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DIE FURCHE 14.09.2023

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DIE FURCHE · 37 2 Das Thema der Woche Der Westen gegen den Rest? 14. September 2023 AUS DER REDAKTION Gehört Österreich zum „Westen“? Nicht erst seit dem Sager Martin Selmayrs, wonach dieses Land mit jeder Gaszahlung „Blutgeld“ an Russland überweise, stellt sich diese Frage. Der hiesige Vertreter der EU-Kommission wurde zur Strafe nach Brüssel und ins Wiener Außenamt zitiert. Wo sich das „immerwährend neutrale“ Österreich de facto geopolitisch positioniert, bleibt aber mitunter diffus. Dass „der Westen“ und die von ihm proklamierten Werte längst in die Defensive geraten sind, ist freilich augenscheinlich. Für uns ein Anlass, alle politischen Himmelsrichtung genauer unter die Lupe zu nehmen. Zum Auftakt hat Wolfgang Machreich nicht nur Österreichs „wurschteligen“ Westbezug beleuchtet, sondern auch die langjährige Diplomatin Irene Giner-Reichl für eine (Selbst-)Verortung gewinnen können. Wobei die ehemalige Botschafterin in China und Brasilien auch zu unseren weiteren Schwerpunkten zum Süden (19. Oktober) oder Osten (16. November) viel zu sagen wüsste. Am 14. Dezember schließen wir unsere Fokus-Reihe mit dem Norden ab. Schon in dieser Ausgabe lesen Sie, wie sehr der ehemalige israelische Botschafter in Österreich, Dan Ashbel, die Demokratie in seiner Heimat gefährdet sieht. Victoria Schwendenwein hat anlässlich der Verurteilung von Florian Teichtmeister mit einer Betroffenen über sexuelle Gewalt gesprochen, Jan-Heiner Tück liefert Bedenkenswertes zum „Hitler-Balkon“ und Oliver vom Hove Neues zum Ungeheuer Nero. (dh) Von Irene Giner-Reichl Ich bin im Westen Österreichs, in Tirol, geboren und aufgewachsen. Als ich berufsbedingt nach Wien übersiedelte, um mein Glück im Außenministerium zu versuchen, verstanden meine Freunde und Bekannten nicht, wie eine Tirolerin freiwillig in den Osten ziehen könne. Meinen stage – eine Art Probe-Auslandsversetzung, die herausfinden sollte, ob eine Jungdiplomatin für diese Art von Arbeit geeignet ist – machte ich in Kairo. Das war die exotischste (und östlichste) Destination auf der damaligen Liste. Rasch hatte ich in Kairo Gespräche mit hervorragend gebildeten Persönlichkeiten, die zusätzlich zu ihrer ägyptischen Tradition und Kultur auch das Beste von Oxford oder Paris aufgenommen hatten. Mein erster „richtiger“ Auslandsposten war dann in New York, das auch von Tirol aus gesehen im Westen liegt. Nur kurz konnte ich in meinem Irrglauben verharren, dass ich in derselben Zivilisation bleiben würde. Die politische Kultur, die Gegensätze zwischen Arm und Reich erschütterten mich nachhaltig: Der Obdachlose, der vor „Tiffany’s“, dem Gold-und-Silber-Kaufhaus auf der Madison Avenue, seinen Schlafkarton ausbreitete, die Rolle von Religion im öffentlichen Leben, Kleidungs- sowie Gesprächsstil und vieles andere mehr waren zu anders. USA von Peking aus im Osten Als ich Botschafterin in Peking war, orientierte sich das Reich der Mitte mit der neuen Seidenstraßen-Initiative gerade intensiv nach Westen – und damit weg von der Konfrontationslinie mit den USA, die von Peking aus gesehen im Osten verläuft. Und in Brasilien wiederholte sich für mich ein wenig die New Yorker Erfahrung. Obwohl so stark geprägt von den europäischen Kolonialherren, folgt der lateinamerikanische Kontinent seiner eigenen Dynamik und Logik – und lässt sich nicht verstehen, wenn man ihn als Ausdehnung des Westens sieht. Meine Arbeit hatte über viele Jahre hinweg einen starken multilateralen Bezug. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist die Welt nicht so sehr in Ost und West geteilt als in Nord und Süd: Es gibt in der UNO die 1964 gegründete Gruppe der 77 (der derzeit offiziell 134 Staaten angehören) und jene Staaten, die nicht zur G-77 gehören. Das sind im Wesentlichen die „reichen“ OECD-Mitglieder (derzeit 38) und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In den „Nord-Süd-Dialogen“ vor allem zu Entwicklung, zu Fragen der internationalen Verschuldung, zur Rohstoffpolitik oder zum Klimawandel stellt sich China (Supermacht hin oder her, und Am 15. August 2002 erstellte Irene Giner- Reichl als stv. Generaldirektorin der UNIDO in New York den Aufgabenkatalog „Notstand weltweit“ für den Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg; nachzulesen unter furche.at. Die Erweiterung der BRICS-Staaten hat das Potenzial, die auf Völkerrecht gestützte internationale Ordnung völlig umzukrempeln. Resümee einer österreichischen Botschafterin a. D. zur aktuellen geopolitischen Geografie. Das Ende von Go West „ Obwohl von Europa geprägt, hat Lateinamerika seine eigene Dynamik und Logik – und lässt sich nicht verstehen, wenn man es als Ausdehnung des Westens sieht. “ ohne Bedachtnahme auf geografische und geschichtliche Unterschiede) auf die Seite des Südens. Viele Länder wollen heute nicht mehr als Teil des Globalen Südens angesprochen werden, weil der Terminus ungebührlich verallgemeinert. Und der Norden differenziert sich ebenfalls in EU und andere „westliche“ Länder wie die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und das östlich von China gelegene Japan. Nach all dem Gesagten erscheint mir die Geografie nicht aussagekräftig. Die vielbeschworenen Werte des Westens sollen weiterhelfen: liberale Demokratie und Menschenrechte, Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit, in der Aufklärung verankerte Meinungsvielfalt und Toleranz, Solidarität und friedliche Konfliktlösung. Ich sehe in der Europä ischen Union einen Raum, in dem diese Werte hochgehalten, wenn auch nicht immer genügend verwirklicht werden. Die EU ist in vieler Hinsicht kritisierbar und sollte konstruktiv kritisch weiterentwickelt werden. Dennoch sehe ich in ihr eine politische Kraft, die bereit ist, diese Werte auch in die Geopolitik hineinzutragen. Dabei ist die Eigenständigkeit hinsichtlich des wohlverstandenen Eigeninteresses der EU gegenüber den USA bei aller Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft essenziell. Foto: APA / AFP / Michele Spatari Weltordnungsvorbild Kino Der indische Politikwissenschafter Amitav Acharya hat vor einigen Jahren den Begriff der „Multiplex-Weltordnung“ geprägt, anknüpfend an die Analogie des Multiplexkinos, wo in verschiedenen Sälen zur gleichen Zeit verschiedene Filme für unterschiedlich interessiertes Publikum gezeigt werden. Wiewohl das vor allem militärisch motivierte Zusammenrücken zwischen Europa und den USA in der Antwort auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Wiederaufleben der Reflexe des Ost-West-Konfliktes nahelegen könnte, denke ich, dass diese Multiplex-Metapher für die geopolitische Architektur höheren Erklärungswert hat. So verständlich die kollektive Aufmerksamkeit auf die Situation in der Ukraine ist: In der Welt gibt es noch andere blutige militärische Konflikte, Putschs, Dürren und Hungersnöte, Migrationsbewegungen größten Ausmaßes, regionale Entwicklungen, Verschiebungen politischer Allianzen etc. Genauso wie positive wirtschaftliche Trends – etwa auf dem afrikanischen Nachbarkontinent –, die für Europa in jeder Weise von Interesse sind. So hielt ich die Multiplex- Beschreibung bis zum jüngsten Gipfeltreffen der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) in Johannesburg für die beste mir bekannte. Denn längst lässt sich die Welt weder mit bipolaren (China versus USA) noch mit multipolaren regionalen Strukturen befriedigend erklären. Die Koalitionen wechseln, je nach Sachbereich. Regionale Akteure gewinnen an Bedeutung, ohne dass die Supermächte verschwunden wären. Klassische Institutionen, wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation WTO oder auch die Klima-Konventionsmaschinerie, sind weitgehend gelähmt oder unfähig, sich aus den selbstgeschaffenen Komplexitäten zu befreien und Taten zu setzen. Demokratische Legitimationsstrukturen verlieren in vielen Ländern an Unterstützung und begünstigen populistische Weichenstellungen. Desinformation vernebelt unsere Sicht noch weiter. Der jüngste BRICS-Gipfel mit seiner Entscheidung, auch Ägypten, Argentinien, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Mitgliedschaft zu anzubieten, könnte aber auch die Gültigkeit des Multiplex-Erklärungsmodells überholt haben. Diese Ausweitung könnte eine internationale Landschaft entstehen lassen, in der den westlichen Werten die Wertesysteme anderer Kulturen, genährt von anderen Interessenlagen und gestützt auf regionenübergreifende Allianzen, mit neuer Entschiedenheit und erhöhter Durchsetzungsfähigkeit entgegengesetzt werden. Mit dem Ziel, die Institutionen und Vorgehensweisen der auf Völker recht gestützten internationalen Ordnung (wie sie die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten) tiefgreifend zu verändern. Kooperation, Handel, Rivalität Die EU hat seit der Evaluierung ihrer China-Strategie im Jahr 2019 in ihrem Umgang mit Peking drei Arten von Sachfragen benannt: jene, in denen Kooperation möglich und wünschenswert ist – wie beim Management der Ozeane oder der Stabilisierung des Weltklimas; jene, in denen Wettbewerb zum beiderseitigen Vorteil gereicht – wie Handel und Technologie; und schließlich jene, in denen systemische Rivalität herrscht – etwa hinsichtlich des Verständnisses und der Praxis von Menschenrechten. Fürs Erste, denke ich, sollte die Europäische Union diesen Ansatz auch gegenüber der erweiterten BRICS-Gruppe nach eingehender Analyse der jeweiligen Interessenlagen zur Anwendung bringen. Und sie sollte der Versuchung widerstehen, sich hinter einer Frontstellung eines imaginären oder imaginierten „Westens“ zu verschanzen. Foto: Andrei Pungovschi Die Autorin war Diplomatin und leitete u. a. die Sektion für Entwicklungszusammenarbeit im Außenministerium.

DIE FURCHE · 37 14. September 2023 Das Thema der Woche Der Westen gegen den Rest? 3 Die Welt sei unübersichtlicher und risikoreicher geworden, sagt Daniela Schwarzer, deutsche Expertin für internationale Beziehungen. Umso mehr brauche es globale Zusammenarbeit statt Blockbildungen und Gerangel um den Platz als Weltmacht Nummer eins. „Kalter Krieg 2.0 wäre falsch“ Das Gespräch führte Helmut L. Müller Europa ist Teil des politischen Westens und durch die NATO an die USA gebunden. Gleichzeitig gibt es enge Wirtschafts beziehungen mit China. Sollte der Konflikt zwischen beiden eskalieren, würde Europa einen hohen Preis zahlen, warnt die Politikwissenschafterin Daniela Schwarzer. DIE FURCHE: Frau Schwarzer, erleben wir den Beginn einer neuen Weltordnung? Daniela Schwarzer: Der jüngste Gipfel der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, Anm. d. Red.) und die Aufnahme sechs neuer Länder in diese Gruppe zeigen, dass Staaten, die die aktuelle Weltordnung infrage stellen, sich in neuen Formaten zusammenschließen. Das bedeutet nicht, dass sie in vielen Punkten einer Meinung sind – aber sie prangern die Dominanz der USA und des politischen Westens in der Gestaltung der Weltordnung in der Nachkriegszeit an. Sie stellen infrage, dass Regeln, die unter Vorherrschaft der USA verabschiedet wurden, für die ganze Welt Geltung haben. Darüber müssen die Staaten des politischen Westens mit anderen sprechen, denn eine breiter akzeptierte, regelbasierte Weltordnung würde für alle Staaten Stabilität schaffen und gemeinsame Problemlösungen erleichtern. Gerade bei drängenden Themen wie dem Kampf gegen den Klimawandel ist dies wichtig. DIE FURCHE: Offenbar denkt Washington nicht mehr, dass die Volksrepublik in das internationale System eingebunden werden kann. Zielt die neue China- Strategie der USA auf ein Eindämmen im militärischen Bereich und eine wirtschaftliche Entkoppelung? Schwarzer: Washington hat sich rhetorisch vom Ziel des Entkoppelns verabschiedet, das noch unter Präsident Donald Trump hochgehalten wurde. Für die USA wäre es sehr teuer, sich aus den engen Wirtschaftsbeziehungen mit China zu lösen. Aber wie die europäischen Staaten versuchen auch die USA, die Abhängigkeit von China zu reduzieren. „De-Risking“ ist das neue Schlagwort: die Verringerung von Risiken und damit der Verwundbarkeit, die sich aus zu großen Abhängigkeiten ergeben. Gleichzeitig nehmen die USA China als Konkurrenten wahr, der ihnen den Platz als Weltmacht Nummer eins wegnehmen will. China reagiert, indem es versucht, sich stärker mit anderen Staaten zu verbinden. China und die USA trachten gleichermaßen danach, die eigenen Allianzen zu stärken. Foto: Wikipedia / Stephan Röhl / Heinrich-Böll-Stiftung Daniela Schwarzer ist Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung und Politologin in Berlin. DIE FURCHE: Droht Europa in die Zwickmühle der Systemrivalität zwischen den USA und China zu geraten? Schwarzer: Europa ist in einer schwierigen Situation. Durch die NATO ist Europa eng an die USA gebunden und mit den USA Teil des politischen Westens. Zum anderen pflegt es zu den USA, aber auch zu China sehr enge Wirtschaftsbeziehungen. Sollte ein Konflikt zwischen den beiden Weltmächten eskalieren, etwa über Taiwan, hätte dies für Europa einen besonders hohen Preis. Europa will sich aufgrund seiner wirtschaftlichen Abhängigkeiten nicht für die eine oder die andere Seite entscheiden müssen. Daher muss es jetzt dringend strategische Fragen beantworten: Wie kann es sich gegenüber den USA und China so positionieren, dass es konfliktmindernd auf beide Seiten wirken kann? Wie kann es dazu beitragen, die Zuspitzung eines Konflikts im Indopazifik zu verhindern? DIE FURCHE: In der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA steht der „freie und offene Indopazifik“ an erster Stelle. Was sind die Konsequenzen für Europa? Schwarzer: Die USA orientieren sich schon seit den frühen 2000er Jahren immer weiter in Richtung Asien. Dort liegen nicht nur die wichtigsten Wachstumsmärkte. Dieser Raum wird auch aus sicherheitspolitischer Perspektive für die USA immer wichtiger. Bereits Präsident Barack Obama hatte den strategischen Schwenk in die asiatisch-pazifische Region verkündet. Die NATO ist jedoch der Kern der amerikanischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geblieben. Gleichzeitig bauen die USA ihre Beziehungen mit Partnern im Indopazifik aus. Das zeigt zum Beispiel der jüngste Dreiergipfel der USA mit Japan und Südkorea. „ Man sollte nicht befördern, dass der Westen gegen den Rest der Welt steht, sich die Welt anhand der Trennlinie zwischen Demokratien und anderen Systemen strukturiert. “ DIE FURCHE: Europa steht also im Abseits? Schwarzer: Für Europa bedeutet das, dass sich die USA hoffentlich nicht aus der NATO zurückziehen, aber den Europäern zweierlei abverlangen werden: Erstens sollen sich die Europäer stärker um die Belange der eigenen Nachbarschaft kümmern. Die Amerikaner werden nicht in dem Maße wie bisher das Rückgrat der westlichen Politik gegenüber Russland und der Ukraine bilden. Die Europäer müssen selbst stärker Verantwortung übernehmen. Zweitens erwarten die USA, wenn sie mit Truppen im europä ischen Raum präsent bleiben, dass sich die Europäer im Gegenzug auch um den asiatisch-pazifischen Raum kümmern. Europa muss begreifen, dass westliche Sicherheitsinteressen weltweit auf dem Spiel stehen. DIE FURCHE: US-Präsident Joe Biden betont, dass es global um den Konflikt Demokratien gegen Autokratien gehe. Aber ist dem tatsächlich so? Schwarzer: Die USA haben zeitweise die Idee befeuert, dass hier der Westen gegen den Rest der Welt stehe. Zum einen durch Amerikas Reaktion auf Russlands Angriff gegen die Ukraine und die Erwartung Washingtons, dass sich die Staaten der Welt angesichts dieser Aggression der Politik der USA und Europas gegen Russland anschließen würden. Zum anderen dadurch, dass Präsident Biden den „Gipfel der Demokratien“ ins Leben gerufen hat. Man sollte aber nicht befördern, dass Gegner & Partner POLITISCHE HIMMELSRICHTUNG Foto: APA / AFP / Saul Loeb „De-Risking“ prägt die USA-China- Beziehung. Beide Seiten versuchen die Risiken gegenseitiger Abhängigkeiten zu minimieren. Bereits am 1. Jänner 1991 zeichnete sich für US-Experten Günter Bischof das „Ende des Amerikanischen Jahrhunderts“ ab; nachzulesen unter furche.at. sich die Welt anhand einer scharfen Trennlinie zwischen Demokratien und anderen Systemen strukturiert. DIE FURCHE: Warum? Schwarzer: Die weltweiten Verflechtungen sind sehr groß. Eine grundsätzliche Entkopplung wäre für beide Seiten nicht nur mit wirtschaftlichen Verlusten verbunden. Sie hätte auch den Nachteil, dass dadurch Kontakte abgebrochen würden, die man für Dialog und gegenseitiges Verständnis braucht. Globale Probleme wie Klimawandel, Gesundheits- und Ernährungskrisen oder Migration lassen sich nur dadurch bewältigen, dass man zusammenarbeitet – auch wenn man unterschiedliche Vorstellungen hat, wie Politik und Gesellschaft funktionieren. Ein Kalter Krieg 2.0 ist weder empirisch gegeben noch ein Szenario, das uns helfen würde. DIE FURCHE: Wie kann es angesichts dieser verschärften Großmächtekonkurrenz überhaupt zum notwendigen globalen Regieren kommen? Schwarzer: Wir sollten die Vereinten Nationen nicht abschreiben. Zwar ist der UN-Sicherheitsrat dadurch, dass mit Russland ein Ständiges Mitglied einen Angriffskrieg führt, derzeit in der wichtigen Sache des Angriffs auf die territoriale Integrität eines Staates nicht entscheidungsfähig. Die Bedeutung der UNO-Generalversammlung nimmt daher zu. Gleichzeitig bleiben andere globale Formate wie die Weltklimakonferenz wichtig … DIE FURCHE: Sie sind in ihrer Durchsetzungsfähigkeit aber beschränkt. Schwarzer: Tatsächlich werden die Ansätze von Global Governance den aktuellen Krisen nicht gerecht, sie sind nicht effizient genug. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Chance vertan, das Weltsystem so zu reformieren, dass wir heute in der Lage sind, mit mehr Staaten effektiv an der Bewältigung globaler Pro bleme zu arbeiten. Da müssen wir deutlich besser werden. Wir dürfen dabei nicht nur an Regierungen denken, sondern müssen Zivilgesellschaft und Wirtschaft stärker miteinbeziehen. Das könnten auch Formate wie die erweiterte G7 und die wachsende BRICS-Gruppe tun, die einen relevanten Anteil der Weltwirtschaft und Weltbevölkerung abdecken. Wir leben in einer risikoreicheren Welt. Niemand weiß genau, wie die zukünftige Ordnung ausgestaltet wird. Doch die Erkenntnis, dass gemeinsames Handeln nötig ist, wurde selten so klar formuliert wie jetzt. Klar ist auch, dass Regierungen allein nicht die Wirksamkeit entfalten können, die wir heute brauchen. Westen heißt Demokratie, Offenheit, Humanität Der Westen ist eine Himmelsrichtung. Gleichzeitig steht der Begriff für eine wirtschaftliche, militärische, geistige und kulturelle Weltmacht. Nur ein Buchstabe ist zu tauschen, um vom Westen zu „seinen“ Werten Demokratie und Menschenrechte zu kommen. So einfach dieser Buchstabentausch ist, so schnell, oft auch zu schnell, wird der Westen mit den guten, wahren und schönen Folgen der Aufklärung gleichgesetzt. Die russische Philosophin Oxana Timofeeva nannte den Westen in der Zeit deswegen eine „politische Himmelsrichtung, in die viele aufbrechen wollen“. Gleichzeitig wollen immer mehr aus dieser politischen Orientierung raus – und einem anderen Wertekompass folgen, die Welt anders ordnen bzw. sich unterordnen. Im Osten, in Moskau, in Peking, aber auch im Westen, in Washington (Trump), in Budapest (Orbán), Berlin (AfD) oder Wien (FPÖ). Der Westen muss sich diesen Gegnern von außen und innen stellen. Am besten in der Form, in der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Sommer 2011 – damals als norwegischer Ministerpräsident – auf den rechtsextremen Terroranschlag in Oslo und auf der Insel Utøya reagierte: „Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Humanität. Aber niemals Naivität.“ (wm)

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