DIE FURCHE · 508 Religion14. Dezember 2023Von Markus Seidl-NigschLeid macht sprachlos.Auch dann, wenn wir esempathisch antizipierenund deshalb ansatzweisemitempfinden. ReligiöseMenschen ringen dennauch mit dem allmächtigen undbarmherzigen Gott, der – warumnur? – dieses Leid zulässt. Gottscheint im bodenlosen Abgrunddes Leids zu verschwinden, ganzbesonders dann, wenn es andereMenschen mit roher Gewalt verursachen.„Gott um Gott zu bitten“ist dann die letztmögliche Gestedes betenden Menschen, mit derer sein Gottvermissen ausdrückenund die er seiner Ohnmachtentgegensetzen kann.Obige Gebetsformel stammt vonJohann Baptist Metz (1928–2019).Er setzte sich als Theologe dafürein, dem Holocaust, dem niederdrückenden,ungerechten Leid unschuldigerMenschen, in Theologie,Kirche und Gesellschaft einGedächtnis zu geben. Dieses führteMetz zur Skizze einer erinnerungsbegabtenVernunft, die von„der Erinnerung des Leidens derAnderen“ geleitet wird. Im BuchMemoria passionis (2006) entfalteter auf ihrer Grundlage Konsequenzenfür die Geisteswissenschaftenund die Ethik. Diedarin enthaltene kritische Analysescheint heute aktueller dennje zu sein: Sie erklärt nämlich dieKälte, mit der viele – auch gebildete!– Menschen in Europa und denVereinigten Staaten auf das grausameFoltern und Töten unschuldigerMenschen durch die Hamasam 7. Oktober reagierten.Und wieder AntisemitismusBeatrice Frasl schrieb dazu am27. Oktober unter „Was gesagt werdenmuss“ auf wienerzeitung.at,man müsse genau hinsehen, „welcheIdeologien es sind, die ihre Anhänger:innendazu bringen, Massenmordan Jüdinnen und Judenzu feiern oder die es ihnen nichtmöglich machen, diesen klar zuverurteilen“. Allerdings nennt siedie „Theorien und Pseudo theorien“nicht beim Namen und führt stattdessenAnti semitismus als pauschaleErklärung an. Beide, Theorienund Antisemitismus, könntenaber durchaus zusammenspielen:GLAUBENSFRAGENach den Hamas-Pogromen sind die aktuellen Diskussionen um dieGeschehnisse von Sätzen wie „Ja, aber Israel hat doch …“ geprägt.Derartige Rede zeugt vom Fehlen der erinnerungsbegabten Vernunft.Das Versagen derIntellektuellenDazu auch„AntijüdischesChristentum:Erinnerung undAufklärung“ vonWolfgang Treitler,24.10.2023,nachzulesen auffurche.at.Jauchzet, frohlocket!frohlocket, auf preiset die Tage!“ Diese undalle anderen, die hellen und die dunklen. Das ist der„Jauchzet,Auftrag, um dein Sein zu entfachen, da die höchsteInstanz sich selbst umjubelt. So wild ist die Freude, dassdas Weihnachsoratorium von Johann Sebastian Bach entstehenkonnte und Pilgerzüge durch die Jahrhunderte singenund spielen und lauschen. Und wir sind einem Werdewunderzugesprochen aus diesem einmal Geschehenen:ES BEGAB SICH ABER. Das Aber Gottes steht gegen und essteht für mich und uns. Um einen Beispielsatz glaubhaftzu machen. „Der Mensch ist ein Heilmittel für den Menschen“,übersetzt aus seiner Sprache der afrikanische PhilosophSouleymane Bachir Diagne. In den Sinnsturz, derdurch uns geschieht.Richtige Worte fallen überdies uns zum Trost immeraus irgendeinem Himmel. „Und oben ist das Fundament“,ist ein solches von Daniel Wisser, in seinem Hörspiel „DasWartezimmer – Metapher einer verkehrten Welt“. Er fängtdas sonderbarste Warten, den antithetischen Advent, denDer LiteraturwissenschaftlerGeorge Steiner (1929–2020) warüberzeugt, dass der Antisemitismusin westlichen Ländern älter istals die antijüdische Christus-Konstruktionheidenchristlicher Gelehrter,die Wolfgang Treitlerjüngst in der FURCHE diskutier -te . Die Geschichte der Verfolgungvon Juden führt Steiner daraufzurück, dass diese in ihremMonotheismus und seiner EthikGott erzählend aufgewertet haben.Nichts nähre in uns „einen tieferenHass als die uns aufgezwungeneEinsicht, dass wir unzulänglichsind, dass wir Ideale verraten,deren Gültigkeit wir in vollem Umfang“anerkennen. Jüdinnen undJuden erinnerten durch ihre Existenzimmer wieder an die „altenGebote der Vollkommenheit, derSelbstaufhebung, die Forderungeines Reiches absoluter Gerechtigkeithier und jetzt.“ (Errata, 1997)Ein auf diese Weise motivierterAntisemitismus ist mit jenenwissenschaftlichen Konzeptenkompatibel, auf die Frasl mitder Forderung hinweist, dass wiruns „die Wahrheit nicht nehmenlassen“ dürfen. Es sind dies dierelativistischen Ansätze, die denaktuellen geisteswissenschaftlichenDiskurs dominieren und derengemeinsames Paradigma darinbesteht, Absolutes abzulehnen– auch als Orientierung stiftendenFluchtpunkt. Sie degradieren diewir leben, wortgenau ein: „Ich kennedein Leben nicht“. Wird es docham Ende des Jesuslebens heißen:„Ich kenne den Menschen nicht“.Es begab sich aber zu der Zeit desfalschen Menschentums, da Gott, wie Augustinus wusste,seine Sehnsucht nach dem lebendigen Menschen wildentschlossen zuließ und den Augenblick schuf, da alleswieder zu sich fände in der schönsten Idee vom wahrenMenschen; in ihm „steht das Tor uns offen zum schönenParadeis“. Ein Kind wird uns zum Trost und Heil geboren,um diese verlorene und todessüchtige Welt zu entängstigenund uns von der Unkenntlichkeit zu erlösen. Es begabsich aber, damit wir uns in diesem Tiefglück neu beginnen,uns ABER glauben als die von Gott Geliebten im Sakramentvon Sein und Zeit und Ewigkeit – und es werden:Jauchzet, frohlocket!Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i.R.Von Ines Charlotte KnollWahrheit zu konstruierten, beliebigenWahrheiten und die jüdisch-monotheistischeRede vonGott zur Fiktion.Das Paradigma des Relativismusprägt jedoch nicht nur konkreteTheorien. Wissenschafterinnenund Wissenschafterübernehmen es häufig unreflektiertals persönliche Weltanschauung.Das liegt daran, dasses uns schwerfällt, Mehrdeutigkeitauszuhalten – in diesem Fallin Form des Pluralismus methodenspezifischerPerspektiven.In weiterer Folge tragen Wissenschaftervereindeutigte Weltanschauungenin die Gesellschaft:zum Beispiel den Sozialkonstruktivismus,mit dem sich etwa häufigKulturanthropologinnen und-anthropologen identifizieren.Foto: IMAGO / ZUMA WireWeltanschauung RelativismusVerschleppt,ermordet ...Tel Aviv, 2. Dezember2023: Wand mitBildern der am 7. Oktobervon der Hamasverschleppten israelischenGeiseln.Johann Baptist Metz hat in Memoriapassionis darauf aufmerksamgemacht, dass in den Geisteswissenschaften„die Lebensweltin die Wissenschaften“ hineinragtund dass Wissenschaft „immerauch ein geschichtlich-gesellschaftlichesProjekt“ ist. DerRelativismus als Weltanschauungkehrt dieses Verhältnis um: DieWissenschaft ragt mit ihm auf falscheWeise in die Lebenswelt hinein.Zugleich führt die Einsicht inden Projektcharakter der Wissenschaftenim Rahmen des Relativismusnicht zur Festigung der erinnerungsbegabtenVernunft, umder es Metz geht, sondern zur Marginalisierungder Bedeutung derGeschichte für die Gegenwart.Viele Wortmeldungen in Folgedes Mordens der Hamas am7. Oktober zeugen denn auch vomFehlen der erinnerungsbegabtenVernunft. Ohne einen Ankerim Absoluten – und sei es auchnur der von Metz formulierte Primatder Erinnerung an das ungerechteund unschuldige Leid derAnderen –, ohne einen solchenAnker wird Ethik zur Rechtfertigungsethik.Diese definiert nachMetz „nicht mehr Ziele und Grenzenmenschlichen Handelns,“sondern versucht es „nur noch –nachträglich! – mit den […] ‚Verhältnissen‘zu versöhnen.“ DiesesMoment finden wir tatsächlich inden aktuellen Diskussionen wieder,nämlich in jenen Sätzen, diemit „Ja, aber Israel hat doch …“beginnen.Zwischen Wahrheit und VernunftDas postmoderne Vorurteilgegenüber dem Absoluten folgtaus einer „halbierten Aufklärung“(Metz), in deren Zentrumdas Beherrschen der Natur unddie damit verbundene sogenannteinstrumentelle Vernunft – alshalbierte Vernunft – stehen. Derrelativistische Schnitt, mit demdie Welterfahrung amputiert undihre Mehrdeutigkeit in Eindeutigkeitverwandelt wird (vgl. ThomasBauer, Die Vereindeutigungder Welt, 2018), findet immerhinin manchen Disziplinen Kritiker.Dass der Spannung zwischenunbedingter Wahrheit und derendlichen menschlichen Vernunftintellektuell standgehaltenwerden kann, zeigte zum Beispielder Philosoph Richard Schaeffler(1926–2019). Er macht „Mut zumFragment“, indem er darauf hinweist,dass das Vertrauen in unsereendliche Erkenntnis gerechtfertigtist. Das sei dann der Fall,wenn wir uns der veritas sempermaior (dass also die Wahrheitstets größer ist als unser Begreifen,Anm.) bewusst sind, zukünftigesLernen „im Dialog mit anderenoffenhalten und damit diegeschichtliche Dimension auchunseres eigenen Lebens ernstnehmen.“ (Unbedingte Wahrheitund endliche Vernunft, 2017)Es ist jedoch zu fragen, ob Wissenschaftersich überhaupt mitden Erkenntnisgrundlagen undder menschlichen Vernunft auseinandersetzen,wenn diese nichtzugleich ihr eigener Forschungsgegenstandsind? Welche Intellektuellenbetreiben, mit WolfgangTreitler gesprochen, „Selbstaufklärunghinsichtlich der Gefährlichkeiteigener Haltungen undKonzepte“?Der Autor ist freier Publizist undu.a. Psychotherapeut i.A.„ Die in Johann Baptist Metz’ ‚Memoriapassionis‘ enthaltene kritische Analysescheint heute aktueller denn je zu sein.“
DIE FURCHE · 5014. Dezember 2023Bildung9PISA-Ergebnisse sorgen zwar für weniger mediale Aufregung als einst, dennoch sind sie regelmäßig Auslöser politischerAbsichtserklärungen. Ein Plädoyer für einen Perspektivenwechsel am Ende des Montessori-Jubiläumsjahres.Schule vom Kind aus denkenVon Franz HammererSoeben ist mit PISA wiedereine der vielen teurenTestungen mitimmer ähnlichen (mittelmäßigen)Ergebnissenüber die Bühne gegangen.Erkenntnis: Wir müssen besserwerden! Aber wäre unser Schulsystembesser, wenn wir etwa inMathematik um einige Punktezugelegt hätten? Eher nein, diePolitik würde sich noch mehr inZufriedenheit wiegen.Aus den diesjährigen Ergebnissenwird ein Handlungsauftragfür mehr Bildungsgerechtigkeitabgeleitet. Aber wird nicht durchdas Schulsystem selbst die Ungerechtigkeitverstärkt, indem bereitsab der dritten Klasse Volksschuleungeheurer Druck aufKinder, Lehrpersonen und Elternaufgebaut wird? Wer wird insGymnasium kommen? Wer mussin die Mittelschule? Mit der vielzu frühen Selektion produziertdie Schule Verlierer und ist mitverantwortlichan der sich vergrößerndensozialen Schere.Kein Kind zurücklassen! Darumbemühen sich täglich unzähligeLehrpersonen. Und siekönnten es unter entsprechendenRahmenbedingungen auchschaffen. Etwa in Lernräumen,die Individualisierung, Differenzierungund kooperatives Lernenunterstützen. In beengten Klassenräumenbenötigen die Lehrkräftehingegen die meiste Kraftzum Disziplinieren. Zudem sindsie meist auf sich allein gestellt.Herausforderungen wie echte Inklusionsind so nicht zu bewältigen.Eine Schule der Zukunft gehtnur über Arbeit im Team.Die Schule, insbesondere dieVolksschule, ist eine gesellschaftlicheBasisinstitution, in der nebenFamilie und Kindergartender Grundstein für erfolgreiches(Weiter)Lernen gelegt wird. In derVolksschule geht es um die Grundlegungder Bildung, um ein festesFundament. Dies kann nur übereinen Unterricht gelingen, in demLernen als aktiver, selbstgesteuerterProzess verstanden wird,der auf vorhandenen Erfahrungenaufbaut und sich individuell,in sozialen Bezügen sowie in unterschiedlichemTempo vollzieht.Also kein Lernen im Gleichschritt!Wie kann das gelingen? SeitJahrzehnten setzen reformpädagogischeKonzepte weltweiterfolgreich auf eine Pädagogikvom Kind aus, auf ein Lernen, dasden in den Lehrplänen gefordertenselbständigen Bildungserwerbins Zentrum stellt. In diesem Sinnesteht etwa in der Montessori-Pädagogik,die 2023 ihr hundertjährigesBestehen in Österreichgefeiert hat, das einzelne Kindmit seiner Neugier, seinen Fähigkeitenund Fertigkeiten im Mittelpunkt:„Hilf mir, es selbst zu tun“.In einer Montessori-Einrichtungwerden täglich Lernsituationenangeboten, in denen die Schülerinnenund Schüler sich in einergut vorbereiteten Lernumgebungfür eine bestimmte Lerntätigkeitentscheiden, diese planen und alleinoder mit anderen umsetzen.Durch die eigene Wahl bindet dasKind seine Aufmerksamkeit – einSchlüssel für nachhaltiges Lernen.Wie wichtig wäre es, diese Konzeptenoch wesentlich stärkerins öffentliche Schulwesen zuübernehmen – besonders auchim Sekundarbereich! Doch dafürbraucht es adäquate Rahmenbedingungensowie entsprechendausgebildete Lehrerinnen undLehrer, die erst dann täglich mitFreude, Engagement und KompetenzSchülerinnen und Schüler begleitenkönnen.Der Autor war Professor fürUnterrichtswissenschaft an derKPH Wien/Krems und ist heuteals Theoriedozent in Montessori-Ausbildungentätig.Mehr zur Montessori-Pädagogiklesen Sieim Fokus „Hilf,mir, es selbst zutun!“ (4.5.2022)auf furche.atsowie unter diesemQR-Code:„ Bildung kann nur übereinen Unterricht gelingen,in dem Lernen als aktiver,selbstgesteuerter Prozessin unterschiedlichemTempo verstanden wird.Also kein Lernen imGleichschritt! “
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