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DIE FURCHE 14.12.2023

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DIE FURCHE · 5018

DIE FURCHE · 5018 Wissen14. Dezember 2023Foto: iStock/wilpuntDie IllusiongrenzenloserVerfügbarkeitHg. von MartinTeising und ArneBurchartzPsychosozial-Verlag 2023,301 S., kart.,€ 38,–Illustration: Rainer MesserklingerVon Manuela TomicMOZAIKGroßmuttersBegräbnisZu ihrem 80. Geburtstag erschien meinerGroßmutter ihre verstorbeneFreundin Milka im Traum. „Komm zumir, Kata, ich langweile mich zu Tode“, riefMilka und streckte Großmutter ihre Händeentgegen. Doch diese winkte ab: „Lassmich in Ruh’, Milka, ich komme später“. Daswar Großmutters schwarzer Humor, deralle zum Lachen brachte. Großmutter warstreng katholisch und jeden Tag ging sie inihr Zimmer, um stundenlang zu beten. Begräbnissescheute sie aber wie die Pest. HeulendeMenschen konnte sie nicht ertragen.Immer, wenn jemand im Dorf verstarb, sagtesie: „Mit dem habe ich längst abgeschlossen“und schnippte die Asche ihrer Zigarettetrotzig auf den Betonboden des Balkons.Ihre Lebenszeit feierte sie lieber auf Hochzeiten,beim bosnischem Turbo-Folk, derlaut aus dem Fernseher dröhnte oder beimSmall-Talk mit ihrem Friseur. Vor ihrem 83.Geburtstag verstarb meine Großmutter. Alsder Nachbar sie auffand, lief im Hintergrundimmer noch der Turbo-Folk. Viele weinendeMenschen kamen zur Totenwache, darunterauch ich. Erschöpft von der zehnstündigenReise blickte ich Großmutter ins Gesicht.Sie sah schön aus. Ob sie schon mit MilkaKarten spielt und raucht? Jedenfalls war sienicht einmal auf ihrem eigenen Begräbnis.FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist inSarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen.In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur,Identitäten und die Frage, was uns verbindet.Von Martin TaussWas David Bell aus Großbritannienberichtet, zeigt einesymptomatische Entwicklung:rasant steigendeFallzahlen; schlechte Betreuungsverhältnisse;unerfahrenes Personalund ein hoher Druck, die Patienten sorasch wie möglich durchzuschleusen. Dazuein Klima des Misstrauens, in dem Problemenicht mehr offen angesprochen werdenkönnen. Bell ist Psychiater und Psychoanalytikerin London und war Direktoriumsmitgliedim „Tavistock“, einer klinischenEinrichtung des National Health Service(NHS). Die Überweisungen von Kindernund Jugendlichen an die dortige Abteilungfür Geschlechtsumwandlung sind in denletzten zehn Jahren massiv gestiegen. Paralleldazu kam es zu „tiefgreifenden ethischenund klinischen Bedenken“ der Mitarbeiterund Mitarbeiterinnen. Sie trautensich meist nicht, Bell in seinem öffentlichenDienstzimmer zu treffen, weil sie befürchteten,von einem ihrer Vorgesetzten gesehenzu werden. Ihre Sorgen über die Art, wiemit den betroffenen Teenagern umgegangenwurde, äußerten sie sich nur im privatenAustausch.Aggressive Ideologien„All dies stand in engem Zusammenhangmit der Tatsache, dass der Dienst zu dieserZeit eine ‚trans-bejahende‘ Position vertrat,das heißt die erklärte Geschlechtsidentitätder kindlichen Patienten bedingungslos akzeptierte“,so Bell. Das war „eine Haltung,die nur schwer infrage gestellt werdenkonnte“. Doch allmählich wuchs die Besorgnis,dass die Behandlungmit pubertätshemmendenMedikamenten„ Dass heute massenhaftErschöpfung undBurnout, Sucht undSinnkrisen auftreten,hat viel damit zu tun,dass natürlicheGrenzen systematischmissachtet werden. “oder geschlechtsübergreifendenHormonenfür Minderjährige potenziellschädlich seinkönnte – und die wissenschaftlicheBasis dafürnicht ausreichendwar. In weiterer Folgestartete das NHS Englanddie bislang größteÜberprüfung der Angebotefür Kinder mit „Geschlechtsdysphorie“(d.h. dem Unbehagen, männlich bzw. weiblichzu sein). Das Ergebnis: Der Dienst wirdnun geschlossen und neu aufgestellt. DieserZusammenbruch einer Gesundheitsinstitution„könnte vielleicht als Beispiel für dasVersagen des Managements (…) oder alternativals Ergebnis der Vereinnahmung einerEinrichtung durch die Trans-IdeologieAus narzisstischen Größenfantasien können psychische,soziale und ökologische Krisen entstehen: Warum dasRingen um Grenzen immer wichtiger wird.SchädlicheFreiheitangesehen werden“, so der britische Psychiaterin einem Beitrag, der in einem Sammelbanddes Psychosozial-Verlags vorliegt.Warum ist diese Entwicklung symptomatisch?Weil die hier kritisierte „Trans-Ideologie“dem zeitgeistigen Muster folgt, sich überGrenzen allzu leichtfertig hinwegsetzen zuwollen. „Jede Beschränkung wird zugleichals narzisstische Kränkung, als Verlust erlebt“,erörtert Josef Christian Aigner in seinemBeitrag. „Ich betone ausdrücklich (…),dass es mir weder darum geht, geschlechtlicheUnsicherheiten zu pathologisieren, wiedas in den verschiedenen internationalen Diagnosemanualender letzten Jahrzehnte bisvor Kurzem der Fall war, noch darum, jemandenan der Möglichkeit einer Transition undPersonenstandsänderung zu hindern oderauch nur den Weg dorthin zu erschweren.“So wie die anderen Autoren im Sammelbandwill der Innsbrucker Bildungswissenschaftlerund Psychoanalytiker darauf hinweisen,dass eine ergebnisoffeneWissenschaft im Dienstdes Menschen gegen ideologischeAnmaßungenverteidigt werden muss.Und dass aus narzisstischenGrößenfantasienpsychischer, gesellschaftlicherund ökologischerSchaden entstehen kann.Das Interessante daran:Diese Kritik richtetsich gleichermaßen gegengesellschaftsliberale„Fortschrittliche“ vom linken politischenSpektrum wie gegen „Wirtschaftsliberale“von rechts: Beide tragen ihre jeweiligenFreiheitsvorstellungen oft wie einen nichthinterfragbaren, quasi religiösen Fetischvor sich her. Wie Aigner zeigt, ist es der Glaubean eine grenzenlose Machbarkeit, derviele moderne Trends miteinander verbindet:Da ist etwa die uferlose Digitalisierung,die oft völlig unkritisch bereits Kleinkindernzugemutet wird. Auffällig ist auch ein„Optimierungswahn“, der in alle Lebensbereicheeingedrungen ist und zu neuen Formender Körpermodellierung und kosmetischenChirurgie Anlass gibt. Und es gibtdie Auswüchse der Reproduktionsmedizin,die den Kinderwunsch um jeden Preis (undteils schon bei über 60-jährigen Frauen)verwirklichen wollen. Die negativen Folgenliegen auf der Hand: Dass heute massenhaftErschöpfung und Burnout, Sinnkrisen undSuchtverhalten auftreten, hat viel damit zutun, dass natürliche Grenzen systematischmissachtet werden.Ausbeutung der RessourcenSchließlich wird auch die grenzenloseAusbeutung der planetaren Ressourcendurch menschliche Hybris vorangetrieben:Die Klimakrise zeigt, dass das Problem einglobal bedrohliches Niveau erreicht hat.Wenn beim Weltklimagipfel in Dubai wiederein nötiger Durchbruch versäumt wird,dann bestätigt das nur die Diagnose, dassim Umgang mit dieser Krise „ungeheureVerdrängungs- und Abspaltungsenergien“im Gang sein müssen, wie Aigner feststellt:„Trotz übereinstimmender wissenschaftlicherWarnungen reagieren Wirtschaft undPolitik nur halbherzig bis ignorant daraufund die Massen sind bislang meist nicht einmalzu kleinen Verzichtsleistungen (wieTempolimits auf Autobahnen) zu bewegen.“Dass sich der Mensch vom technologischenFortschritt quasi gottgleiche Fähigkeiten erhofft,hat schon Sigmund Freud in seinerSchrift über das „Unbehagen in der Kultur“(1930) analysiert. Doch der Wiener Pionierder Tiefenpsychologie wusste auch, dass dieseAmbition letztlich ein hohles Unterfangenbleiben muss: „Im Interesse unserer Untersuchungwollen wir aber auch nicht daranvergessen, dass der heutige Mensch sich inseiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“

DIE FURCHE · 5014. Dezember 2023Wissen19Der Weltklimagipfel in Dubai endet nach zähen Verhandlungen. Auch Indigene aus demAmazonas haben sich in die Konferenz eingebracht. Wie sehen sie ihre Rolle im Klimaschutz?„Aus den Fugen geraten“Der Weltklimagipfel in Dubai (COP28) gingin die Verlängerung: Wie erwartet waren dieDiskussionen um den Abschlusstext am 12. Dezembernicht abgeschlossen. Der große Knackpunktwar die Formulierung rund um einen„fairen“, „schnellen“, „vollständigen“, „finanziellabgesicherten“ und „endgültigen“ Ausstieg ausfossilen Energieträgern. Bei Redaktionsschlussder FURCHE war ein deutlich nachgeschärftesAbkommen in Sicht. Zwar findet sich der vonvielen Staaten geforderte klare „Ausstieg ausfossilen Brennstoffen“ nicht im Dokument,dafür der Aufruf zu einem „Übergang“, weg vonfossilen hin zu nicht-fossilen Energieträgern.Klimaneutralität wird bis 2050 angestrebt.Hintergrund waren Prognosen, wonach ausheutiger Sicht eine bereits katastrophale Erderwärmungvon 2,8 Grad Celsius im Vergleichzum vorindustriellen Niveau zu erwarten wäre.Auch Marivelton Barroso und Josimara Melgueirowaren auf der Konferenz in Dubai. IhrZiel war es u.a., die Forderungen der indigenenBevölkerung in der Weltgemeinschaft einzubringen.Auf ihrer Heimreise in den Regenwaldvon Amazonien machten die Indigenen inWien einen Zwischenstopp, wo sie in einemvom Klimabündnis Österreich organisiertenPressegespräch über ihre Einschätzung zuminternationalen Klimaschutz sprachen. Barrosoist Präsident des selbstorganisierten indigenenDachverbands FOIRN, mit dem das Klimabündnisschon vor 30 Jahren eine Partnerschaftinitiiert hat. Melgueiro leitet einen selbstverwaltetenProjekt-Fonds am Rio Negro. DIEFURCHE erkundigte sich nach der Lage amAmazonas und den Visionen der Indigenenfür die Zukunft – und hat ihre Statements hierzusammengefasst:Die aktuelle Dürre führt dazu,dass der Wasserpegel auf biszu 300 Zentimeter abgesunkenist. Dadurch sind die Gewässernicht mehr befahrbar:Das ist eine Riesengefahr in unserer Region,die bis heute nur per Boot oder Helikoptererreichbar ist. Die Auswirkungen derDürre auf kleine Dorfgemeinschaften mittenim Amazonas wurden in der medialenBerichterstattung häufig ausgeblendet.Doch gerade in kleinen, von Subsistenzwirtschaftbestimmten Dörfern ist dieBetroffenheit durch die Dürre besondersgroß. Früher befanden sich die ökologischenZyklen noch im Gleichgewicht, heutehingegen scheinen sie aus den Fugengeraten zu sein – Felder stehen plötzlichunter Wasser, sogar Hagel wurde erstmalsseit Menschengedenken in der Region registriert.Hinzu kommen die negativenFolgen der Hitze auf die Pflanzen. Im Umgangdamit ist traditionelles Wissen essenziell.Die spirituellen Anführer derRegion (Pajés) warnen schon seit Längeremvor den Bedrohungen durch den Klimawandel.Sie sprechen davon, dass dieseines der schlimmsten Jahrhunderte derMenschheits-Geschichte werden könnte.Ihren Berichten zufolge sind die Jahreszeitenkomplett durcheinandergeraten:Der Wechsel von den Regen- zu den Trockenzeitenfolgt keinen bekannten Musternmehr. Darüberhinaus gelten gewisseTier- und Pflanzenarten als verschwunden,während neue Spezies auftauchen.Und manche Arten migrieren an Orte, wosie nicht erwartet werden.Die Varietäten beim Maniok wurden2005 erstmals in einer Studie erfasst. Darinwurde festgestellt, dass binnen nurdrei Jahren die Vielfalt von 80 auf 50 Sortengesunken ist. Um dem entgegenzuwirken,wurde ein Prozess gestartet, um dastraditionelle Landwirtschaftssystem derRegion als nationales Kulturerbe anzuerkennen– das gelang auch. Durch dieseLandwirtschaft wird bis heute ein wichtigerBeitrag zur Artenvielfalt geleistet.Foto: Klimabündnis Österreich / Kerstin PlassDürre amRio NegroDurch denextremen Tiefstanddes Flussesliegen derzeitzahlreiche Sandbänkefrei und derlebensnotwendigeWasserzugangist stark eingeschränkt.„ Es ist absurd, an einem Ort wieDubai, an dem alles künstlich ist unddas Leben ohne diese Künstlichkeitgar nicht möglich wäre, überKlimaschutz zu verhandeln. “Es ist absurd, an einem Ort wie Dubai,an dem alles künstlich ist und ein menschlichesLeben ohne diese Künstlichkeit garnicht möglich wäre, über Klimaschutz zuverhandeln. Doch wir wissen, wie wichtigunsere Teilnahme bei solchen Events ist.Klima- und ArtenschutzBei der Konferenz in Dubai haben wirstark gespürt, dass es vor allem Interessean den indigenen Territorien und ihrerwichtigen Rolle für den Klima- undArtenschutz gab – nicht aber an den Menschen,die diesen Schutz verantworten.Wenn von uns Indigenen erwartetwird, dass wir auf unseren Gebieten denRegenwald schützen, dann braucht esauch die offizielle Anerkennung unsererLandrechte. Wir stellen als Indigene zwarnur fünf Prozent der Weltbevölkerung,aber auf unseren Territorien können wirüber 80 Prozent der globalen Artenvielfaltsichern. (mt/Übersetzung: Kerstin Plass)Wer finanzierteigentlichIhre Meinung?Vielen Dankfür IhrenAbo-Beitrag!Nur wenn Medien von Einzelinteressen oder Geldgebern unabhängig sind, bleibtkritische Berichterstattung gewahrt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Siesich Ihre eigene Meinung bilden können.dubistwasduliest.atDU BIST,WAS DULIEST.

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