DIE FURCHE · 37 4 Das Thema der Woche Der Westen gegen den Rest? 14. September 2023 Weltbühne war einmal Nach dem Staatsvertrag wurde Österreich1955 auch noch UNO- Mitglied. Wien wurde dritter UN- Sitz (siehe UNO- City, Bild); mit der Brückenbauerrolle ist es aber nicht mehr weit her. Von Wolfgang Machreich Bonn hat schon vor 70 Jahren über Österreichs Außenpolitik und sein Verhältnis zu Moskau den Kopf geschüttelt. Mit seiner „Blutgeld für russisches Gas“-Kritik, die für einen diplomatischen Eklat sorgte und deretwegen man ihn ins Außenministerium zitierte, setzte der Vertreter der EU-Kommission, Martin Selmayr, dieses deutsche Unverständnis nahtlos fort. Damals wie heute geht es im Kern um Österreichs Antwort auf die politische Gretchenfrage: Wie hast du’s mit dem Westen? Selmayr ist aus Bonn und Enkel zweier Bundeswehrgeneräle, ein in nordrhein-westfälischer Wolle gefärbter „Westler“, der erst neulich beim Europäischen Forum Alpbach sein sicherheitspolitisches Credo wiederholte: „Die europäische Armee ist die NATO.“ Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer sah das 1955 genauso. Deswegen wurde das Staatsvertragsjahr, das österreichische annus mirabilis, zum annus horribilis für das deutsch-österreichische Verhältnis. Anlass dafür war Österreichs Bekenntnis zur Neutralität, die „zu größter Verärgerung am Rhein und zu schweren Verstimmungen mit der Bundesrepublik, ja zu einer handfesten zwischenstaatlichen Krise führen sollte“, schreibt Historiker Michael Gehler in seinem Standardwerk „Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik“. Neutralitätsdrachen abgemurkst Adenauer lehnte eine „Österreichlösung“ für Deutschland kategorisch ab. Gehler zitiert den Bundeskanzler, der es als sein größtes Verdienst erachtete, dem „Neu tralitätsdrachen den Kragen umgedreht zu haben“. Bundeskanzler Julius Raab in Wien hingegen sah in der Neutralität den außenund sicherheitspolitischen Köder, „um den ‚russischen Bären‘ aus Ostösterreich herauszulocken und damit die übri gen Besatzungsmächte ebenfalls zum Abzug zu veranlassen“. Was auch gelang. „Österreichs Westorientierung hatte damit zwar weit Um Brückenbauer einst und jetzt geht es in Heinz Nußbaumers „Nachdenken über Österreich“ am 9. September 2010; nachzulesen unter furche.at. Mit Staatsvertrag und Neutralität wurde Österreich zum integrationspolitischen Sonderfall in Europa – und ist es trotz EU-Verwestlichung teilweise immer noch geblieben. „Wurschtelig“ im Westen weniger Substanz als die West integration der Bundesrepublik“, nennt Gehler den entscheidenden Unterschied. Als „integrationspolitischer Sonderfall“ konnte Österreich aber eine West-Ost-Teilung verhindern, indem es sich auf den Drahtseilakt einließ, prowestlich und neutral gleichzeitig zu sein. Mit der sowjetischen Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 wurde erstmals kräftig an diesem Drahtseil gerüttelt. „Neutralität des Staates – aber nicht des Herzens“, beschrieb die ÖVP-Zeitung Kleines Volksblatt Österreichs Haltung – und wurde vom Sowjet-Zentralorgan Prawda prompt gerügt. Wie sich Zeiten und Argumente gleichen: „Militärische Neutralität heißt nicht Werteneutralität“, erklärt Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) Österreichs Position seit Russlands Angriff auf die Ukraine. „Wir sind einerseits mit dem Westen zutiefst verbunden, andererseits gibt es durch „ Wir sind mit dem Westen zutiefst verbunden, gleichzeitig gibt es durch unseren Status der Neutralität eine subtile Differenz zu den anderen Staaten des Westens. “ Wolfgang Petritsch, Präsident OIIP unseren Status der Immerwährenden Neutralität eine subtile Differenz zu den anderen Staaten des Westens“, antwortet Wolfgang Petritsch, früher Spitzendiplomat, heute Präsident des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP), auf die Frage nach Österreichs Westintegration. Nachgehakt, was den subtilen Unterschied ausmache, nennt Petritsch Österreichs Selbstverständnis „als Brückenbauer, auch wenn der Begriff in den letzten Jahrzehnten leider zur Phrase degradiert wurde“. Eine Umfrage des „Austrian Institute for European and Security Policy“ (AIES) bestätigt diesen Befund. Nur ein gutes Drittel der befragten Expertinnen und Experten sieht Österreich noch als Brückenbauer. Für die Studienautoren klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, „was die tatsächliche Vermittlerrolle Österreichs im internationalen Staatensystem anbelangt“. Für Petritsch geht dieser Bedeutungsverlust mit Österreichs EU-Mitgliedschaft einher: „Jede Brücke hat zwei Enden. Seit unserem EU-Beitritt ist klar, dass ein Brückenpfeiler in der EU steht und jede österreichische Initiative auf der Sicherheitsund Außenpolitik der EU fußen muss.“ Weil Österreichs Neutralität im EU-Verbund „dramatisch eingeschränkt ist“, plädiert Petritsch dafür, „dass wir uns im Foto: iStock/JacobH europäischen Kontext ohne Selbstüberschätzung als eine Art friedenspolitischer Ermöglicher in Konflikten einbringen“. Neben den Inselstaaten Irland, Zypern und Malta ist Österreich die letzte noch verbliebene „Neutralitätsinsel“ in der EU, sagt Petritsch – und kritisiert, dass er „von einer gemeinsamen Aktion der Neutralen in der EU nichts hört“. Gleichzeitig fordert er eine „ergebnisoffene Diskussion“ darüber, was die Neutralität noch bedeutet: „Die Welt hat sich dramatisch verändert; das geht über den militärischen Kern hinaus, betrifft unsere Position im Westen.“ Mit dem EU-Beitritt 1995 ging eine „Verwestlichung Österreichs“ einher, und der österreichische Sonderweg bog mit Ausnahme von wenigen Seitenpfaden in die Westeinfahrt ein. Vorbedingung dieser Westintegration war die Zustimmung Moskaus. Dort fürchtete man laut Gehlers Außenpolitikstudie, „dass Österreich auf einem Umweg durch die Hintertür zur NATO kommt“. Vom sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse darauf angesprochen, antwortete sein österreichisches Visà-vis Alois Mock: „Die Neutralität bleibt aufrecht. Wenn nicht, dann nicht“ – und beharrte auf dieser Ansage ohne Zusage. „Sich wurschtelig ausdrücken“, nannte ein Vertrauter Mocks dieses rhetorische Instrument, mit dem es ihm gelang, seine Gesprächspartner wenn schon nicht zu überzeugen, dann zumindest ihrer Vorbehalte zu berauben. Zur Legitimierung aktueller Neutralitätspirouetten scheint Mocks „Wurschtelig“-Methode immer noch eine Strategie zu sein. Diplomatievorbild Jazz Wolfgang Petritsch plädiert für ein diplomatisches Miteinander auf Augenhöhe und verweist auf seine Rolle als EU-Chefverhandler bei den Friedensverhandlungen nach dem Kosovokrieg: „Es ist wie im Jazz: Man muss improvisieren, darf aber das Grundmotiv, die eigenen Werte und Prinzipien, nicht vergessen und muss eine Perspektive haben, wohin man will.“ Wichtig ist für Petritsch, das Freund-Feind- Schema ad acta zu legen: „Freundschaften zwischen Staaten gibt es nicht. Das ist ein zutiefst falsches Bild. Es gibt Interessen. Es gibt sympathischere Partner, mit denen man die Wertegrundierung teilt, und weniger sympathische Partner.“ Zu seinen Verhandlungspartnern auf dem Balkan zählten auch Kriegsverbrecher: „Da wurde mir vorgehalten, wie ich mit denen reden könne. Aber mit wem sollte ich sonst reden als mit jenen, die man aus der Logik des Krieges herausbringen möchte? Mit einigen, die danach 25 Jahre Gefängnis bekamen, habe ich sehr gut zusammengearbeitet.“ Wie schön wäre es, wenn ein solches Fazit Diplomatinnen und Diplomaten des Westens auch nach Beendigung und juristischer Aufarbeitung des Kriegs in der Ukraine ziehen könnten. Nächste Woche im Fokus: Das 26. Philosophicum Lech widmet sich der Dialektik der Hoffnung – und fragt, ob Immanuel Kants berühmte Frage „Was dürfen wir hoffen?“ nicht längst umformuliert werden müsste: „Dürfen wir überhaupt noch hoffen?“ Ein Streifzug zwischen Apokalypse und Neuer Aufklärung.
DIE FURCHE · 37 14. September 2023 Politik 5 Von Sieglinde Rosenberger In Österreich hält man eisern an „Hausverstandsdosen“ fest. Das wiederum pusht die Radikalisierung. Woher die Politikscheuheit der demokratischen Parteien rührt und warum lebenswichtige Fragen auf der Strecke bleiben. Eine Lagebewertung. Nach der sommerlichhitzigen „Was ist normal“-Debatte haben sich in den letzten Wochen wohl einige über die „Recht auf Bargeld“-Kampagne gewundert. Gewundert deshalb, weil das Zahlen mit Bargeld zwar niemand zur Disposition stellte, dennoch die Verankerung in der Verfassung verlangt wurde. Die politische Kampagne bestärkte nur, was ohnehin Sache ist. Sie wendete sich akrobatisch gegen eine nicht in der Luft hängende Veränderung. Im symbolischen Raum nicht anstehende Veränderungen zu verhindern, ist zwar überflüssig, aber demokratiepolitisch nicht unbedingt problematisch. Die Abwehr von Veränderungen bleibt allerdings nicht auf Unwesentliches beschränkt, sondern reicht auch in Felder, in denen transformatives Handeln rasch notwendig wäre. Die menschengemachte Klimakrise ist dafür beispielhaft. Brände und Hochwasser, Hitze und Hurrikans vernichten Leben und Lebensgrundlagen, und Teile der Regierung sprechen vom Recht auf das Zahlen mit Bargeld. Anstelle politischer Antworten, die auch subjektive Haltungsänderungen betreffen, versichert die Regierungspartei ÖVP, Veränderung sei nicht notwendig, bzw. wenn doch, dann könne diese nur in Hausverstandsdosen zugemutet werden. Klimapolitik mit Hausverstand, so das Placeborezept. Im krassen Gegensatz dazu spricht die Vorsitzende des Wirtschaftssachverständigenrats in Deutschland, Veronika Grimm, die betont, dass sich Gesellschaft und Wirtschaft gravierend ändern und auf Verzicht einstellen müssen. Foto: iStocj/Tomas_Handfield Veränderung? Bloß nicht! Radikaler Konservatismus Der vielstrapazierte Hausverstand wähnt sich bei den Wünschen und Möglichkeiten der Menschen, er ist offen für unterschiedliche Interpretationen und soziale Reichweiten. Sicher ist nur, dass sich die Hausverstandspolitik von Expertisen und Wissenschaft abgrenzt, dass Handeln gerade bei komplexen, globalen Herausforderungen weit hinter den vorhandenen Analysen zurückfällt. Es sollte vielmehr zum politischen Hausverstand gehören, bei den großen Transformationen auf Expertinnen mit fundiertem Wissen zu hören. Wie ist dieser auf den ersten Blick vielleicht irrationale Politikdiskurs der Veränderungsvermeidung zu verstehen? Was motiviert Parteien des sich neu formierenden radikalen Konservatismus in Fragen des Klimas, der Migration und der Identität eine Veränderungsresistenz zur Ideologie zu erklären? Der Spin will den Nerv einer veränderungsmüden Wählerschaft treffen. Er will dieser Kontinuität versichern, Halt mit kleinen, relativ unwichtigen Details vermitteln. Diese Taktik folgt dem bislang den Rechtspopulisten und Rechtsextremen vorbehaltenen Muster: Nicht wir, nicht Österreich muss sich ändern, sondern die Welt; etwa China, indem es weniger Kohlendioxidemissionen produziert; die anderen haben sich uns anzupassen, etwa indem sie uns in Ruhe lassen, nicht migrieren, trotz Klimawandels, der die Grundlagen frisst. Sicherlich, die zahlreichen Krisen der letzten Jahre verlangten von Regierungen, auf Probleme zu reagieren, die nicht sie auf die Tagesordnung oder in Regierungsprogramme setzten. Manche der Antworten verunsichern Teile der Bevölkerung, belasten sie materiell, nähren die Angst, auf der Verliererseite zu stehen. Zukunftsfitte Perspektiven, auf die vertraut und aufgebaut werden kann, sind rar. Die Bevölkerung ist in gewisser Weise veränderungserschöpft, Teile sind gar wütend auf die, die an die Veränderung appellieren, für diese protestieren. Die postfaktische Verunsicherung tut ein Weiteres, um das Vertrauen in die Handelnden des politischen Systems zu schmälern. Die Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit, nach einer einigenden, vertrauensbildenden Zukunftserzählung, für die es sich lohnen würde, zu verzichten, scheint groß zu sein. Der Hausverstand als Angebot, mit Krisen umzugehen, wird den Kitt aber nicht leisten können, er wird insbesondere keinen Beitrag zur Lösung der Probleme leisten. In Österreich treffen diese in vielen Gesellschaften zu beobachtende Dynamiken des Vertrauensverlusts und der Veränderungserschöpfung auf einen vorgezogenen, voraussichtlich langen Nationalratswahlkampf. Wahlkämpfe sind aber nicht Phasen des politischen Prozesses, in denen Parteien mit unpopulären, wenn auch notwendigen Reformen erfolgreich wären – obwohl viele die Notwendigkeit des prinzipiellen Handelns sehen. Im Wahlkampfmodus angelegte politische Kom- „ Die Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit, nach einer vertrauensbildenden Zukunftserzählung scheint groß zu sein. “ munikation ist nicht angelegt, eine Zukunftsperspektive über Parteigrenzen hinaus zu entwickeln. Wahlkämpfe betonen vielmehr das Trennende und die Unterschiede, zeit- und raumübergreifende Lösungen von Problemen werden auf Halde gelegt. Ein derart langer Wahlkampf nagt einmal mehr am politischen Vertrauen und kann die Polarisierung tief in die Gesellschaft tragen. Wähler und Wählerinnen tendieren zu Parteien, die versprechen, dass nicht wir uns ändern müssen, sondern dass die Welt Lesen Sie hierzu den Kommentar der Ökonomin Sigrid Stagl unter dem Titel „Wie Veränderung gelingt“ (11.4.2019) auf furche.at. Sich wegducken kann kurzfristig eine Lösung sein, langfristig potenziert dieses Verhalten die Probleme. Entscheidungsträger, die trotz eindeutiger Umbrüche auf dem Status quo beharren,reagieren fahrlässig. sich uns anpassen muss. Autoritäre Parteien, die sich als Polarisierungsunternehmer verstehen, profitieren von dieser Gemengelage. Sie müssen nicht viel mehr tun als den nationalstaatlichen Niedergang durch Migration und Freiheitseinschränkungen durch die Pandemie beschwören. Maßnahmen wie die Aufhebung des Lufthunderters auf Autobahnen werden in diesem Horizont zu einem befreienden Akt und zur Vergewisserung über die Rückkehr zur Normalität. Adaption statt Apokalypse Der regierenden Politik kommt aber die Aufgabe zu, Bürgern und Bürgerinnen die Notwendigkeit von Veränderungen zu erklären und in der Folge sozial gerechte Maßnahmen zu entwickeln. Es geht dabei nicht um die Apokalypse, es geht um die Adaption an globale Bedingungen zum Erhalt der Lebensgrundlagen. Wähler und Wählerinnen müssen auf diesem Weg, für dieses Ziel, mitgenommen werden. Wenn es dabei ungerecht zugeht, können Mehrheiten für diese Aufgabe aber nicht gewonnen werden. Gerechtigkeit und Fairness bei der Lastenverteilung sind die altbewährten Bindemittel für Zusammenhalt, Gemeinsames, und Zukunftsvertrauen. Die Autorin ist Politikwissenschafterin an der Universität Wien sowie Mitglied im „Sachverständigenrat Migration und Integration“ in Berlin.
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