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DIE FURCHE 14.09.2023

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DIE FURCHE · 37 20 Film & Medien 14. September 2023 ARTHOUSE-FILM „Das Tier im Dschungel“ oder Die Schöne und der Schüchterne Man kann Patric Chiha, den in Paris lebenden Wiener, ganz gewiss als einen cinematografischen Meister der Leiber verstehen. Das ist spätestens seit „Brüder der Nacht“ (2016) klar, in dem er die Geschichte von bulgarischen Roma-Jünglingen in Wien erzählt, die sich zahlungskräftigen Herren verdingen: Nicht das soziale Elend dieses Settings interessierte Chiha, sondern die ungezwungene Körperlichkeit der jungen Männer – und an denen lässt er sein Publikum ausgiebig teilhaben. Ähnlich die Herangehensweise im zweiten Dokumentarfilm „Wenn es Liebe wäre – Si c’était de l’amour“ (2019), in dem Chiha eine Tanz-Compagnie begleitete: Wiederum kann sich die Kamera da an den Körpern nicht sattsehen. Wenig verwunderlich, dass Chihas nunmehriger Spielfilm „Das Tier im Dschungel“ die Fortsetzung beschriebenen Körperkults im fiktionalen Genre darstellt: Es sind die Leiber der Tanzenden in einem Pariser Disco- bzw. Techno-Club, welche die Folie bilden, aus der die rätselhafte Begegnungsgeschichte von John und May spielt. Eine Geschichte, die überdies den Zeitraum von 25 Jahren – 1979 bis 2004 – umschließt. Inspiriert ist „Das Tier im Dschungel“ von der gleichnamigen Novelle von Henry James von 1903, deren Plot transferiert Chiha ins dritte Viertel des 20. Jahrhunderts und nach Paris. Protagonist John und Protagonistin May treffen einander – zehn Jahre nach ihrer ersten Begegnung – zufällig in besagtem Pariser Club wieder. Neben den Körpern der Hundertschaft von Tanzenden, die Chiha in diesem Club filmt, gehören die Türsteherin und der Klomann (Monsieur Pipi) – in vertauschten Geschlechterrollen – zu den Konstanten des Clubs durch die Jahre. Eine rätselhafte Beziehung Der schüchterne John ist in seiner Persönlichkeit das Gegenteil von der extrovertierten May, die überdies einen Freund namens Pierre hat. John lässt May aber kaum an sich heran, sie treffen einander nur im Zusammenhang mit dem Club – und John scheint ein Geheimnis in sich zu tragen, erst wenn etwas Überraschendes geschieht, wird er sich gegenüber May aufmachen. Eine, gelinde gesagt, rätselhafte, wenn nicht gar toxische Beziehung. Dies alles entwickelt sich über 25 Jahre hinweg, wobei die lebensfrohe May immer ähnlicher farblos zu werden scheint wie John. Die Zeitläufte werden durch visuelle oder gesprochene Informationen weitergetrieben – der Wahlsieg von François Mitterrand, das Aufkommen von Aids, die Anschläge von 9/11. Während die sich biegenden und dampfenden Körper der Tanzenden die visuelle Konstante der Bildsprache darstellen, gelingt Chiha aber mit der Licht- und Farbgebung sowie dem Soundtrack, die Metamorphose von Disco zu Techno im Kinosaal fühlbar zu machen. Das ändert nichts an der Rätselhaftigkeit der Beziehung zwischen John und May. Und mittendrin kann dann dem Zusehenden schon der Atem ausgehen und sich im unaufgelösten Rätsel verlieren. Dennoch kann Chiha das „Tier im Dschungel“ als Parabel für das Lebensgefühl eines „Fadeouts“ durchhalten. Der Regisseur hatte auch ein erstklassiges Schauspielensemble zur Hand: Tom Mercier gelingt eine Bravourleistung als John, Anaïs Demoustier brilliert als May, und auch Béatrice Dalle als Türsteherin und Pedro Cabanas als Monsieur Pipi stehen dem wenig nach. – Kein „leichter“ Film, aber hohe Kinokunst. Folgerichtig, dass „Das Tier im Dschungel“ im März auch die diesjährige Diagonale eröffnen durfte. (Otto Friedrich) Das Tier im Dschungel (La bête dans la jungle) F/B/A 2023. Regie: Patric Chiha. Mit Anaïs Demoustier, Tom Mercier, Béatrice Dalle, Martin Vischer, Sophie Demeyer, Pedro Cabanas. Filmgarten. 103 Min. Foto: APA / AFP / Gabriel Bouys In Venedig gewann Yorgos Lanthimos mit „Poor Things“ den Hauptpreis – völlig zu Recht. Und auch sonst konnte man ein starkes Festival erleben. Feministischer Frankenstein Von Matthias Greuling / Venedig Er war der strahlende Sieger dieses Abends bei der Preisverleihung der 80. Filmfestspiele von Venedig: Dabei war dem Griechen Yorgos Lanthimos völlig klar, dass dieser, sein Triumph vor allem durch seine grandiose Hauptdarstellerin Realität geworden ist: In „Poor Things“, für den es den Goldenen Löwen gab, ist Emma Stone als Bella Baxter zu sehen, eine junge Frau, an der vieles ziemlich entrückt wirkt. Es stellt sich schnell heraus, dass sie eine „ Alberto Barberas bewährtes Erfolgsrezept: große Namen, glanzvolle Filme, arrivierte Regisseure. “ Yorgos Lanthimos Nach dem Silbernen Löwen 2018 für „The Favourite“ brachte der griechische Regisseur nun den Goldenen Löwen nach Hause. Art Frankenstein-Experiment des Wissenschafters Godwin Baxter (Willem Dafoe) ist. Hochschwanger hat sich Bella in den Tod gestürzt, ihr Körper landet auf dem Tisch des experimentierfreudigen Baxter, der das Gehirn ihres ungeborenen Babys in den Kopf der Mutter verpflanzt. Nach erfolgreicher Wiederbelebung ist Bella, die ihren Schöpfer Godwin gerne God nennt, eine junge Frau mit dem Gemüt eines Kleinkindes, das aber auch in großem Selbstbewusstsein den eigenen Körper und bald auch die eigene Sexualität entdeckt. Dabei behilflich ist ihr der schmierige Anwalt Duncan Wedderburn (Marc Ruffalo). „Poor Things“ ist nicht nur ein sehr erotischer Film, sondern auch ultrakomisch und skurril, und stellt die Frage, was Wissenschaft eigentlich darf. So stilsicher, wie Lanthimos diesen Trip inszeniert, war ihm der Hauptpreis gewiss. Und für Emma Stone kann es für diese feministisch angehauchte Frankenstein-Version am Ende nur der Oscar werden. In Venedig ging am Samstag ein Festival zu Ende, das geprägt war von guten Filmen und von der Abwesenheit der Stars, die sich immer noch im Streik befinden, weil sie bessere Arbeitsbedingungen fordern und auch einen Verzicht von Bildern, die von der künstlichen Intelligenz hergestellt werden (vgl. S. 22). Mit „Poor Things“ gewann hier der frühe Topfavorit auf den FEDERSPIEL Windschattenwachstum Von Peter Plaikner Die Tanzenden in einem Pariser Club zwischen 1979 und 2004 bilden die bildliche Folie, auf der Patric Chiha die Geschichte von „Das Tier im Dschungel“ erzählt. Lou Lorenz-Dittlbacher schreibt: „Riesenriesenriesenfreude über unsere Sommer(nach)gespräche und die treue Seher:innenschaft. Im Schnitt (!) waren bei dieser Staffel knapp zehn Prozent dabei.“ Der Facebook-Jubel der ORF-III-Chefredakteurin ist verständlich und berechtigt. Denn das ist ein Marktanteil wie Das Erste, wenn es in Österreich mit Selbstverständnis und Namensgebung der ARD gestaltet würde. ORF 1 kam 2022 auf 9,8 Prozent. Das reichte locker für den zweiten Platz hinter ORF 2 (21,4 %). Den Jahreswert für ORF III gab der öffentlich-rechtliche Rundfunk aber so wenig bekannt wie Monats-, Tagesund Sendungsdaten der täglichen Teletest-Messungen. Deshalb konnte auch Lorenz-Dittlbacher nicht genauer werden. Die spezifische Schweigsamkeit ist Hausbrauch. Der Infokanal muss sich der Gesamtstrategie unterwerfen. Ihr Titel könnte lauten: Keine schlafenden Hunde wecken. Die Ableitung für ORF III wäre dann: Tue Gutes, aber sprich nicht darüber! Denn es hatte 2022 schon 2,9 Prozent. Das ist gleich viel wie Puls 4, dem nach ServusTV (4,3 %) stärksten Privatsender. Wenn um den ständig wachsenden Erfolg des vor zwölf Jahren montierten Beiwagens zu viel Wind gemacht wird, werden die Konkurrenten die unangenehme Frage nach seiner Notwendigkeit stellen. Motto: Was dort punktet, hätte locker auf ORF 1 Platz, das nach wie vor US-Ramsch zu viel Sendezeit gibt. Diese Argumentation überzeugt auch jeden – außer die Verantwortlichen für die Gestaltung des ersten Programms. Lorenz-Dittlbacher erbt von ihrer Vorgängerin Ingrid Thurnher also die unangenehme Aufgabe, ihr Licht unter den Scheffel stellen zu müssen. Deshalb sei hier aus der Schule geplaudert: Nach ServusTV, das 2016 wie ORF III erst 1,8 Prozent Marktanteil hatte, ist das prozentuell am stärksten gewachsene Programm der öffentlich-rechtliche Kulturund Informationssender. Es gibt schlechtere Nachrichten. Der Autor ist Medienberater und Politikanalyst.

DIE FURCHE · 37 14. September 2023 Film & Medien 21 Goldenen Löwen, und auch sonst ist die Jury um den Regisseur Damien Chazelle weithin den Kritikerlieblingen gefolgt. Zum Beispiel im Fall von „El conde“ des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín. Der unternimmt einen Ausflug in eine Art Paralleluniversum, in dem der chilenische Diktator Augusto Pinochet (Jaime Vadell) nicht 2006 verstorben ist, wie das in der realen Welt geschehen ist. Stattdessen fristet er ein ewiges Dasein als Vampir, der sich bereits seit 250 Jahren von Blut ernährt. Larrains von Netflix produzierte Farce seziert nicht nur das Vampirfilmgenre, sondern politisiert es auch. Dafür gab es in Venedig den Preis für das beste Drehbuch. Poetisches Hamaguchi-Drama Den Großen Preis des Festivals erhielt Ryusuke Hamaguchi für das stoisch-poetische Drama „Evil Does Not Exist“, in dem die Ruhe eines Dorfes, das im Einklang mit der Natur existiert, gestört wird, weil man dort einen Glampingplatz errichten will. Als bester Regisseur wurde der Italiener Matteo Garrone für seinen Film „Io Capitano“ geehrt: ein Film über die Flüchtlingskrise, der die Odyssee zweier junger Männer beschreibt, die Dakar verlassen, um Europa zu erreichen. Ebenfalls hochpolitisch ist „Green Border“ der Polin Agnieszka Holland, die das Flüchtlingsleid an der Grünen Grenze zwischen Belarus und Polen in harten Bildern nachzeichnet – die Jury verlieh ihren Spezialpreis an diesen aufwühlenden Film. Bei den Schauspielern räumten Cailee Spaeny in „Priscilla“ (von Sofia Coppola) und der US-Schauspieler Peter Sarsgaard in „Memory“ ab. Spaeny spielt in dem recht durchschnittlichen Biopic Priscilla Presley, die einstige Ehefrau von Elvis Presley, während Sarsgaard im Film von Michel Franco einen Demenzkranken mimt. Der Schauspielerstreik hat der Außenwahrnehmung des Festivals von Venedig wohl geschadet – inhaltlich hat Direktor Alberto Barbera aber auf sein bewährtes Erfolgsrezept gesetzt: große Namen, glanzvolle Filme, arrivierte Regisseure, und das alles zum Start der US-Awards-Season. Ein Konzept, das wieder und wieder aufgeht, auch dank der eifrigen Teilnahme von Titeln aus dem Hause Netflix und Co. Aki Kaurismäki gelingt mit seinem neuen Opus, der lakonischen Tragikomödie „Fallende Blätter“, ein berührender Liebesfilm über zwei einsame Underdogs. Knochentrocken Von Walter Gasperi Nachdem Aki Kaurismäki nach seinem letzten Film „Die andere Seite der Hoffnung“ (2017) zum wiederholten Mal seinen Rückzug vom Filmgeschäft erklärt hatte, meldet er sich sechs Jahre später doch wieder triumphal zurück. In jedem Bild, in jedem Dialog und jedem Song ist der in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnete „Fallende Blätter“, den Kaurismäki selbst als Fortsetzung der proletarischen Trilogie „Schatten im Paradies“ (1986), „Ariel“ (1988) und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (1990) sieht, unverkennbar ein Film des finnischen Meisterregisseurs. Wieder stehen vom Leben gebeutelte, einsame Underdogs im Zentrum, und wieder sind die sozialen Verhältnisse bedrückend. Einzig die Liebe erscheint in dieser Situation als Rettungsanker. Auf der einen Seite ist da die Supermarktkassiererin Ansa (Alma Pöysti), die entlassen wird, als sie ein Wachmann denunziert, weil sie ein abgelaufenes Sandwich nicht in den Abfallcontainer geworfen, sondern in ihre Handtasche gesteckt hat. Auf der anderen Seite gibt es den Arbeiter Holappa (Jussi Vatanen), der seinen Job und seine Wohnung im Werkheim verliert, als seine Alkoholsucht bekannt wird. In einer Karaokebar treffen sich ihre Blicke bei Schuberts „Ständchen“, und man spürt in der Schnittfolge, wie die Liebe ausbricht. Zaghaft nähern sie sich, verlieren sich aber auch immer wieder aus den Augen. So einfach die Geschichte ist, so meisterhaft ist das inszeniert. Kaum Kamerabewegungen Ansa Pöysti als Supermarktkassiererin Alma, Jussi Vatanen als Arbeiter Holappa – zwei Arbeitslose finden sich in Aki Kaurismäkis Film „Fallende Blätter“. sind nötig, fast nur in statischen Einstellungen erzählt Kaurismäki, doch jede davon ist genau gewählt und treibt die Geschichte weiter. Dazu kommt eine Farbdramaturgie, die die Bilder zum Strahlen bringt und ihnen Präsenz verleiht. Durchtränkt von Kinoleidenschaft ist dieser Film nicht nur mit dem Kinobesuch von Jim Jarmuschs Zombie-Komödie „The Dead Don’t Die“, sondern auch durch Kinoplakate oder den herrenlosen Hund, dem Ansa den Namen „Chaplin“ gibt. Liebeserklärung ans Kino Eine Liebeserklärung an die Vorbilder Kaurismäkis ist diese Tragikomödie, die einerseits durch Schauplätze und Ausstattung aus der Zeit gefallen wirkt, andererseits durch Radionachrichten über den Ukrainekrieg in der Gegenwart verankert ist. Dieser seltsame Mix der Zeiten stört aber nicht, sondern trägt nicht unwesentlich zur ebenso betörenden wie melancholischen Stimmung bei, die durch schwermütige finnische Songs noch gesteigert wird. Gleichzeitig sorgen die knochentrockene Inszenierung, das stoische Spiel der Schauspieler(innen), vor allem aber die meisterhaft knappen, lakonischen Dialoge immer wieder für hinreißenden Witz: Tieftraurig und zugleich schreiend komisch sind so viele Szenen, und in der zutiefst bedrückenden Situation breitet sich in diesem zarten Meisterwerk durch die Liebe Wärme aus. (Walter Gasperi) Fallende Blätter (Fallen Leaves / Kuolleet lehdet) SF/D 2023. Regie: Aki Kaurismäki. Mit Alma Pöysti, Jussi Vatanen, Janne Hyytiäinen, Nuppu Koivu, Matti Onnismaa. Filmladen. 82 Min. KRIMINALFILM Hercule Branagh, die Dritte Der Whodunit in der Hochkonjunktur: Bereits zum dritten Mal wagt sich Kenneth Branagh an eine Agatha-Christie- Adap tion, wo er dem mit markantem Schnurrbart ausgestatteten Ermittler Hercule Poirot neues Leben einhaucht. Anders als die Stoffe der Vorgängerfilme wurde die Vorlage zu „A Haunting in Venice“ noch nie fürs Kino adaptiert, was den bühnenhaften Krimis ihre ursprüngliche Funktion zurückgibt: Abseits von Agatha-Christie-Aficionados dürfte hier das Publikum nicht automatisch schon wissen, wer der Täter ist. Trotzdem wirkt nichts an „A Haunting in Venice“ bühnenhaft. Branagh verlegt die Handlung des Romans von England ins Venedig der Nachkriegszeit. Dort dient ein baufälliger Palazzo als unheimlicher Schauplatz: Niedrige Brennweiten (Kamera: Haris Zambarloukos) und dramatische Perspektiven verleihen dem Film ein durch und durch kinematografisches Flair. Nichts erinnert an Theater, und doch ist alles inszeniert. Poirot wird Zeuge der Séance eines bekannten Mediums (Michelle Yeoh), das Kontakt zum Totenreich aufzunehmen vorgibt. Der ehemalige Detektiv traut dem Braten nicht, sieht seine rationale Denkinstanz aber herausgefordert, als sich erste Leichen auftürmen. Weniger humoristisch als die bisherigen Branagh-Christie-Adaptionen frönt „A Haunting in Venice“ einer Schauerromantik, die so manchen Schockeffekt bereithält. Einzig Tina Fey als lebenslustige Schriftstellerin lockert das Geschehen durch ihre Schlagfertigkeit etwas auf. (Philip Waldner) A Haunting in Venice USA/UK/I 2023. Regie: Kenneth Branagh. Mit Kenneth Branagh, Michelle Yeoh. Disney. 103 Min. Monsieur Poirot und sein Moustache ermitteln nun in Venedig. MEDIENBUCH NEUERSCHEINUNG Demokratie braucht Medien. Und Nachrichtenagenturen. Schon das erste Beispiel, das Clemens Pig in seinem Buch „Democracy Dies in Darkness“ anführt, hat es in sich: Am 26. Februar 2022 verbreitete die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti – irrtümlich! – einen Jubel kommentar, dass die zwei Tage vorher begonnene russische Invasion in der Ukraine ihr Ziel bereits erreicht habe. Wie wir heute wissen, hat Russland auch 15 Monate später seine Kriegsziele nicht erreicht. Pig zeigt mit diesem Beispiel, wie sehr das Nachrichtenwesen auf die Verbreitung durch Agenturen angewiesen ist. Allerdings ist ein Gutteil davon – eben auch RIA Novosti – in staatlicher Hand und jedenfalls in autoritären Systemen ganz sicher ein Propagandainstrument. Dem stellt Pig die „absolute Minderheit“ unabhängiger Agenturen gegenüber – von den globalen Playern Reuters und Associated Press (AP) bis zur Deutschen Presse-Agentur (dpa) oder der Austria Presse Agentur (APA). Von Letzterer ist Pig geschäftsführender Vorstand, und dem Blick aufs 175-Jahr-Jubiläum der APA, das 2024 begangen wird, ist das Buch auch gewidmet. Abgesehen davon, dass staatlich unabhängige Agenturen in der Minderzahl sind, listet Pig auf, wie das lokale wie globale Geschehen die Arbeit der Agenturen einerseits ob der schieren News-Menge belastet. Der Titel des Buches ist Programm und gibt den Untertitel, den die Washington Post seit einigen Jahren verwendet, wieder. Der Untertitel von Pigs originellen Zugängen steckt das Feld ab: „Fake News, Big Tech, AI: Hat die Wa(h)re Nachricht eine Zukunft?“ Selbstredend wird die abschließende Frage im Buch mit Ja beantwortet, aber auch die anderen Themen umfassen die aktuell wesentlichsten Herausforderungen für Medien zusammen. Digitale Transformation und Künstliche Intelligenz Neben dem Produktionsdruck, der auf dem Agenturjournalismus lastet, führt Pig die digitalen Transformationsnotwendigkeiten an, die auch Player wie die APA umtreiben. Neben knapper und konziser Darstellung, wie Nachrichtenagenturen heute funktionieren (können), sind es vor allem Fallbeispiele, mit denen Pig aufwartet und die kritischen Medienkonsum ermöglichen sollen. Eines davon ist ein Interview mit Wladimir Putin von 2021, ein anderes veranschaulicht, wie man an einem viral gegangenen Foto des Bahnhofs Charkiw im Ukrainekrieg herausfinden kann, ob es sich um Fake handelt. Der Nutzen des gut aufgemachten Buches besteht vor allem darin, dass es Clemens Pig in der nötigen Prägnanz gelingt, die Problemfelder nicht nur der Nachrichtenagenturen, sondern von Qualitätsjournalismus überhaupt anzureißen. Auch der jüngsten Innovation, die über die Branche hereinbricht, widmet sich das Buch: Wenn eines der Kapitel darin überschrieben ist mit „Vom Trusted Content zur Trusted AI“, so sieht man in einem Satz, worauf es ankommt: Dem durch Medien und Agenturen verbreiteten Inhalt trauen zu können ist das eine (und schon schwer genug). Wenn nun aber die Künstliche Intelligenz in den Journalismus Einzug hält, dann geht es erst recht ans Eingemachte. Clemens Pig erläutert, wie man bei der APA damit umgeht und diese Tools journalistisch nutzt. Auch um derartiger Informationen willen sollte dieses Buch wirklich gelesen werden. (Otto Friedrich) Democracy Dies in Darkness Fake News, Big Tech, AI: Hat die Wa(h)re Nachricht eine Zukunft? Von Clemens Pig Brandstätter 2023 216 S., geb., € 25,00

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