DIE FURCHE · 20 12 Diskurs 16. Mai 2024 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at FURCHE, keep publishing! Allgemein zu FURCHE Nr. 19 Ich bin wieder einmal hingerissen von der neuesten Ausgabe! Wenn an meiner Schule in Zukunft keine Handys mehr während der Unterrichtszeit erlaubt sind, ist das unter anderem das Verdienst von Magdalena Schwarz – sie spricht mir in ihrem Leitartikel aus der Seele, und ich werde das jetzt vielleicht wirklich initiieren. Dann die Geschichte über Glengarriff – ich überlege schon, dort vorbeizuschauen, denn Irland liebe ich sowieso. Punktgenau Brigitte Quints profunde Betrachtung zur aus meiner Sicht mittlerweile nur noch schwer erträglichen Bierpartei; Herfried Münkler beantwortet die ganz großen Fragen; und dann die spannende Debatte zwischen Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Kurt Kotrschal: Ich finde es super, von Leuten zu lesen, mit denen ich nicht übereinstimme. Johanna Hirzberger ist wie immer hinreißend, und die Rezension des neuen Gauß-Buches hat mich auch begeistert. Schließlich erfährt man auch immer wieder coole Kleinigkeiten – z.B. dass Hannah Arendt schon 1972 den publish or perish-Imperativ beklagte. Unglaublich. Liebe FURCHE-Redaktion, ich kann euch nur bitten: Keep publishing! Ihr macht die Welt zu einem besseren Ort. Gregor Schrettle, Kirchdorf/Krems Nicht kampflos aufgeben Die echte Reifeprüfung. Von Magdalena Schwarz, Nr. 19, Seite 1 Ich habe diesen Beitrag mit sehr großem Interesse gelesen. Als Obmann des Elternvereins des Bundesgymnasiums in Seekirchen bin ich mit der Thematik der Nutzung von Smartphones und insbesondere von Social Media Apps in allen seinen Ausprägungen regelmäßig konfrontiert. Im Schulgemeinschaftsausschuss, in dem Vertreter der Pädagogen, Eltern und Schüler:innen sitzen, hatten wir dazu schon lebhafte Diskussionen. Ich trete in meiner Funktion als Elternvereinsobmann in unseren Sitzungen, aber auch darüber hinaus, regelmäßig an die Eltern mit Themen heran, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen und die wir nicht einfach achtlos dahinlaufenlassen können. Das Thema Smartphone und der Umgang damit ist aktuell das zentrale Brennpunktthema. Wie Sie so treffend formulieren, ist dieser Kampf eine der wichtigsten Prüfungen unserer Zeit. Und dazu braucht es Inititativen, wenn es auch auf der persönlichen Mikroebene aussichtslos scheint. Aber unsere Kinder diesen Entwicklungen kampflos auszusetzen, ist für mich keine Option. Mag. (FH) Dieter Pirchner, MIB 5152 Dorfbeuern Generalverbot wäre Nachteil wie oben Ich habe mit Interesse ihren Artikel „Die echte Reifeprüfung“ gelesen. Allerdings bleibt ein großes „Aber“ stehen. Ich unterrichte seit geraumer Zeit Kunst und Gestaltung (früher Bildnerische Erziehung) an einer Salzburger AHS. Früher musste von der Schule eingekauft werden: ein Video Camcorder, anfangs aktentaschengroß, dann faustgroß, digitale Fotoapparate, anfangs mit überschaubarer Auflösung, später immer besser; Softwarepakete zu diversen digitalen Anwendungen, die selten billig waren und immer wieder Updates brauchten… Vielleicht hätte ich mit „hätte eingekauft werden sollen“ beginnen müssen, weil in der Realität die Ausstattung selten vorhanden war. Die Lösung kam mit dem flächendeckenden Besitz der Smartphones. Ich lasse die Smartphones im Unterricht dauernd nutzen. Sie sind wertvolles Arbeitsmittel zur Internetrecherche, vollwertige Fotoapparate, leistungsfähige Filmkameras und alle meine Schüler:innen verfügen über eine – verzeihen sie den Ausdruck – affenartige Geschwindigkeit, sich Softwares anzueignen und anzuwenden. So gesehen wäre ein generelles Handyverbot ein entschiedener Nachteil für meine Unterrichtsarbeit. Ich muss ihnen aber zustimmen, dass es zunehmend schwieriger wird, Jugendliche von ihren Handys fernzuhalten. Viele meiner Schüler:innen weisen ein regelrechtes Suchtverhal- ten auf. Die Aufmerksamkeitsspanne hat während meiner Dienstlaufbahn stark nachgelassen. Und da spreche ich von Oberstufenschüler:innen! Konnte ich früher eine Dokumentation von 45 Minuten oder länger zeigen, begnüge ich mich mittlerweile mit einem Fünf-Minuten-Überblick. Ob ein generelles Verbot zielführend ist, möchte ich bezweifeln. Zu vieles von der Bringpflicht der Institution Schule wurde bereits auf die Schulgemeinschaft abgewälzt. Das eine bessere Kontrolle des Handygebrauchs im Schulalltag möglich wäre, wäre schön. Wir haben aber das Smartphone aus der Büchse der Pandora geholt und werden lernen müssen, es sinnvoll zu nutzen. Dass dabei Generationen von Kindern immer wieder die gleichen Fehler machen müssen, soll natürlich bitte vermieden werden. Dazu wäre aber eine unpolitische Diskussion notwendig. Nicolas Weisseneder, via Mail Ein Name fehlt Als „christliche Politik“ in die Diktatur führte „Zeit-Weise“ von Otto Friedrich Nr. 19, Seite 15 Mit großem Interesse und meist auch mit weitgehender Übereinstimmung lese ich Ihre Ausführungen. So auch diesmal, da Sie von der „unsäglichen Allianz“ der katholischen Amtskirche mit dem Dollfuss/Schuschnigg-Österreich schreiben. Was mir darin fehlt, ist ein Hinweis auf den vielseitigen Wissenschaftler und Lebensreformer, Politiker, Publizisten und letzten priesterlichen Politikkandidaten der Zweiten Republik (für die Bundespräsidentenwahl), Univ.-Prof. DDDDr. Johannes Ude. Er war der wohl wortgewaltigste Gegner des Austrofaschismus und seiner Auswüchse, hat deshalb vom steirischen „Fürstbischof“ Dr. Pawlikowsky mit Zustimmung des österreichischen Bischofskollegiums 1930 Predigtverbot bekommen – und ist durch den Austrofaschismus um seinen Lehrstuhl gebracht worden. Seine heftige Kritik am NS-Regime brachte ihm Kerkerhaft ein, vor dem sicheren Tod retteten ihn nur die Alliierten. Seine radikale Ansichten und seine rhetorische Begabung führten zum Beinamen „Savonarola der Steiermark“… Johannes-Maria Lex, via Mail Irritation und Genuss Der Engel von Sewastopol Von Manuela Tomic, Nr. 19, S. 24 Im Text zum Bild von Florence Nightingale wird erwähnt, dass sie im Militärkrankenhaus von Skutari im heutigen Albanien gewirkt hätte. Dies wunderte mich, zumal im Text die Rede davon ist, dass Florence Nightingale „mit 40 Krankenschwestern auf die Krim ins Militärkrankenhaus von Skutari“ reiste. Mit der Eingabe von „Skutari“ bei Google Maps landete ich tatsächlich in Albanien, und zwar in der Stadt mit dem heutigen Namen Shkodra/Shkodër – wohl zu weit von der Krim entfernt für ein solches Krankenhaus. Ein Skutari auf der Krim konnte ich allerdings nicht entdecken. Recherchen zu Florence Nightingales Leben führten mich schließlich in den Istanbuler Stadtteil Üsküdar, der auch Scutari genannt wird. Dies war wohl der Standort dieses Militärkrankenhauses für die Soldaten des Krimkriegs. Dennoch haben ich diesen Artikel mit großem Interesse und die nebenstehende Kolumne „mozaik“ mit großem Genuss gelesen. Roswitha Moser, Gleisdorf Wenn Hilfe versagt wird Retrotopie & Hoffnung Von Doris Helmberger, Nr. 18, S. 3 Christoph Leitl schreibt in seinem Buch „Europa und ich“, dass Russland heute ein blühendes demokratisches Land wäre, hätte Europa Gorbatschow nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 geholfen. In der Tat: Durch den Global Marshall Plan halfen die USA nach 1945 zum Aufbau eines demokratischen Europas. Geschichte wiederholt sich leider wieder: Die Nicht-Hilfe nach dem Ersten Weltkrieg führte zur „Dolchstoßlegende“ und zum Aufstieg Hitlers. (Das Ungarn Orbáns leidet heute noch unter zwei Dritteln Gebietsverlusten laut Trianon 1920). Zu befürchten ist, dass zahllose Menschen aus Afrika zu uns flüchten, sollte Europa diesem Kontinent die Hilfe versagen, siehe die Global Marshall Plan-Initiative von Vizekanzler a.D. Josef Riegler. Pfarrer Karl Niederer, St. Anna-Gösting Conny Kreuter am Freitag im LOTTO Studio Am Freitag, den 17. Mai gibt es wieder eine Bonus- Ziehung, mit 10 Luxus-Urlauben extra zu gewinnen Profi-Tänzerin und Moderatorin Conny Kreuter stattet am Freitag, den 17. Mai 2024 dem LOTTO Studio wieder einmal einen Besuch ab. Nicht als Tänzerin, sondern als Moderatorin. Und lässt die Kugeln tanzen. Erst jene von „6 aus 45“, dann die von LOTTOPLUS, und schließlich auch noch jene des Joker. Denn am Freitag gibt es eine weitere Bonus-Ziehung. Es ist Kreuters zweiter Auftritt auf der LOTTO Bühne (nach August 2021), und diesmal gibt es zehn Luxus-Karibik-Urlaube extra im Gesamtwert von 300.000 Euro zu gewinnen. Diese Bonus- Gewinne werden unter allen bei der Bonus-Ziehung mitspielenden LOTTO Tipps verlost. Annahmeschluss für die Bonus- Ziehung ist am Freitag, den 17. Mai 2024 um 18.30 Uhr, die Ziehung gibt es um 18.47 Uhr live in ORF 2 zu sehen. Conny Kreuters zweiter Auftritt im Lotto Studio Foto: © ORF / Günter Pichlkostner IN KÜRZE RELIGION KULTUR LITERATUR MEDIEN ■ „Bunte“ Kirchenzukunft ■ Omri Boehms Rede an Europa ■ Alice Munro (1931-2024) ■ Patterer mit Preis geehrt Mit baldigen und grundlegenden Veränderungen der Verfasstheit der katholischen Kirche rechnet die Theologin Klara-Antonia Csiszar. „Die Kirche wird sicherlich weiterbestehen, nur vielleicht nicht in der Form, wie wir sie jahrhundertelang kannten“, meinte die Theologie-Dekanin der KU Linz, die an der Weltbischofssynode in Rom als Expertin teilnimmt und Hauptrednerin bei der 75-Jahr-Feier der Katholischen Aktion in Linz war, zu den Oberösterreichischen Nachrichten. Im von Papst Franziskus angestoßenen Synodalen Prozess würden gerade „die Puzzleteile aus der ganzen Welt zusammengetragen“. Es sei für ihn wichtig, den Blick von Lessings Statue „auf mich, auf uns alle und auf das Mahnmal hinter mir gerichtet“ zu wissen, sagte Omri Boehm am 7. Mai in seiner „Rede an Europa“, die bereits im Vorfeld für Empörung gesorgt hatte. Denn „Lessing war derjenige, der eine für mich essentielle Verknüpfung zwischen der Aufklärung und der Freundschaft hergestellt hat.“ Boehm erinnerte an den Grundsatz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und appellierte an Europa: „Besteht auf der Realität eurer Ideale.“ Die gesamte Rede ist hier anzusehen bzw. nachzulesen: www.festwochen.at/ eine-rede-an-europa-2024. Am 10. Juli 1931 wurde Alice Ann Laidlaw als Tochter eines Farmers und einer Lehrerin in der kanadischen Provinz Ontario geboren. Sie wurde eine Meisterin der Kurzgeschichte. „Alice Munros Thema sind Menschen. Menschen, Menschen und noch mal Menschen“, schrieb Jonathan Franzen über Munro, die 2013 den Nobelpreis für Literatur bekam. „Wenn ich Alice Munro lese, stellt sich jener Zustand stiller Reflexion ein, in dem ich über mein eigenes Leben nachdenke, über die Entscheidungen, die ich getroffen, über die Dinge, die ich getan oder unterlassen habe, darüber, was für ein Mensch ich bin, über meinen Tod.“ Munro ist am 13. Mai gestorben. Der „Kurt-Vorhofer-Preis“ 2024 geht an Hubert Patterer. Der Chefredakteur der „Kleinen Zeitung“ zeichne sich durch „stilistische Brillanz“ und „keine parteipolitische Beißhemmung“ aus, befand die Jury. Überreicht bekommt der Journalist die mit 7.500 Euro dotierte Auszeichnung am 13. Juni durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen in der Hofburg. „In seiner unbeirrbaren Verteidigung von Freiheit und Demokratie ist er niemals missionierend und bleibt immer erklärend. Das macht Hubert Patterer in jeder Weise zu einem couragierten journalistischen Ausnahmekönner“, meinte die Jury.
DIE FURCHE · 20 16. Mai 2024 Literatur 13 Vor 225 Jahren wurde der Schriftsteller Honoré de Balzac geboren. Er empfand die Welt als aus den Fugen geraten. Verhängnis Liebe, Verderbnis Geld Von Oliver vom Hove Manche Größen der Literaturgeschichte sind so monumental, dass sie einschüchternd wirken. Bei Honoré de Balzac ist es die schiere Vielzahl der Romane und Novellen, die er mit dem Vorsatz, eine umfassende „Menschliche Komödie“ zu entwerfen, lebenslang Band für Band aneinanderreihte. Ein Gutteil dieser über 90 Werke ist uns heute fern gerückt. Doch ein rundes Dutzend lohnt die Auseinandersetzung. Jeder Künstler, der mit seinem Werk in das Geschehen seiner Lebenszeit einzugreifen sucht, empfindet die vorgefundene Welt als aus den Fugen geraten. So erging es auch Balzac, der diese fundamentale Sicht zum Ausgangspunkt einer umfassenden Darstellung der Gesellschaft seiner Umgebung, der Restaurationszeit in Frankreich, machte. Mit übermenschlichen Kräften trachtete dieser Schriftsteller Tag und Nacht nach Inbesitznahme der Welt. In Balzacs Merkbuch lautet sein Vorsatz schlicht „mein Jahrhundert darstellen“ (exprimer mon siècle). Monströses Figurenensemble Als Franzose mit und nach Napoleon zu leben, brachte von vornherein ein beträchtliches Maß an Selbstüberschätzungen, vor allem aber auch an Ernüchterungen mit sich. So erging es auch Balzac. Stefan Zweig hat ihm dieses „Welteroberungsgelüst“ attestiert: „Den Trieb, die ganze Weltfülle gierig zu erstreben, diesen fieberhaften Ehrgeiz hat vorerst das Beispiel Napoleons an ihm verschuldet.“ Wie ihr Schöpfer sind die meisten seiner Figuren von unersättlicher Lebensgier getrieben. Zugleich trägt ihnen dies nahezu ausnahmslos das Scheitern ein. So stellte Balzac, angesichts seiner Epoche selber zwischen Faszination und Verzweiflung schwankend, die damals hereinbrechende Fortschrittsgläubigkeit bloß, die den Menschen eine gnadenlose Rastlosigkeit aufzwingt und letztlich in lauter Niederlagen mündet. Nicht eine politische Idee oder ein falsches Sendungsbewusstsein verfolgt Balzac, sondern die Verzerrung des Lebens durch Habgier, Dünkel und selbstgefällige Illusionen wird gezeigt. Dass plötzlich alles zum Geld drängte, wertete der notorische Schuldenmacher als das Verhängnis schlechthin. Die Gier nach Geld ist das zentrale Motiv der meisten seiner Romane. In „Eugénie Grandet“ etwa vereitelt der unbändige Geiz eines Vaters das Lebensglück seiner Vielschreiber Mehr als 90 Werke hat Honoré de Balzac (geboren am 20. Mai 1799) verfasst, vieles zählt heute zu den Klassikern der französischen Literatur. „ Wie ihr Schöpfer sind die meisten seiner Figuren von unersättlicher Lebensgier getrieben. Zugleich trägt ihnen dies das Scheitern ein. “ gutgläubigen Tochter. In „Vater Goriot“ wiederum, einer abgründigen Paraphrase auf Shakespeares „König Lear“, erntet ein Vater den maßlosen Undank seiner missratenen Töchter. Und in „Das Chagrinleder“ vertraut sich ein durch Spielschulden bedrängter junger Fant einem vermeintlichen Zaubermittel an, um an den erlösenden Reichtum zu gelangen. Lange Zeit war Balzac als Schriftsteller erfolglos geblieben. Erst „Das Chagrinleder“ brachte 1831 den Durchbruch beim Publikum. Im Vorwort schreibt der Autor: „Der Schriftsteller muss mit allen Vorkommnissen, allen Spielarten der menschlichen Natur vertraut sein. Daher ist er darauf angewiesen, einen auf unerklärliche Weise verdichtenden Spiegel in sich zu tragen, in dem sich, seiner Vorstellung gemäß, für ihn das Universum abzeichnen kann.“ In seinen Romanen herrscht ein ungeheures Gedränge, ein machtvoll herumwuselndes Gemisch aus auftrumpfenden Siegertypen, gefallsüchtigen Gesellschaftsdamen, kühnen Kokotten, sklavisch abhängigen Dienstboten, haltlosen Herumtreibern und verruchten Wucherern. Nahezu alle Gattungen der merkantilen Erwerbstüchtigen treten auf. Ein monströses Figurenensemble stellt sich zur Schau, narzisstisch und ungeniert. Erich Auerbach hat darauf hingewiesen, dass das Wort „Milieu“ bei Balzac „zum ersten Male im soziologischen Sinne auftaucht“ und seither „eine so große Karriere“ eingeschlagen hat. Wie ein Dramatiker konzentriert Balzac alle Leidenschaft und Vitalität auf den Auftritt seiner Figuren und ihre kennzeichnende Handlungsweise. Sehr früh und unerreicht treffend hat das Foto: Getty Images / Universal History Archive Lesen Sie auch „Verlorene Illusionen – Balzac für die Internet- Generation“ von Philip Waldner (19.10.2022) auf furche.at. Charles Baudelaire zusammengefasst: „Alle seine Figuren besitzen die glühende Lebensintensität, die ihn selber vorantrieb. Alle seine Eingebungen sind mit denselben starken Farben durchtränkt wie die Träume. Von der Spitze der Aristokratie bis herunter zu den Niederungen des Pöbels sind die Darsteller seiner ‚Menschlichen Komödie‘ begieriger auf das Leben, wendiger und listenreicher im Daseinskampf, langmütiger im Unglück, unersättlicher im Genuss, engelhafter in der Aufopferung, als die Komödie der wahren, der tatsächlichen Welt uns die Menschen zeigt. Kurz gesagt, bei Balzac hat ein jeder Genie, sogar die Portiersfrauen.“ Freilich: Stilistische Feinheit und konzise Handlungsführung darf man bei Balzac nicht erwarten, der seine zügellosen Geschichten in eruptiven Schaffensnächten aus sich herausgeschleudert und dabei vor Melodramatik und haltlosen Gemeinplätzen nicht zurückgescheut ist. „Schlacken“ nennt das der Balzac-Forscher Ernst Robert Curtius: „Was Balzac fehlt, ist ein mit Sicherheit eingehaltenes Niveau.“ Balzacs Lebensweg als am 20. Mai 1799 in Tours geborener und später in Paris aufgewachsener Sohn eines Verwaltungsbeamten entbehrt nicht der dramatischen Wendungen. Der Autor lebte unstet und schrieb besessen, nachts aufgepeitscht durch zahllose Tassen Kaffee. Hinzu traten nicht wenige erotische Affären und einige spektakulär gescheiterte Unternehmungen. Äußerlich war der Schriftsteller nicht dazu geschaffen, als Adonis zu gelten. Er war eine breitgebaute, stiernackige Kraftnatur, ein Genussmensch ohne Maß, vierschrötig und plebejisch, der wie Byron unter der „Tyrannei der Liebe“ litt. Mit eloquentem Charme umschwirrte er ältere adlige Frauen und hatte damit zuweilen erstaunlichen Erfolg. In seiner Vorliebe für ältere Geliebte, sowohl im Leben wie im Schreiben, offenbart sich eine ödipale Erotik. Spiegel seiner Zeit Als sein Hauptwerk gilt der späte Roman „Verlorene Illusionen“, der seit einiger Zeit in neuer, schlanker Übersetzung von Melanie Walz vorliegt. Wie in etlichen anderen balzacschen Romanen wird darin die Kleingeisterei der Provinzgesellschaften erbarmungslos bloßgestellt. In den Roman, der teilweise im Druckereigewerbe spielt, sind Balzacs ruinöse Erfahrungen mit einer eigenen Verlagsgründung eingeflossen, deren Fehlschlag ihm lebenslange Schulden aufbürdete. Im Zentrum steht der junge Provinzschönling Lucien Chardon, der anfangs als Dichter mit Charme, Talent und viel charakterlicher Biegsamkeit seinen Karriereweg aus einer verschlafenen Kleinstadt ins aufblühende Pariser Zeitungsgewerbe einschlägt, dort Feuilletonist wird und dabei Erfahrungen macht, die dem Leser mittels drastischer Bilder die Pionierzeit eines anrüchigen, tief korrupten Boulevardjournalismus nahebringen. Lucien, der kläglich scheitert, gerät an einen zwielichtigen Retter im Priestergewand, der ihn durch einen mephistophelischen Pakt an sich zu binden weiß. Gleichsam als Fortsetzung lesen sich die Geschichten und Szenen um Lucien im Roman „Glanz und Elend der Kurtisanen“. Darin weitet Balzac den sozialen Querschnitt auf die Pariser Unterwelt aus, ergänzt um vernichtende Einblicke in das Justizsystem. Wie Figuren auf einem Schachbrett schiebt der teuflische Manipulator Collin seinen Schützling Lucien wie auch dessen Geliebte, die zur „Pretty Woman“ geläuterte Kurtisane Esther, in Richtung Vermögensvermehrung, bis er als notorischer Krimineller auffliegt. Wie in anderen Werken Balzacs, FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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