfluss von ÖVP und Grünen im ORF zementiert, sicher ein gefundenes Fressen. Beschwerde vom Presseclub Angesichts dessen könnte es manche in der ÖVP reizen, die Frist, die der VfGH zur Reparatur gesetzt hat, voll auszureizen. Sie endet Ende März 2025. Eine Reform des Gesetzes würde dann in den Aufgabenbereich einer neuen Bundesregierung fallen, wie auch immer diese aussieht. Gut möglich, dass eine der ersten Aufgaben einer Regierung unter Herbert Kickl dann ausgerechnet die Reform des ORF ist. Man darf für diesen Fall wohl annehmen, dass dann im ORF mehr reformiert werden würde als ein paar Sitze im Stiftungsrat. Zumal die FPÖ weite Teile des ORF und vor allem seine Finanzierung durch die Haushaltsabgabe für verzichtbar hält. Interessant wird es, wenn demnächst eine weitere Verfassungsbeschwerde verhandelt wird, die der Presseclub Concordia Ende April eingebracht hat. Es ging um eine Popularbeschwerde bei der Medienbehörde aufgrund einer vermuteten rechtswidrigen Besetzung des ORF-Publikumsrates. Die Medienbehörde erklärte sich aber für nicht zuständig, ein Gericht wies die Beschwerde ab. Der Presseclub ortet somit eine mangelnde Rechtsaufsicht über den Bestellprozess bei den ORF- Gremien. Man wird sehen, wie die Verfassungsrichterinnen und -richter das sehen. Gut möglich also, dass ein soeben novelliertes ORF-Gesetz dann auch schon wieder obsolet ist. MEDIENWELTEN Der Konflikt ums Smartphone Die Autorin ist Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Von Claudia Paganini Schön war es, am Muttertag. Die ganze Familie beim Festessen zu Ehren der lieben Mama vereint. Und dann das! Der Konflikt ums Handy. Als ob es nicht einmal ohne ginge! Beim Streit um das Smartphone spielen viele Themen mit: Wertschätzung, Beziehung, aber auch das grundsätzliche Problem, dass neue Medien immer zu einem hohen Maß an Stress führen. Denn die alten Gewohnheiten – wie etwa das (auch nicht sehr kommunikative) Zeitunglesen am Frühstückstisch – waren etabliert und mussten daher nicht ständig hinterfragt werden. Wenn aber ein neues Medium zum Massenmedium wird, passen die alten Gewohnheiten nur noch bedingt und wir fragen uns (zumindest unbewusst), ob wir dem Neuen gewachsen sein werden. Damit erfüllen mediale Umbrüche, wie derzeit die Digitalisierung, genau jene Kriterien, die – laut Stressforschung – ein Critical Life Event ausmachen. Als solche gelten nicht nur negative Ereignisse wie der Tod eines Angehörigen oder der Jobverlust, sondern auch positive wie Heirat, Geburt oder ein Karrieresprung. Was diese Ereignisse kritisch macht, ist der Umstand, dass das Gewohnte unterbrochen wird und ich angesichts des Neuen unsicher bin, ob ich ausreichend Ressourcen mitbringe, um die auf mich zukommenden Herausforderungen zu bewältigen. Medienumbrüche lassen nicht nur einzelne Personen diese Frage stellen, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes. Dabei machen sie Individuum wie Kollektiv „ Mediale Umbrüche, wie derzeit die Digitalisierung, erfüllen genau jene Kriterien, die laut Stressforschung ein ,Critical Life Event‘ ausmachen. “ vulnerabel – und es braucht einen Coping- Prozess, in dem Menschen sich bewusst machen, dass sie in der Vergangenheit bereits ähnliche Herausforderungen bewältigt haben. Wenn das nicht passiert, kann die gefühlte Überforderung zu depressiv-ängstlichem Rückzug oder destruktiver Aggression führen – und verhindern beziehungsweise erschweren, dass wir uns mit den neuen Problemen konstruktiv und rational auseinandersetzen. Was hätte es also am Muttertag gebraucht? Handyverbot? Lieber ein gemeinsames Gespräch. Darüber, was uns am Neuen stresst und was wir tun können, um uns als selbstwirksam und nicht als ohnmächtig zu erleben.

DIE FURCHE · 20 16. Mai 2024 Film 17 Mit „Sterben“ gelingt dem deutschen Regisseur Matthias Glasner ein dreistündiges Traktat über den Tod und das Leben – und ein famos gespielter, wichtiger Film. KURZKRITIKEN Die größte Zumutung Von Matthias Greuling Natürlich geht es in Matthias Glasners „Sterben“ ums Sterben. Aber nicht nur. Es geht auch sehr viel ums Leben. Ein ergreifendes, dreistündiges Traktat über den Tod und über das Leben, das in Kapiteln eingeteilt ist und jeweils die Perspektive wechselt. Eine Anordnung von Szenen, die dem Sterben nahe kommen wollen, die es persiflieren, mit dem Leben spielen, die Zuschauer spalten. Will und kann man sich das „Sterben“ zumuten? Muss man es vielleicht sogar? Der Film beginnt mit Lissy (Corinna Harfouch), die an Krebs leidet und inkontinent ist. Immer weniger ist sie in der Lage, für ihren an Demenz erkrankten und zunehmend verwirrten Gatten Gerd (Hans-Uwe Bauer) zu sorgen. Hilfe vom Amt kommt nur spärlich, die Nachbarin packt mit an. Sohn Tom (Lars Eidinger) hat eigentlich keine Zeit für das Leid der Eltern, weil er als gefragter Dirigent viel zu sehr mit sich und seiner Arbeit befasst ist; sein zurückgezogenes Wesen erlaubt ihm außerdem kaum, Empathie zu empfinden. Stattdessen quält er sich mit den Proben zur Uraufführung eines Orchesterstücks seines schwer depressiven Komponisten-Freundes (Robert Gwisdek) herum, das nicht und nicht den Ansprüchen seines Schöpfers genügen will. Passenderweise heißt dieses DRAMA Anatolische Melancholie Stück „Sterben“, und es will die ultimative musikalische Formulierung des unabänderlichen Endes sein – ein Anspruch, an dem jeder Künstler scheitern muss. Das weiß Regisseur Glasner, von dem auch das Drehbuch stammt, natürlich sehr genau. Weshalb ihm sein Ensemblestück, das zugleich Episodenfilm und schwarze Komödie über dysfunktionales Familienleben ist, nie entgleitet, sondern in der Erzählung lückenhaft bleibt, um gar nicht erst den Anspruch auf eine universelle Gültigkeit zu erheben. Das tut „Sterben“ sehr gut, wenngleich mit der Einführung von Toms Schwester (Lilith Stangenberg) im zweiten Drittel des dreistündigen Films die Aufmerksamkeit ein Stück aus dem bisherigen Rhythmus gerissen wird: Die junge Frau spricht in hohem Maße dem Alkohol zu – was Glasner in einem Kapitel des Films so abhandelt, als hätte dieser Teil gar nichts mit den anderen zu tun; das wirkt zunächst befremdlich, entpuppt sich aber schließlich als schlauer Kniff, um die Diversität des Lebens der Universalität des Sterbens gegenüberzustellen. Am Ende Nach seinem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten „Winterschlaf“ (2014) entführt Nuri Bilge Ceylan erneut in die winterliche anatolische Provinz. Hier muss der junge Kunstlehrer Samet (Deniz Celiloğlu) seinen vierjährigen Pflichtdienst absolvieren. Zwar sehnt sich der schwermütige Mann nach einer Versetzung nach Istanbul, dennoch pflegt er zu einer Schülerin ein freundschaftliches Verhältnis. Als dies zum Vorwurf der Übergriffigkeit und zu heftigen Diskussionen mit dem Schulleiter führt, tritt Samet nicht nur im Unterricht zunehmend aggressiv auf, sondern er reagiert auch eifersüchtig auf die Beziehung eines Kollegen zu der in einer benachbarten Stadt unterrichtenden Nuray (Merve Dizdar), die bei einem Attentat ein Bein verloren hat. Obwohl mit diesem Attentat, mit nächtlichen Schüssen und Begegnungen mit einem jungen Kurden die politische Realität einfließt, steht im Zentrum doch die Durchleuchtung der Charaktere. In meisterhaft kontrolliertem, langsamem Erzählrhythmus wechselt Ceylan dabei zwischen großartigen Totalen der winterlich-verschneiten, weiten Landschaft, in der sich die Menschen verlieren, und in warme Brauntöne getauchten Innenszenen. In diesen Innenszenen inszeniert er die intensiven Diskussionen meist in langen und ruhigen Halbtotalen, die den Charakteren ebenso wie dem Publikum viel Zeit und Raum schenken. Auch wenn so äußerlich nicht viel geschieht, hält Ceylan dank messerscharfer Dialoge, herausragender Schauspieler und großartiger Bildsprache mühelos den Spannungsbogen über 197 Minuten aufrecht und arbeitet eindrücklich die Widersprüchlichkeit seiner Figuren heraus. (Walter Gasperi) „ Matthias Glasners Ensemblestück ist zugleich Episodenfilm und schwarze Komödie über dysfunktionales Familienleben – und entgleitet dem Regisseur zu keiner Zeit. “ Morbid isoliert Corinna Harfouch und Lars Eidinger geben Mutter und Sohn, die einander eigentlich nichts (Nettes) zu sagen haben. ist beim Sterben jeder der Erste. Ganz egal, was vorher war. Die Schauspieler-Riege agiert ganz formidabel, allen voran Harfouch (die dafür den Deutschen Filmpreis erhielt) und Eidinger. Gerade die Bande zwischen den Familienmitgliedern und ihre gestörten Beziehungen untereinander führen vor Augen, dass der Tod das einzige ist, was alle eint. Ein Umstand, den auch der Komponist im Film kennt – und genau deshalb die Angst hat, sein Werk sei keine Kunst, sondern wertloser Kitsch. Er wird an diesem Glauben zerbrechen, was aber den Figuren weder Pein erspart noch Trost spendet. Im Angesicht des Sterbens scheint Glasner trotz eines niemals wehklagenden Films Thomas Bernhards Spruch verinnerlicht zu haben: „Es ist alles sinnlos, wenn man an den Tod denkt.“ Ein toll gespielter, wertvoller Film. Sterben D 2023. Regie: Matthias Glasner. Mit Corinna Harfouch, Lars Eidinger, Hans-Uwe Bauer, Robert Gwisdek, Lilith Stangenberg. Polyfilm. 183 Min. Regisseur Nuri Bilge Ceylan entführt in seinem neuen Film einmal mehr in die winterliche Provinz Anatoliens. Auf trockenen Gräsern (Kuru Otlar Üstüne) TR/F/D/S 2023. Regie: Nuri Bilge Ceylan. Mit Deniz Celiloğlu, Merve Dizdar, Musab Ekici. Filmladen. 197 Min. Erinnerung an einen cineastischen Titanen Er entdeckte Greta Garbo: Sein Stummfilm „Die freudlose Gasse“ (1925) mit der schwedischen Diva gehört zu den Wegbereitern der „Neuen Sachlichkeit“. Ein Jahr später brachte G. W. Pabst mit „Geheimnisse einer Seele“ die Psychoanalyse ins Kino, auch die Wedekind-Verfilmung „Die Büchse der Pandora“ (1930) gehört zu den Sternstunden des Expressionismus. Sein Tonfilm „Westfront 1918“ (1930) reiht sich mit der Remarque-Verfilmung „Im Westen nichts Neues“ in die großen Antikriegsfilme der Zwischenkriegszeit ein. Trude, G. W. Pabsts Frau, überlebte ihren 1967 verstorbenen Mann um 26 Jahre. Auf tausenden Seiten hat sie ihr Leben mit dem geliebten und tyrannischen G. W. beschrieben. Für den Dokumentarfilm „Pandoras Vermächtnis“ ging Angela Christlieb von diesen Notizen aus, um an den fremden, heute wenig bekannten Filmemacher heranzukommen. Außerdem bringen die Enkel der Pabsts – Paläontologe Ben, Kunstsammler Daniel und Umweltaktivistin Marion – die Großeltern näher. (Otto Friedrich) Pandoras Vermächtnis A 2024. Regie: Angela Christlieb. Filmladen. 89 Min. Dokumentation subversiver Kunst of Peaches“ von Philipp Fusseneger und Judy Landkammer destilliert, was man alles von der Künst- „Teaches lerin, Musikerin und Feministin Peaches (Merrill Beth Nisker) lernen kann. Ihren ikonischen Song „Fuck the Pain Away“ als Leitmotiv voranstellend, taucht der Film vor allem in Peaches’ Tour von 2022 ein, die das 20-jährige Jubiläum ihrer Karriere zelebrierte. In dynamischen Aufnahmen, Interviews und mittels großartigem Archivmaterial erforscht der Film Peaches’ Leben auch abseits der Bühne und den Aktivismus der 57-jährigen Künstlerin, die die feministische und queere Bewegung maßgeblich beeinflusste. Energetisch die Atmosphäre ihrer Konzerte, die von minimalistischen Performances zu extravaganten Spektakeln wechseln, Burlesque und avantgardistisches Theater vereinen. Durch Einblicke namhafter Kollegen ist der Film sowohl Dokumentation des Schaffens einer Künstlerin als auch Hommage an die Kraft subversiver Kunst. (Alexandra Zawia) Teaches of Peaches D 2024. Regie: Philipp Fussenegger, Judy Landkammer. Mit Peaches, Black Cracker, Leslie Feist, Chilly Gonzales u.a. Polyfilm. 102 Min.

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