DIE FURCHE · 20 14 Literatur/Musik 16. Mai 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 13 doch hier besonders abgründig, erscheint die zeitgenössische Gesellschaft als ein wie von Miasmen verseuchtes Biotop der Charakterlosigkeit und Niedertracht. Liebe in Wien Seine Liebessehnsucht verführte den Schriftsteller nach einer gescheiterten Ehe ab 1832 dazu, der begüterten polnischen Gräfin Ewelina von Hańska so lange untertänig den Hof zu machen, bis sie sich der Eheschließung nicht mehr verweigerte. Zuvor hatten sich die beiden oft auf Reisen getroffen, wie etwa im Frühsommer 1835 in Wien. In seiner 1926 erschienen Balzac-Biographie schildert der Literaturwissenschaftler Anton Bettelheim die Wiener Begegnungen mit Kanzler Metternich oder dem Orientalisten Hammer-Purgstall. Mit dem Fürsten Schwarzenberg besuchte der zu Ruhm gelangte Autor das Schlachtfeld von Wagram und wunderte sich über die Bodenwellen im Feld, bis Schwarzenberg ihm erklärte, dass dies die Leichen von Napoleons Armee seien. Auch über die Schlacht von 1809 wollte der Napoleon-Verehrer Balzac daraufhin einen Roman schreiben. Dazu kam es indes nie. Die Heiratszeremonie mit Ewelina von Hańska fand im März 1850 auf dem Schloss der Gräfin in der Ukraine statt. Die mehrwöchige Rückreise strapazierte Balzacs ohnehin angeschlagene Gesundheit so stark, dass er am 18. August in Paris starb. Nach 51 Jahren endete dieses aus dem Vollen geschöpfte Leben mit einem von ihm testamentarisch verfügten Armenbegräbnis auf dem Friedhof Père Lachaise. Den stolzen Schlusssatz hatte der Verstorbene schon früh selber formuliert: „Wenn ich tot bin, werden sie wissen, was sie an mir gehabt haben.“ Glanz und Elend der Kurtisanen Roman von Honoré de Balzac Übersetzt von Rudolf von Bitter Hanser 2022 816 S., geb., € 43,20 Verlorene Illusionen Roman von Honoré de Balzac Übersetzt von Melanie Walz Hanser 2014 960 S., geb., € 45,30 Literatur entdecken Thomas Adès’ brillante Shakespeare-Vertonung „The Tempest“ ist wieder in der Staatsoper, die bereits die kommenden Saisonvorhaben vorgestellt hat. Wenn Rache zu Milde reift Von Walter Dobner Die Moderne wird sich in der Oper nie durchsetzen. Sollte man dieses Bild nicht längst revidieren? Erst kürzlich konnte die Staatsoper mit „Animal Farm“ einen großen Erfolg einfahren – bei Presse wie Publikum. Und jetzt, bei der Wiederaufnahme von „The Tempest“, wird es am Ende nicht anders sein. Applaus gab es für den Dreiakter schon bei seiner Wiener Erstaufführung im Juni 2015. Auch diesmal stehen alle Zeichen auf Seit ihrem Gründungsjahr widmet sich DIE FURCHE der Welt der Bücher und schafft einen wertvollen Zugang zu Wissen, Fantasie und Inspiration. Entdecken Sie online Texte namhafter Autorinnen und Autoren – von 1945 bis heute. Jetzt 4 Wochen gratis lesen! u Gleich bestellen: www.furche.at/abo/gratis aboservice@furche.at +43 1 512 52 61 52 online im Navigator seit 1945 Erfolg. Wohl auch, weil neuerlich der Komponist, Thomas Adès, selbst am Pult des Orchesters steht, das sich sichtlich wohl fühlt unter seiner sich durch klare Zeichengebung charakterisierten Leitung. Mindestens ebenso fasziniert Adès Musik. Für diese Shakespeare-Oper hat sich der aus London stammende 53-Jährige, dessen von ihm gegründetes Aldeburgh Festival er einige Jahre leitete, von Monteverdi bis zu Benjamin Britten inspirieren lassen. Ohne sich dabei als Epigone zu gebärden. Er setzt auf Atmosphäre, FEDERSPIEL Schicksalsgeist Caroline Wettergreen (Ariel) brilliert in einer bunten, artistischen, aber auch hintergründigen Inszenierung von Shakespeares Stück „The Tempest“. „ Für diese Shakespeare-Oper hat sich Thomas Adès von Monteverdi bis zu Benjamin Britten inspirieren lassen. “ macht mit seiner irisierenden, farbenprächtigen, differenzierten Klangsprache deutlich, dass man hier Zeuge wird, wie das Schicksal einen rachelüstigen Prospero, den man einst um seinen Mailänder Thron gebracht und auf eine ferne Insel transferiert hat, zu einem milde gestimmten Weisen werden lässt. Es sind aufregende Die Ungnade des Jahrestags Jähren sich Geburtstage oder Todestage, gibt es keine Schreibkrisen mehr. Feuilletons und Büchertische sind voll mit entsprechenden Artikeln und Literatur, wie wir gerade im Fall von Immanuel Kant und Franz Kafka feststellen mussten. Freilich wären beide auch interessant, wenn sie nicht gerade vor 300 Jahren geboren und vor hundert Jahren gestorben wären. Wir lassen aber die anlassbezogene Beschäftigung als Kultur durchgehen, denn wir sind ja heute so froh, wenn irgendjemand noch irgendetwas liest. Schwieriger wird es, wenn man sich, anstatt dem Werk der Jubilare, den anlassbezogenen jüngsten Publikationen über sie widmet. Im Fall von Immanuel Kant sind das durchgehend sich am Biografismus abarbeitende, zufällig zur rechten Zeit fertig gewordene Sachbücher. Was ihre Sache ist, ist bei vielen allerdings unklar. Es sind fast ausschließlich philosophie-entfernte und philosophie-leere Bücher. Freilich, dieser und jener Promi hat auch etwas zu sagen, allerdings nicht viel und Foto: B© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn Bilder des Reifens von Persönlichkeiten, die hier zur Diskussion gestellt werden, in einer Inszenierung, die man sich bunter, artistischer, aber auch hintergründiger kaum vorstellen kann. Und auch nicht prophetischer. In der kommenden Saison Verdis „Don Carlo“ unter Philippe Jordan und in der Regie von Kirill Serebrennikov, Mozarts „Zauberflöte“ unter Franz Welser-Möst und der hier erstmals inszenierenden Barbora Horáková, Bellinis „Norma“ unter Michele Mariotti, Regie Cyril Teste, Tschaikowskys „Iolanta“ unter Tugan Sokhiev und Evgeny Titov sowie – als Abschiedspremiere des scheidenden Musikdirektors Philippe Jordan – Wagners „Tannhäuser“ mit Lydia Steier als Regisseurin gelten die Musiktheater-Premieren der kommenden Wiener Staatsopernsaison. Zudem György Kurtágs Einakter nach dem gleichnamigen Schauspiel von Samuel Beckett, „Fin de Partie“. Simone Young wird dirigieren, Herbert Fritsch inszenieren. Kurtág gehörte übrigens zu den prägenden Lehrern von Tomas Adès. The Tempest Wiener Staatsoper, 17.5. schon gar nichts Neues. Das ist schade, denn gerade Kant böte in Zeiten schwächelnder Demokratien sehr wohl Anlass, seine moralische Überlegungen und seinen Rechtsbegriff für gegenwärtige Diskurse heranzuziehen. Interessant ist etwa, dass Hans Kelsen, Architekt der Österreichischen Bundesverfassung und wichtiger Rechtstheoretiker in der Gründungsphase der Vereinten Nationen, sich wesentlich auf den Philosophen bezog. So schreiben Michael Hardt und Toni Negri in „Empire“: Kelsen ging es, in der Tradition Kants, um eine Vollendung des Rechtsbegriffs. Das Recht würde „Organisation der Menschheit und damit eins mit der höchsten sittlichen Idee“. Kant nach seinem Werk und nicht nach seinem ereignisarmen Tagesablauf zu beurteilen, wäre zumindest wünschenswert. Der Autor ist Schriftsteller. Von Daniel Wisser
DIE FURCHE · 20 16. Mai 2024 Ausstellung 15 Von Theresa Steininger Es waren keine einfachen Zeiten für eine Künstlerin: Die Ausbildung war nur in Privatschulen möglich, in Vereinigungen wie die Secession wurden Frauen nicht aufgenommen. Und doch setzte sich Broncia Koller-Pinell kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert durch. Sie stellte mit der Kunstschaugruppe und auf der Weltausstellung in Chicago aus. Sie war mit Egon Schiele gut bekannt und teilte mit Heinrich Schröder ein Atelier. Und sie malte Werke, in denen man Impulse von Gustav Klimt und Co erkennen kann, die aber doch eigenständig verarbeitet wurden. Welches Œuvre dabei entstand und welche stilistische Entwicklung sie dabei machte, zeigt nun eine Ausstellung im Unteren Belvedere. Angesehene Künstlerin Die chronologisch aufgebaute Schau präsentiert Broncia Koller-Pinell ab ihren Anfängen: Wie sie, aus reichem Haus stammend, privaten Unterricht in Zeichnen und Malen bekam und schließlich nach München ging, wo sie ausgebildet wurde – in Wien war das zu dieser Zeit ja akademisch noch nicht möglich. Wie sie zurück in ihrer Heimatstadt Wien in Künstlerkreise eines Gustav Klimts lose Aufnahme fand, Impulse der Secession aufnahm und später in der Kunstschaugruppe ausstellte. Auch in der renommierten Galerie Miethke präsentierte man Koller-Pinells Arbeiten. All das zeigt, dass sie zur damaligen Zeit angesehen war – und sich nicht nur wegen der finanziellen Absicherung durch das Unternehmen ihres Mannes etablierte. Auch eine Wanderung durch verschiedene Stile und Einflüsse lässt die Schau in der Orangerie des Unteren Belvederes zu: Die Kuratoren Katharina Lovecky und Alexander Klee haben herausgearbeitet, wie Koller-Pinells Werke zu Beginn noch sehr von der Münchner Schule des späten 19. Jahrhunderts geprägt waren und dann mehr „ In ihren Selbst- oder Frauenporträts fällt ein ungeschönter Blick auf – in einer Zeit, in der Kollegen Frauen besonders in Szene setzten. “ und mehr Elemente von Impressionismus und Japonismus sowie neusachliche Tendenzen aufnahmen. Als sie in der Galerie Miethke Vincent Van Goghs Arbeitsweise kennenlernte, fanden auch Landschaften wie jene, für die er steht, bei Koller-Pinell Eingang. Bild: Sammlung-Eisenberger / Wien Das Leben von Broncia Koller-Pinell (1863-1934) war durchdrungen von der Kunst ihrer Zeit, die sie selbst auch maßgeblich prägte. Das Untere Belvedere widmet ihr eine Ausstellung. Die Netzwerkerin Stillleben, Genrebilder wie Darstellungen von Häuserdächern und Porträts sowie Szenen im Schnee gehören zu ihren Hauptmotiven. In ihren Selbst- oder Frauenporträts fällt ein ungeschönter Blick auf – und das in einer Zeit, in der Künstlerkollegen Frauen besonders in Szene setzen. Generell repräsentiere „ihr malerisches Werk die Offenheit gegenüber den internationalen Entwicklungen und die charakteristische Formensprache der Secession und Wiener Werkstätte“, sagt Kurator Alexander Klee. Koller-Pinell war nicht nur selbst aktiv, sondern auch wichtige Auftraggeberin und Käuferin. So war ihr ganzes Leben durchdrungen von den Einflüssen der Wiener Werkstätte und der Kunst ihrer Zeit. Ihre Wohnung ließ sie von Josef Hoffmann und Koloman Moser ausstatten. Die Netzwerke, die für ihr Wirken wichtig waren, möchte man auch im Belvedere „Frauen in der Kunstgeschichte: Ignoriert und hintergangen“ von Theresa Steininger, 2.3.2022, furche.at Sitzende (Marietta) Statt eines erotisierenden Körpers zeigt Broncia Koller-Pinell Lebendigkeit und Individualität. Öl auf Leinwand, 1907. anschaulich darstellen. Durch feine, durchscheinende Vorhänge soll dem Ausstellungsbesucher ermöglicht werden, Bezüge herzustellen. Wechselwirkungen zu Albert Paris Gütersloh, Egon Schiele, Koloman Moser und Heinrich Schröder möchte man aufzeigen. Von diesem Netzwerk zeugen auch die Namen derer, die die Familie Koller-Pinell malte: Das reicht von einem Bild Broncias von Anton Faistauer über Güterslohs Bild von ihr als alter Frau bis zu einem Porträt ihres Mannes inmitten seiner Bücher, das Egon Schiele anfertigte. Und für nachkommende Künstlerinnen und Künstler war Broncia Koller-Pinell ebenso wichtig wie für ihre Tochter Silvia, deren Werke nun im Unteren Belvedere neben ihren hängen. „Wir zeigen ihren Stellenwert in der Kunstszene ihrer Zeit“, sagt auch Belvedere-Direktorin Stella Rollig. Sie ist stolz, dass man nun eine umfassende Einzelausstellung präsentiert, denn „richtig in dieser Fülle konnte man das Werk bisher nicht sehen“, so Rollig. Sie halte es für besonders interessant, wie Koller-Pinell „österreichische und internationale Kunstströmungen der Zeit auf persönliche Art anverwandelt hat.“ Misogyne und antisemitische Gründe Dass man sie heute weniger kennt, ist wohl der Historie anzukreiden: Als die Kunstschaugruppe 1932 aufgelöst wurde, verlor sie, wie Kuratorin Katharina Lovecky sagt, „ihr Netzwerk aus misogynen und antisemitischen Motiven“. Das Belvedere will sie nun zurück ins Kunstleben holen, an dem sie vor rund hundert Jahren Anteil hatte. Broncia Koller-Pinell Eine Künstlerin und ihr Netzwerk Bis 8. September 2024. Unteres Belvedere, täglich 10-18 Uhr. www.belvedere.at LEKTORIX DES MONATS Komisch vor ernstem Hintergrund Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963 Von Christopher Paul Curtis. Aus dem Engl. von Gabriele Haefs dtv 2024. 240 S., geb., € 16,50 Von Klaus Nowak Warum sie von allen in ihrer Umgebung bloß „die komischen Watsons“ genannt werden? Vermutlich, weil in ihrem Alltag immer ein bisschen mehr das Chaos herrscht als anderswo, weil mitunter lauter gezankt und gestritten wird, wenngleich sich letztlich alle miteinander furchtbar lieb haben. Und dann sind die Watsons auch eine afroamerikanische Familie – das macht in Flint, Michigan, und in den USA der 1960er Jahre natürlich einen Unterschied. Zumal wenn es draußen gefühlte „hundertachtundfünfzig Millionen Grad unter Null hat“, sich alle unter vielen Decken zusammenkuscheln und Momma Wilona verkündet, sie hätte vielleicht doch besser Mo Henderson heiraten und in Birmingham, Alabama, bleiben sollen. Dann läuft nämlich Vater Daniel zu humoristischer Hochform auf und erzählt eine seiner So-hab’-ich-eure- Mutter-rumgekriegt-Geschichten, die darauf abzielt, dass alle Kinder laut losprusten, aber nebenbei auch deutlich machen will, warum sie hier im Norden hocken. „Aber klar“, fiel Dad [seiner Frau] ins Wort. „Da unten lachen sie einmal pro Minute. Mal nachdenken, wo war doch gleich diese Toilette »Nur für Farbige« in der Stadt?“ Weil die Heizung immer noch nicht funktioniert und weil der zwölfjährige Byron Watson nach wiederholtem Schuleschwänzen und einigen Raufereien sich nun obendrein die Haare wie ein Kleinkrimineller gefärbt hat, reisen die Watsons dann doch nach Birmingham, Alabama. Dort soll die Großmutter dem Jungen so was wie Anstand und Respekt beibringen. Damit kippt in diesem über weite Strecken hochkomischen und aus der Sicht des jüngeren Bruders Kenneth erzählten Familienroman jäh die Stimmung. Denn Christopher Paul Curtis lässt seine fiktiven Watsons Augenzeugen historisch bitterer Momente der amerikanischen Geschichte werden. Während die Bürgerrechtsbewegung wächst und Martin Luther King seine unvergessliche Rede hält, werden im Birmingham im Jahr 1963 viele rassistisch motivierte Attentate verübt. Und am 15. September sterben vier junge Mädchen bei einem Bombenanschlag in der Baptisten-Kirche in der Sixteenth Avenue – Addie Mae Collins, Denise McNair, Carole Foto: Getty Images / Burton McNeely Robertson und Cynthia Wesley. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Und allen, die weiterhin unerschrocken für ihre Rechte und gegen die Rassentrennung kämpften. „Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963“ ist erstmals vor 30 Jahren erschienen. Die Neuausgabe verdankt sich einerseits wohl dem leider immer noch schwelenden Rassismus, aber auch verstärktem gesellschaftlichem Engagement und Bewegungen wie „Black Lives Matter“. Als Roman, der schon 1994 ein historisches Setting vorgab und über den genauen Blick auf Ungerechtigkeiten jeglicher Art verfügte, ist er heute so frisch wie eh und je. Und einer der schönsten Romane über Kindheit und Familie. Das bestätigen die in der Neuausgabe beigefügten schwärmerischen und hymnischen Nachworte von Jacqueline Woodson, Kate DiCamillo, Varian Johnson und Jason Reynolds.
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE