DIE FURCHE · 37 8 Politik 14. September 2023 Auf antiken Spuren Bis zu 15.000 Menschen fanden im antiken Theater im sizilianischen Syrakus (siehe Bild) Platz und lauschten den Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides. Das Ende der Tyrannenherrschaft kam freilich erst später, als die Insel an die Römer fiel. Foto: IMAGO / Pond5 Images Von Ursula Baatz Von den obersten Rängen des antiken Theaters im sizilianischen Syrakus sieht man hinaus in die Bläue des Ägäischen Meeres. Irgendwo hinter dem Horizont liegen Kleinasien, Afrika, der Peloponnes. Vom Peloponnes aus kamen die ersten griechischen Siedler im achten Jahrhundert vor Christus an die Ostküste der Insel. Sizilien ist ein Vorposten Europas – nicht nur geografisch, sondern auch kulturell. Zum Beispiel dieses zweieinhalbtausend Jahre alte Theater: Es fasste bis zu 15.000 Menschen, rund neunmal mehr, als die Staatsoper in Wien Plätze hat. Die Werke der großen griechischen Dichter wurden hier gespielt: Aischylos, Sophokles, Euripides. In diesem Theater verfolgte Aischylos in Person die Aufführung seiner „Perser“. Seit einiger Zeit finden hier sommers wieder Aufführungen der großen griechischen Dichter statt. Demokratie ohne Frauen, Sklaven, Fremde Ich steige über die abfallenden Reihen der Steinblöcke vorsichtig hinunter, dorthin, wo in griechischen Zeiten die Bühne war. Aischylos war auf Einladung des Tyrannen von Syrakus, Hieron I., im Jahr 475 vor Christus nach Sizilien gereist; er hatte auch ein – verlorenes – Theaterstück für ihn geschrieben, die „Ätnerinnen“, anlässlich der Ansiedelung griechischer Soldaten. Mir wird langsam klar, dass Griechenland, die Wiege der europäischen Kultur – wie man sagt –, keineswegs aus lauter Demokratien bestanden hat, sondern dass der Kampf um die Demokratie immer wieder geführt werden musste. Demokratisch war Athen, die „Mutter aller Demokratien“, etwa hundertfünfzig Jahre lang – von den Perserkriegen zu Beginn des fünften Jahrhunderts bis zur Niederlage Athens gegen die Mazedonier 322 vor Christus, dem Ende der Selbstständigkeit Athens. Die athenische Demokratie, Vorbild heutiger Demokratiebestrebungen, schloss zudem große Teile der Bevölkerung – Frauen, Sklaven, Fremde – aus. Die Griechen waren Zugewanderte, Teil der indoeuropäischen Wanderungsbewegung, die vermutlich aus den Gegenden um das Schwarze Meer und das Asowsche Meer kam, dort, wo heute die von Russland besetzten Gebiete der Ukraine liegen und wo die Front verläuft. Das lässt sich einigermaßen anhand von Sprachgeschichte und Materialgeschichte belegen. Im achten Jahrhundert hatte sich auf dem griechischen Festland eine agrargesellschaftliche Ordnung herausgebildet: Macht hatte, wer Land besaß – und dieser Besitz war höchst ungleich verteilt. Mit zunehmender Bevölkerung wurde das ein Ernährungs problem, und die Lösung hieß: Auswanderung, Gründung von Kolonien. „ Mir wird langsam klar, dass Griechenland, die Wiege der europäischen Kultur – wie man sagt –, keineswegs aus lauter Demokratien bestanden hat. “ Lesen Sie dazu auf furche.at auch „Die Seiltänzer der Macht“ (25.11.1971) von Hans Magenschab über die Militärdiktatur in Griechenland. Wie das Schauspiel gehören Kolonisierung, Rechtlosigkeit und Binnenkriege zur Geschichte Griechenlands – und dieses Kontinents. Reflexionen über die Fragilität der Demokratie. Europa: Theater und Tyrannis Griechische Kolonisten setzten sich in Libyen fest, auf den ägäischen Inseln und auch in Sizilien; zunächst in Naxos, dann in Ortygia, der Halbinsel vor Syrakus, andere Siedler gründeten das benachbarte Gela, von wo aus eine ganze Reihe weiterer Gründungen von griechischen Ansiedlungen erfolgte. Nicht überall waren die Siedler willkommen: In Libyen stießen sie auf heftigen Widerstand, und auch Sizilien war natürlich keine menschenleere Robinson-Insel, sondern seit dem Paläolithikum bewohnt. Die einheimischen Sikeler wurden ins Landesinnere zurückgedrängt, es gab Auseinandersetzungen und einen Aufstand gegen die Griechen. Doch wurden auch Lebensweisen und Gebräuche wechselseitig übernommen – und Sikeler kämpften als Söldner für die verschiedenen Tyrannen der sizilischen Stadtstaaten. Die Tyrannis als politische Form setzte sich in Sizilien ab etwa 500 v. Chr. durch, institutionalisiert von den Landbesitzern, einer relativen Minderheit. Die Mehrheit der „Landlosen“ in den Stadtstaaten versuchte immer wieder, nach athenischem Vorbild demokratische Verhältnisse einzuführen. Zwischen den Stadtstaaten herrschten meist Konkurrenz und Machtkämpfe. Auch waren die Tyrannen nicht zimperlich: Sie ließen schon einmal ganze Städte dem Erdboden gleichmachen, die Bevölkerung deportieren und in eine andere Stadt umsiedeln. Besonders expansiv waren die Tyrannen von Gela, etwa Hippokrates (gestorben 491), der als Erster die neue Erfindung aus Kleinasien nützte: Münzen, mit denen er sein Heer finanzierte. Gelon, sein Nachfolger, ließ Kamarina, eine Stadt in der Nähe des heutigen Ragusa, komplett zerstören und die gesamte Bevölkerung nach Syrakus deportieren, und dazu auch noch gleich die Hälfte der Bevölkerung von Gela, wodurch aus Syrakus eine florierende Großstadt wurde. Das tiefe Leid der Mütter gefallener Söhne Sein Nachfolger, Hieron I., brachte fast ganz Sizilien unter seine Herrschaft, war aber auch ein Förderer der Künste. So finanzierte er unter anderem die Aufführung der „Perser“. Für das Stück über den Sieg der Griechen über die Heere des persischen Königs Xerxes I. hatte Aischylos in Athen einen prestigeträchtigen Preis bekommen. Doch war es kein Jubeldrama, sondern vor allem ging es um das tiefe Leid der Mütter bei Siegern wie Besiegten, deren Söhne im Krieg blieben. Den nachfolgenden Tyrannen waren solche humanitären Überlegungen fremd. Dionysios I. etwa beschuldigte zunächst die „Mächtigen“ und „Reichen“, „unpatriotisch“ zu sein, ließ erfolglose Feldherren durch die Volksversammlung absetzen und sich schließlich zum Alleinherrscher ausrufen. Volksversammlung und demokratische Regeln behielt der Gewaltherrscher bei, aber umging sie. In gewisser Weise könnte man ihn als Vorbild heutiger Bestrebungen zur Errichtung illiberaler Demokratien bezeichnen. Was blieb, war die Macht der Landbesitzer Vom Theater aus geht man durch einen Steinbruch, heute ein wunderschöner Obstgarten mit Orangen- und Mandelbäumen. Hier schufteten die Gefangenen des Tyrannen Dionysios aus den Kriegen gegen die Karthager, aber auch gegen andere Städte. Neben dem Steinbruch befindet sich das „Ohr des Dionysos“, eine Felsspalte, die als akustischer Verstärker funktioniert und angeblich dem Tyrannen erlaubte, seine Gefangenen zu belauschen. Das Ende der Tyrannis und der ständigen Binnenkriege kam erst, als nach dem Ersten Punischen Krieg 241 vor Christus Sizilien an die Römer fiel und die Insel erste römische Provinz und Kornkammer Roms wurde. Im Laufe der folgenden zwei Jahrtausende wechselte die Herrschaft über Sizilien viele Male: Araber, Normannen, Spanier, Franzosen, Österreicher, Briten kamen und gingen, bis Sizilien 1861 Teil des geeinten Italiens wurde. Was blieb, waren die Macht der landbesitzenden Oberschicht, legitimiert durch die Kirche, und das Stillhalten der Unterschicht, solange sie genug zu essen hatte, so Volker Reinhardt und Michael Sommer in „Sizilien“. Derzeit scheinen sich hier jedoch leichte Veränderungen anzubahnen. Kolonisierung, beständige Binnenkriege, Rechtlosigkeit: All das gehörte zur Geschichte Griechenlands und dann Europas. Das habe ich erst auf den Steinen von Syrakus wirklich verstanden. Zudem gibt es sie immer noch – Volkstribune, Tyrannen, Kolonisierten; Besitzende, die sich die Macht krallen wollen; und die Nichts- und Wenigbesitzenden, die als Arbeitssklaven abgefüttert werden sollen. Zwischen antiken Steinen sitzend denke ich: Vielleicht ist es möglich, aus der Geschichte zu lernen. Wenn in Brüssel die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union miteinander streiten, geschieht dies im Rahmen einer – stark verbesserungsfähigen – demokratischen Verfassung, um die man kämpfen muss. Der Autor ist Philosophin, Publizistin und Achtsamkeitslehrerin.
DIE FURCHE · 37 14. September 2023 Philosophie 9 Von Peter Strasser Nach den Verheerungen, die heuer bereits unseren Globus erschüttert haben – Naturkatastrophen, Kriege und andere Menschheitsplagen –, könnte man meinen, es sei immerhin Zeit, sich auf jene Grundlagen zu besinnen, die uns Menschen als eine Solidargemeinschaft festigen. Doch solcher Besinnung werden schon seit Längerem gerade von liberaler Seite Widerstände entgegengebracht. Wir wissen, dass unter uns gewissenlose Individuen umgehen, die nur im Sinn haben, sich zu bereichern, koste es, was es wolle; oder die aus einem angeborenen Hang zum Sadismus und zur Menschenschinderei ihr Unwesen treiben. Es ist egal, ob wir sie Psychopathen oder Soziopathen nennen oder – um eine US-Publikation zu bemühen – krass metaphorisch „Snakes in Suits“. Denn oft finden sich die Schlimmsten der Schlimmen, die bloß die „Moral“ des Stärkeren, Schlaueren, Ausgefuchsten kennen, in ihren teuren Maßanzügen auf hohen Posten der Wirtschaft und Politik. Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Die Bösen unter uns sind dem Gespräch, dem Argument, der Rechtfertigung nur allzu gerne gewogen, solange sie das Sagen haben. Sie legen fest, was von ihren Opfern als wahr geglaubt werden soll. Durch die weltweite Verbreitung von Internetbotschaften haben mächtige „Influencer“ die Möglichkeit, tagtäglich zigfach Falschmeldungen abzusetzen, die sich, gleich einem hochaktiven Virus, rasch unter den „Followern“ ausbreiten. Über „zwingende Gründe“ Dieses neuartige Phänomen der Fake-News-Zivilisation hat nun besonders wache Geister, die in den humanwissenschaftlichen Bereichen arbeiten und lehren, zu radikalen Formen der „Dekonstruktion“ von Konzepten veranlasst, die wir unbedingt brauchen, wollen wir uns überhaupt noch als eine Menschheit im ethischen Sinne begreifen. Auch in der vergangenen FURCHE haben uns ein Philosoph und eine Philosophin am Europäischen Forum Alpbach darüber zu belehren versucht, dass der Begriff der Wahr- Illustration: Rainer Messerklinger (unter Verwendung eines Bildes von iStock / Denis Novikov) heit „verbraucht“ sei. (vgl. dazu auch einen Leserbrief auf Seite 16) Die beiden, nämlich mein langjähriger Freund Josef Mitterer, Universitätsprofessor im Ruhestand, und die in Graz lehrende Doktorin Katharina Neges, haben dazu ein Seminar abgehalten, das – ich ironisiere ein wenig – die anwesenden Experten aus Wirtschaft und Politik gewiss nicht daran hindern wird, den Begriff der Wahrheit weiterhin im eigengebräuchlichen Sinne, und das heißt nicht selten: dogmatisch und manipulativ, zu verwenden. Es gab den Wahrheitsrelativismus schon immer. Tritt er in Form der Skepsis auf, dann wird bestritten, dass wir in der Lage seien, eine bestimmte Meinung als gerechtfertigt vor anderen, gegenteiligen auszuweisen. Das Motiv dafür liegt darin, dass wir angeblich keine hinreichend zwingenden Gründe für irgendeine Behauptung oder Theorie angeben können. Dabei gilt als „zwingender Grund“ einzig eine logische Ableitung aus anderen Gründen – ein Ansinnen, das tatsächlich undurchführbar ist, weil jeder Grund seinerseits wieder einer logischen Ableitung bedürfte. Deswegen wird in den Naturwissenschaften mit der methodischen Idee gearbeitet, jede möglicherweise wahre Theorie strengen Prüfverfahren zu unterziehen. Häufig wird auch nicht unmittelbar von Wahrheit gesprochen, sondern von der Wahrscheinlichkeit, die für oder gegen eine Theorie oder eine Hypothese spricht. Wie immer, Wissenschafterinnen und Wissenschafter streben danach, der Wahrheit – als Ideal – nahezukommen, nicht zuletzt deshalb, weil dies die unabdingbare Voraussetzung für eine Unsumme praktischer Anwendungen bleibt. Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass der traditionelle Skeptizismus und Relativismus nicht den Begriff der Wahrheit selbst attackieren, sondern die prinzipielle Unmöglichkeit, eine bestimmte Behauptung als wahr oder „absolut“ wahr auszuweisen. Stets geht es um mangelhafte Wahrheitsgründe; es geht darum, zwischen konkurrierenden Hypothesen nicht rational wählen zu können. Fataler Dekonstruktivismus Freilich, derlei Überlegungen metatheoretischer Art haben die Normalwissenschaft kaum jemals behindert, ansonsten wäre sie nicht vom Fleck gekommen und hätte ihren Siegeszug, der die Welt von Grund auf veränderte, niemals antreten können. Mit dem humanwissenschaftlichen „Dekonstruktivismus“ kommt dann eine merkwürdige – und ich würde sagen: fatale – Wende ins Spiel. Denn plötzlich wird unter Hinweis auf die totalitäre Verwendung der Wahrheitsidee in Religion und Politik der Begriff der Wahrheit selbst attackiert und verworfen. Von ihm müsse man sich – so heißt es nun – lösen. Ächtet man den Wahrheitsbegriff, dann zerstört man die Grundlagen aller Menschlichkeit: eine Replik auf das letztwöchige philosophische Gespräch mit Josef Mitterer und Katharina Neges zur Kunst der Unterscheidung. Keine Wahrheit, keine Moral, kein Friede Was aber sollte an dessen Stelle treten? Aus der Literatur entnehme ich dazu nichts Triftiges, außer die wiederholte Ansicht, man müsse sich eben zusammensetzen, freundlich auf einan der zusprechen, dem Gegenstandpunkt verständig zuhören, um so schließlich zu einer möglichst friedlichen Einigung zu gelangen. Dabei wird übersehen, dass in jedem Gespräch – selbst in dem sprichwörtlichen Tratsch über den Gartenzaun hinweg – ständig Behauptungen ausgetauscht werden, die unverständlich blieben, würden sie nicht mit dem Anspruch geäußert werden, wahr zu sein. Die Überzeugung, welche die Sprechenden über alle Differenzen hinweg bindet, ist der Wahrheitsanspruch. Ob das, was behauptet wird, auch wahr sei, darüber mag Uneinigkeit herrschen, nicht aber darüber, dass das jeweilige Gegenüber etwas sagen möchte, von dem es beansprucht, dass es „mit der Wirklichkeit übereinstimmt“. Die Wissenschaft hat einen weltweit akzeptierten Kanon an Methoden entwickelt, um im Einzelfall eben jenen Anspruch begründet erheben zu dürfen. Was also soll es heißen, dass die Wahrheit eine „verbrauchte“ Idee repräsentiere? Sie ist – vor aller strittigen Moral oder Religion – die einzige operative Idee, auf die wir uns alle als Vernunftwesen konsensuell berufen! Wofür also in unserer Epoche dringend zu werben wäre, sind Konzepte, in denen die Hoffnung aufbewahrt ist, die Menschheit möge einst als Solidargemeinschaft den Erdball besiedeln und pfleglich behandeln. Ächtet man den Wahrheitsbegriff, dann zerstört man jene Hoffnung von Grund auf. Es werden jene Mächte recht behalten, welche den Bonus des jeweils Stärkeren für sich ausnützen. Ironischerweise werden sie sich dabei zynisch auf ihr Wahrheitsprivileg berufen. Mehr als Ja oder Nein? „Wir müssen uns von Vokabeln wie ‚in Wahrheit‘ verabschieden, diese Worte sind erschöpft“, meinte Josef Mitterer in der FURCHE. „ Die Wahrheit ist (vor aller strittigen Moral oder Religion) die einzige Idee, auf die wir uns alle als Vernunftwesen berufen! “ Das kritisierte Gespräch lesen Sie unter „Wahrheit ist eine verbrauchte Idee“ (6.9.2023) unter furche.at bzw. diesem QR-Code: An dieser Schnittstelle sieht man, wie Wahrheit und Moral zusammenhängen. Aus den Turbulenzen und Schrecknissen der Menschheitsgeschichte hat sich über die Jahrhunderte hinweg ein dichtes Begriffsnetz entwickelt, das auf grundlegende Weise definiert, was wir „menschlich“ nennen und, pathetisch formuliert, uns als unsere Würde zurechnen. Wir sind wahrheitsstrebige Wesen, die nach dem allgemeinverbindlich Guten suchen. Ohne Wahrheit keine Würde, keine Moral, kein Friede. Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass zwar die totalitären Wahrheitsansprüche, die dem religiösen Streben nach dem Absoluten, Göttlichen, angeheftet werden, bereits für unsägliches Leid sorgten. Aber eine Religion, die sich ihres Wahrheitsanspruchs entledigt hätte, wäre nur noch eine Märchenerzählung und eine Praxis wie jede andere – und auch dadurch wäre eine Grenze des Menschlichen überschritten, hin zu einem Geschöpf ohne Hoffnung. Der Autor ist Professor i. R. für Philosophie an der Uni Graz.
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