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DIE FURCHE 15.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 20 10 Diskurs 16. Mai 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich muss nicht mehr unbedingt up to date sein Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast „ Auch ich habe nichts gegen sorgsam erstellte Fotoalben. Ich habe nur etwas gegen das Fotografier- Gewäsch, mit dem Handyspeicher überflutet werden. “ Sie werden es mir nicht übel nehmen, wenn ich das Wort „Quatsch“ nicht auf dem verehrten Thomas Bernhard sitzen lasse. Sie sind dem provokanten Zitat von der Fotografie als „größtem Unglück“ wie einer verlockenden Pechnelke prompt und zartbeflügelt auf den Leim gegangen! Thomas Bernhard scheut ja keinen Superlativ. „Um etwas begreiflich zu machen“, schreibt er einmal, „müssen wir übertreiben“. Und das tut er oft und gründlich. Es ist paradox: Von kaum einem anderen Autor (und keiner Autorin) sind so viele hervorragende Fotos im Umlauf wie von Thomas Bernhard! Und er scheint das Fotografiertwerden sogar recht narzisstisch genossen zu haben! Ich gebe zu, dass ich mir das Zitat bei Thomas Bernhard ausgeborgt habe, um meiner eigenen Abneigung gegen das schlampige Fotografieren ein literarisches Mäntelchen umzuhängen. Nein, auch ich habe nichts gegen sorgsam erstellte Familien-Fotoalben, gegen Erinnerungs- oder Dokumentationsfotos. Ich habe nur etwas gegen das Fotografier-Gewäsch, mit dem Millionen Handyspeicher überflutet werden. Gegen diese Banalisierung der Welt und Bespiegelung der Oberflächlichkeit unserer Beziehungen! Das hat wohl Thomas Bernhard – Prophet, der er war – schon zu seiner Zeit und eben auf seine Art angeprangert. Ja, ich halte manche „Photographien“ [sic!] sogar in Ehren, zum Beispiel die 80 Jahre alten Porträts meiner Eltern auf dem Bücherbord und – Sie mögen lächeln - ich rede sogar öfter mit ihnen. Und sie hören mir meist verwundert – aber immer gelassen – zu. Nun zu Ihren Gedanken über Neugier und dem Umgang Älterer mit Smartphone & Co. Wenn Sie schreiben, dass die Neugier mit dem Alter abnimmt, kann ich dies auch an mir selber feststellen. Ich bin nämlich sehr wählerisch dabei geworden, worauf ich die Sensoren meiner Neugier richte. Ich muss nicht mehr unbedingt up to date sein. Ein Luxus, ich weiß. Vielleicht habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich während der Jahreszeiten des Wachsens und Blühens in der Natur mit großer Freude – und mit völlig nutzloser Neugier – eine App auf meinem Handy nutze, mit der ich bei der morgendlichen Wanderung fotografisch die Namen von Pflanzen und deren besondere Eigenschaften erkunde (vgl. FURCHE Nr. 19, S. 3). So wird das Herbarium meiner umliegenden Wiesen und Felder zum originellsten Verbarium, dank der phantasiereichen Pflanzennamen, die ich dabei lerne. Zum Beispiel Natternkopf, Löwenmaul oder Habichtskraut, mittendrin die Blaue Himmelsleiter. Wenn ich Ihnen davon schon berichtet habe, dann verzeihen Sie mir. Ich ertappe mich nämlich oft genug dabei, dass mich Altersgenossen amüsieren, wenn sie mir eine Geschichte zum dritten Mal erzählen – und ich zum dritten Mal interessierte Neugier heuchle. Leider kann man wahrscheinlich mit allen Geschichten und aller Naturpoesie, die unsere schöne Welt aufzubieten hat, den Schäbigkeiten und Feindseligkeiten nicht entkommen, die aus den schmutzigen Hinterhöfen der Alltagspolitik grinsen. Dabei will ich an die großen und schrecklichen Konflikte gar nicht denken. Die kleine Welt der Intrigen und Verdächtigungen genügt, um politische Hoffnungen im Keim zu zerstören. Genießen wir trotz allem die zweite Hälfte des Wonnemonats! Am 9. Mai verstarb der Schriftsteller, Übersetzer, Diplomat und Journalist Ivan Ivanji. Wir bringen einen Auszug aus der Würdigung, die zu seinem 80. Geburtstag erschienen ist. Eindringliches Zeugnis 3800 AUSGABEN DIGITALISIERT Von Christian Jostmann In FURCHE Nr. 4 23. Jänner 2009 Der Schriftsteller, Übersetzer und Journalist Ivan Ivanji feierte am 24. Jänner 2009 seinen 80. Geburtstag. Geboren im „multikulturellen“ Banat im Norden Serbiens, pendelte Ivanji zwischen Belgrad und Wien, war ein gesuchter Gesprächspartner und wirkte als Vermittler zwischen Serbien und Europa. Es war die beste Zeit meines Lebens“, sagt Ivan Ivanji über jene 15 Jahre, während derer er dem jugoslawischen Staatschef Tito als Dolmetscher dienen durfte. Und fügt, fast entschuldigend, hinzu: „Es war ja auch das beste Alter in meinem einzigen Menschenleben.“ Man muss bei Ivan Ivanji stets auf der Hut sein, dass man nicht auf sein Understatement hereinfällt. „Mein einziges Menschenleben“: Die Worte kaschieren, dass in dieser Biografie mehr Geschichte eingeschrieben ist, als in einem Roman Platz hat. Mehr als ein Dutzend Romane hat der Schriftsteller Ivan Ivanji veröffentlicht, viele davon sind autobiografisch gefärbt. Sein jüngstes Werk, 2008 erschienen unter dem Titel „Geister aus einer kleinen Stadt“, führt nach Großbetschkerek, das heute Zrenjanin heißt und im Banat liegt, jener Region im Norden Serbiens, die ganz früher zu Ungarn gehörte und von 1716 bis 1918 Teil des Habsburgerreichs war. In dieser Stadt, wo zu gleichen Teilen Ungarn, Serben und Deutsche lebten, wurde Ivan Ivanji am 24. Jänner 1929 als Sohn eines Arztes geboren. Sein letzter Roman zeichnet ein liebevolles Bild jener, heute würde man sagen: multikulturellen Gesellschaft, in der es wohl Unterschiede des Standes gab und entsprechende Konflikte, aber nicht der „Rasse“. Dann marschierten die Deutschen ein. „Wenn Hitler und Himmler nicht gewesen wären, wüsste ich gar nicht, was das ist, ein Jude“, sagt Ivan Ivanji. Dank ihnen erfuhr er, dass er selbst einer war. Die Nazis ermordeten seine Eltern und deportierten ihn, nachdem er sich eine Zeitlang bei Verwandten versteckt hatte, im Frühjahr 1944 nach Auschwitz und von dort nach Buchenwald, wo er bis zu seiner Befreiung im April 1945 schuften musste – ein Schicksal, von dem er in seinem Roman „Der Aschenmensch von Buchenwald“ ein eindringliches Zeugnis gibt. Nach der Befreiung aus dem KZ erlebte Ivanji die Russen. Sie imponierten ihm, im Gegensatz zu den Amerikanern, und er wurde Kommunist, das heißt: Titoist, was er nach eigenem Bekunden bis heute geblieben ist. Er arbeitete in vielen Berufen, unter anderem als Lehrer, Intendant und Diplomat. Seine Herkunft, die ihn in drei Sprachen zuhause sein lässt, prädestinierte ihn zu Titos Dolmetscher, außerdem zum Übersetzer von Brecht, Borchert, Grass und Danilo Kis – und zum Korrespondenten während des Ungarn- Aufstands 1956. Auch daraus wurde ein Roman: „Ein ungarischer Herbst“, der freilich kein Fanal der Freiheit besingt: Foto: APA / Georg Hochmuth „Wenn Parolen aufkommen:, Hängt die Kommunisten und die Juden‘, ist das nicht Friede, Freude, Eierkuchen“, sagt Ivan Ivanji. Dann starb Tito, und Ivan Ivanji verlor zum zweiten Mal seine Heimat. Als Slobodan Milošević zum Chef „seiner“ Partei wurde, trat er aus ihr aus, und als „sein“ Staat sich Anfang der 90er Jahre zerfleischte, emigrierte er mit seiner Frau nach Wien. VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. 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DIE FURCHE · 20 16. Mai 2024 Diskurs 11 Protest für die Freiheit Palästinas ist nicht notwendig antisemitisch. Doch wenn er nicht zugleich Protest ist gegen das Terrorregime der Hamas, wird er Verrat an aller Hoffnung. Ein Gastkommentar. Wo Kritik an Israel aufhört, Kritik zu sein Israels Krieg gegen die Hamas in Gaza hat eine humanitäre Katastrophe ausgelöst und stößt auf heftige Kritik. Erneut stellt sich die alte Frage: Wo liegt die Grenze zwischen Israelkritik und Antisemitismus? Und wer sind deren Wächter? Doch vielleicht ist diese Frage falsch gestellt. Vielleicht geht es nicht darum, wo Antisemitismus beginnt, sondern wo Kritik endet. Gewiss, Antisemitismus ist eine Wirklichkeit in Wort und Tat, die ein dringendes Problem darstellt. An der Definition dieses Problems scheiden sich allerdings die Geister. So ziehen etwa die „Arbeitsdefinition“ der International Holocaust Remembrance Alliance und die alternative „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ sehr unterschiedliche Grenzen um das, was heute Antisemitismus heißt; und diese Grenzen betreffen vor allem antizionistische Diskurse und Boykottbewegungen. Ein Begriff, viele Definitionen ter „objektiv urteilenden, liberal denkenden Männern der Intelligenz.“ Der Antisemitismus, wie Bloch wusste, ist der Judenhass der gebildeten Leute. Aller Hass jedoch, lehrte der jüdische Philosoph Hermann Cohen, ist grundlos — sinat chinam, wie es im Talmud heißt. Er kennt keine Gründe, keine bestimmten Fehler und Vergehen, sondern versteht nur, den ganzen Menschen zu hassen. Natürlich nennen Antisemiten tausend „Gründe“ ihres Hasses. Aber sie kennen keinen einzigen Grund, nicht zu hassen. Daher beginnt aller Antisemitismus mit unkritischem Pessimismus. Die Antisemiten, DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Asher D. Biemann „ Protest ist immer Verkürzung. Parolen verlangen nicht kritisches Denken, sondern einen gehorsamen Sprechchor. “ sagten Horkheimer und Adorno, „verwandeln die Welt in die Hölle, als welche sie sie immer schon sahen.“ Ein Verständnis antisemitischen Denkens muss also mit dem Erkennen jener Grenze beginnen, wo Kritik aufhört, Kritik zu sein, wo sie aufhört zu unterscheiden, wo sie nicht mehr Kritik bestimmter Taten ist, sondern kritikloser Hass des ganzen Seins. Da antisemitische Rede seit 1945 im Westen weitgehend tabuisiert ist, definieren sich heute nur wenige Antisemiten als solche. Vielmehr verbergen sich ihre Anschauungen hinter dem Schleier einer geläuterten „Kritik“, die sich nur mit ih- Historisch gesehen, definierten die frühen Antisemiten sich und ihren Antisemitismus selbst. Wilhelm Marr, der unselige Urvater dieses armseligen Begriffs, verstand den Antisemitismus als den „Schmerzensschrei Unterdrückter“. Der Philosoph Eugen Dühring verstand ihn als „Aufklärung“ im Namen „einer wahren Humanität und Cultur“ und betrachtete „die“ Juden als „inneres Carthago“ eines jeden Menschenfreunds. Ein anderer, der seine Laufbahn als Bierhallenredner in München begann, verstand seinen Antisemitismus als „ehrliche Arbeit.“ Kurz, der anfängliche Antisemitismus galt als eine durchaus „salonfähige“ Weltanschauung. Er gab sich als Advokat der Schwachen und als Antwort auf alle Weltprobleme. „Viele halten die antisemitische Bewegung für eine moralische“, schrieb Heinrich Coudenhove-Kalergi in seiner heute vergessenen Kritik des Antisemitismus von 1901; „ungezählte edle, brave und große Männer sind Antisemiten.“ Und in seinen Erinnerungen an den Wiener Antisemitismus um die Jahrhundertwende, bemerkte der Floridsdorfer Bezirksrabbiner und Abgeordnete des k. k. Reichsrats, Joseph Samuel Bloch, dass dieser nicht bloß eine „Leidenschaft der niederen Menge“ war, sondern vielmehr ein raffinierter Lehrbegriff unren eigenen Mitteln bloßstellen lässt. Israelkritik kann einer dieser Schleier sein. Und es sind gerade Protestbewegungen, die für solche Schleier eine besondere Affinität zeigen. Denn Protest ist immer Verkürzung von Kritik. Parolen verlangen nicht kritisches Denken, sondern einen gehorsamen Sprechchor. Globale Protestbewegungen selbst leiden darunter, was Coudenhove-Kalergi eine „äußerst ansteckende moralische Influenza“ nannte. Dies macht Anti-Israel Proteste zwar nicht notwendig antisemitisch. Doch gibt es strukturelle Verwandtschaften dieser Ideologien, die sich besonders in der gewollten Vereinfachung komplexer Umstände zeigen. Dazu gehören der moralische Manichäismus von Unterdrückten und Unterdrückern, die Unfähigkeit, Sein und Tun zu differenzieren, und die Reduktion der Weltübel auf eine einzige Ursache und eine einzige Lösung. Vor allem jedoch gehört dazu der Affekt — Entrüstung und Zorn. Wo diese Tendenzen anklingen, da ist Kritik in Gefahr. Sie ist in Gefahr, da ihr die Bereitschaft fehlt zur Selbstkritik. Vereinen statt entzweien Niemand verlangt hingegen moralische Indifferenz. Das Leid in Gaza zerreißt das menschliche Herz. Das Massaker vom 7. Oktober und das Schicksal der israelischen Geisel erfüllt den Menschen mit tiefer Trauer. Gazas Kinder brauchen eine Zukunft. Israels Kinder verdienen Vertrauen in die Welt. Dafür lohnt es sich zu protestieren. Doch der Erfolg eines Protestes liegt nicht darin, Menschen zu entzweien, sondern sie zu vereinen. Nicht Parolen brauchen wir, sondern gegenseitiges Verstehen und gemeinsame Ziele. Gemeinsam protestieren für die Freiheit Palästinas und für die Freiheit des jüdischen Volkes. Gemeinsam kritisieren. Gemeinsam arbeiten am Abenteuer der Demokratie. Dies erfordert Kritik an Israels Regierung und Zuversicht in palästinensische Politik. Ein Protest für die Freiheit Palästinas aber, der nicht zugleich Protest ist gegen das Terrorregime der Hamas, ist ein Verrat nicht nur an aller Kritik, sondern auch an aller Hoffnung. Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA. ZUGESPITZT Bahn, die Etymologisch kommt die „Bahn“ vom mittelhochdeutschen „bane“, und dieses wohl aus dem Gotischen. „Banja“, das heißt „Schlag“, „Wunde“, „Schneise im Wald“. „Schneisen im Wald“ kennen schifahrende Österreicher ihres Hobbys wegen zur Genüge, sie ermöglichen die rasche Fahrt ins Tal. Der „Schlag“ trifft Zugreisende fast bei jeder Tour durch Deutschland, wenn sie umsteigen müssen, denn der Anschluss ist schon weg oder wird nie kommen. Aus dem Umstieg wird ein Ausstieg und aus dem Ausstieg ein Einstieg: ins Auto, möglichst in einen E-Mercedes, damit die deutsche Leitkultur nicht untergeht. Die „Wunde“ hingegen, die das privatisierte deutsche Bahnmanagement in den vergangenen 30 Jahren in das mit öffentlichen Geldern finanzierte System Bahn geschlagen hat und an der nun alle Verkehrsteilnehmer bluten, ist beachtlich. Bis 2040 möchte man sie nun verbunden haben, vor allem die Fernstrecken für Manager, denn die Pendler fahren eh mit dem Auto, weil aus den Gleisen in ländlichen Regionen Radwege geworden sind, die direkt ins Museum führen. Ursprünglich als schienengebundenes Verkehrssystem für den Transport von Gütern und Personen verstanden, wurde die deutsche Bahn semantisch zum abgestellten Waggon allein, ohne Anlagen, Betrieb und ohne Fortkommen. Brigitte Schwens-Harrant NACHRUF Wissenschaftlicher Titan und glaubender Optimist Seine wissenschaftlichen Leistungen sind unübersehbar: Dass Hans Tuppy 1949 bei Frederick Sanger in Cambridge wesentlichen Anteil an der Strukturaufklärung des Insulins hatte (dafür erhielt sein Lehrer 1958 den Nobelpreis) oder dass ihm selber in Wien 1956 die Strukturaufklärung des „Kuschelhormons“ Oxytocin gelang, sind bloß Beispiele dafür. Legionen von Medizinstudenten machten an der Uni Wien ihre Biochemie-Prüfung bei Tuppy, und durch den von ihm in den 1980er-Jahren mitbetriebenen Aufbau des Instituts für Molekulare Pathologie in Wien-Landstraße wurde Wien eine Hochburg biochemischer Forschung. Daneben war Tuppy auch Rektor der Uni Wien und wurde von Erhard Busek 1987- 89 ins Kabinett Vranitzky als Wissenschaftsminister geholt. Ein Tausendsassa, der auch den Aufbruch des Nachkriegskatholizismus in Österreich mitgestaltete. 1924 in eine böhmische Familie in Wien geboren, verlor Tuppy schon als 15-Jähriger den Vater in der NS-Barbarei: Denn dieser war Staatsanwalt im Prozess gegen die Dollfuß-Attentäter 1934 gewesen, die Nazis ermordeten ihn 1939 im KZ Sachsenhausen. Tuppy entging dem Kriegsdienst aufgrund einer Verletzung und studierte ab 1942 an der Uni Wien Chemie. In dieser Zeit gehörte er – mit der späteren Zeithistorikerin Erika Weinzierl oder dem Judaisten Kurt Schubert – zum Kreis um die Studentenseelsorger Karl Strobl und Otto Mauer, die nach dem Krieg die Katholische Hochschulgemeinde als intellektuelles Zentrum aufbauten. 1945 war Tuppy Mitgründer der Österreichischen Hochschülerschaft. Es ist kein Zufall, dass einer der ersten FURCHE-Beiträge Tuppys 1952 vom Brand des Stephansdoms 1945 handelt. Hans Tuppy gehörte zu jenen, die in Österreich den Aufbruch des II. Vatikanums vorbereiteten – und die Öffnung der katholischen Kirche aus vormoderner Engstirnigkeit, die sich auch in Skepsis bis Ablehnung gegenüber den Naturwissenschaften geäußert hatte. Allerdings resümierte der damals 90-Jährige noch im FURCHE-Interview 2014: „Das Verhältnis zur Rationalität ist in der katholischen Kirche nach wie vor ein schwieriges.“ Aber bereits 1999 bekannte Tuppy in der FURCHE: „Zu mir gehört auch ein Grundvertrauen, welches bei vielen Christen offensichtlich nicht besteht, die immer nur Unheil sehen.“ Bis zuletzt blieb Hans Tuppy ebenso forschender Wissenschafter wie wacher Zeitgenosse und Christ. Am 24. April ist er, wenige Wochen vor seinem 100. Geburtstag, gestorben. (Otto Friedrich) Foto: APA / Georg Hochmuth Hans Tuppy (1924-2024) war Biochemiker von Weltrang, katholischer Vordenker und Minister. Tuppys Erinnerung an den Brand des Stephansdoms lesen Sie unter „Und die Dinge nahmen ihren Lauf“, 24.4.1952.

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