DIE FURCHE · 37 18 Literatur 14. September 2023 Von Ingeborg Waldinger Sprachen leben. Sie verändern sich lautlich wie grammatikalisch, sie nehmen fremdes Wortgut auf oder tragen eigenes hinaus über die Grenzen. Und so kommt es, dass man in Chile Rezepte für „kuchen de nueces“ (Walnusskuchen) findet, auf Samoa „penisini“ (Benzin) tankt, in der Türkei auf der „otoban“ (Autobahn) dahinbraust oder in Kamerun die Finsternis mit einer „tosilam“ (Taschenlampe) ausleuchtet. Mancher Ausdruck hat in der Nehmersprache auch einen völligen Bedeutungswandel erfahren. So meint „strudel“ im Hebräischen das @-Zeichen. Andere Wörter wiederum wurden bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, etwa das slowakische „penedrek“. Es steht für Lakritze, geht allerdings auf das umgangssprachliche Synonym Bärendreck zurück. Zu dieser sprachlichen Entdeckungstour lädt der deutsche Germanist und Journalist Matthias Heine ein, mit seinem lesenswerten Buch „Ausgewanderte Wörter“. Der 1961 geborene Autor hat der deutschen Sprachgeschichte schon mehrere Bücher gewidmet. In „Verbrannte Wörter“ (Duden, 2019) sensibilisierte er für jenes Sprachgut, das von der NS-Propaganda „vergiftet“ wurde. In „Eingewanderte Wörter“ (Dumont, 2020) spürte er – von Anorak bis Zombie – der genauen Herkunft diverser Sprachimporte nach. Nun, in seiner bei Dumont erschienenen Erkundung des deutschen Sprachexportes, rollt er in alphabetischer Reihung 80 weitere „globale Wortschicksale“ auf. Bis in den letzten Winkel der Welt Ziemlich weit sei seine Muttersprache herumgekommen, „in den nunmehr rund 1200 Jahren“ ihrer Existenz, so Matthias Heine. Bis ins Spätmittelalter habe sich der Austausch von Wortgut meist auf geografisch benachbarte Sprachen beschränkt. Doch schon mit den Hanse-Kaufleuten habe sich der Radius dieses Transfers bis nach Island ausgeweitet. Heute seien Germanismen, also deutsche Wörter, die in andere Sprachen eingegangen sind, „auf allen Kontinenten zu Hause“. Das Englische oder Russische weise besonders viele deutsche Lehnwörter auf, doch selbst exotische Sprachen bewahrten höchst interessante Germanismen. Handel, Kolonialismus und Kriege sind neben Wissenschaft und Kultur die wesentlichen Triebkräfte für die Verbreitung von Wörtern. „Vor allem das 19. Jahrhundert“, so Heine, „als in der westlichen Welt jeder, der sich für Poesie, Musik oder auch Chemie interessierte, Deutsch können musste, hat viele Wörter in fremde Länder gebracht.“ Im 19. Jahrhundert wurden auch deutsche Kolonien gegründet, in Teilen des heutigen China, in Afrika und im Pazifikraum. Illustraton: Rainer Messerklinger Im Buch „Ausgewanderte Wörter“ begibt sich Matthias Heine auf eine Spurensuche deutscher Wortschicksale und zeigt, dass Germanismen auf allen Kontinenten zu Hause sind. Deutsches Wortgut auf Weltreise Heine entführt uns beispielsweise nach Papua-Neuguinea, wo die Pidginsprache Tok Pisin gesprochen wird. Sie basiere, so der Autor, größtenteils auf dem Englischen und auf Elementen indigener Idiome. Sie weise „aber auch Elemente aus dem Deutschen und vor allem aus melanesischen Sprachen“ auf. Pidgin entstehe dort, wo es an einer gemeinsamen Muttersprache mangle. Allein „ Handel, Kolonialismus und Kriege sind neben Wissenschaft und Kultur die wesentlichen Triebkräfte für die Verbreitung von Wörtern. “ Sprachexport Im Laufe der Geschichte – besonders im 19. Jahrhundert ‒ hat eine Reihe deutscher Wörter Eingang in andere Sprachen gefunden und wurde adaptiert. im ehemals deutschen Gebiet, also dem nordöstlichen Teil von Neuguinea, würden etwa 700 Sprachen existieren. „Zur Kolonialzeit (...) betrug der Anteil deutscher Wörter zwischen zehn und 20 Prozent des Gesamtwortschatzes der Pidginsprache.“ 1914 wurde Neuguinea von australischen Truppen besetzt, 1919 wurde es australisches Mandatsgebiet. Deutsches Wortgut wich alsdann meist dem Englischen, einige Vokabel aber blieben. So sagt man etwa auf Tok Pisin „esik“ für Essig. Offenbar wurde dieses Würzmittel erst durch die Europäer in Neuguinea eingeführt. Matthias Heines Exkurse in exotische Sprachen, die deutsche Lehnwörter bewahrt haben, nehmen in dem Buch viel Raum ein. Das Beispiel „amar“ für Hammer etwa führt in den pazifischen Inselstaat Nauru; es ist ein Nachhall des Phosphatabbaus unter deutscher Kolonialherrschaft. Handwerkliche Ausdrücke haben sich auch in Kameruns Regionalsprache Ewondo erhalten, zum Beispiel „tagsigel“ für Dachziegel. Nicht nur Kolonialherren, auch Missionare sorgten für die Verbreitung deutscher Wörter in fernen Landen. So haben die Inuit in Nordlabrador zum einen religiöse Ausdrücke integriert, etwa das Wort heilig („haïlix“), zum anderen das europäische Zeitsystem übernommen, samt entsprechendem deutschem Vokabular („yari“ für Jahr oder die Wochentage „montac“, „tinstax“ etc.). Von „landszaft“ bis „tsimer“ Interessante Geschichten verbinden sich auch mit deutschen Lehnwörtern in Europas Sprachen. Wie die „landszaft“ ins Polnische kam, der „besserwisser“ ins Schwedische und der „krach“ ins Französische, ist ebenso spannend zu lesen wie die Reise der Wörter „wunderkind“ oder „über“ ins Englische. Nicht zu vergessen das seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Englischen belegbare Wort „schadenfreude“, dessen Karriere 1991 einen ungeahnten Schub erfuhr. Auslöser war eine Folge der TV-Serie „The Simpsons“, in der sich Homer Simpson am Missgeschick seines Nachbarn erfreut. Als ihm seine Tochter erklärt, dass es für dieses Gefühl im Deutschen den Ausdruck Schadenfreude gebe, ulkt Homer: „Junge, Junge, diese Deutschen haben für alles ein Wort.“ Und schon stieg der schriftliche Gebrauch des Lehnwortes „schadenfreude“ merkbar an. Matthias Heines faktenreiche Erkundung deutscher Wortschicksale erweist sich als unterhaltsame Horizonterweiterung. Die ideale Lektüre für Mußestunden, vielleicht sogar in einem Gästezimmer oder, wie der entsprechende Germanismus auf Hebräisch lautet: in einem „tsimer“. Ausgewanderte Wörter Von Deutschland in die ganze Welt Von Matthias Heine Dumont 2022 136 S., geb., € 20,60 Jetzt als Podcast! Den Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger gibt es nun auch zum Anhören. In sieben Folgen erzählen die beiden von ihrer eigenen Welt – und lernen jene ihres Gegenübers kennen. ERKLÄR MIR DEINE WELT Die Folgen finden Sie auf furche.at/podcast bzw. über diesen QR-Code:
DIE FURCHE · 37 14. September 2023 Theater & Literatur 19 Von Patric Blaser Der Anfang der Wiener Theatersaison ist queer. Das Wiener Akademietheater eröffnet mit einer Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ in der Regie der 1984 in Hamburg geborenen Lilja Rupprecht, das Volkstheater eröffnet mit der Bearbeitung und Inszenierung des Romans „Malina“ von Ingeborg Bachmann durch Claudia Bauer. Fassbinder meinte einmal, der Mensch sei so gemacht, dass er den anderen Menschen brauche, aber nicht gelernt habe, wie man zusammen sein könne. Diese Grundformel der unmöglichen Liebe variierte Fassbinder in zahlreichen Theaterstücken und Filmen. In „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, das der junge Fassbinder Anfang der 1970er Jahre sowohl für die Bühne als auch für den Film verarbeitete, veranschaulicht er, was es heißt, Macht über das Liebesbedürfnis eines anderen zu haben und inmitten wechselseitiger Abhängigkeiten zu leben, wobei er eine damals gleich doppelt tabuisierte Beziehung analysiert, nämlich die zwischen einer älteren Frau, der reichen Modeschöpferin Petra von Kant, zu einer jungen Frau, dem angehenden Modell Karin Thimm. Rupprecht nun erzählt das Melodrama als eine Art Vexierspiel von Doppelgängerinnen, mit ihren vielschichtigen Konnotationen: als Chiffre für unterdrückte Wünsche oder alternative Lebensentwürfe; oder der narzisstischen Fusion von Subjekt und Objekt; oder der Absicherung des Fortbestands des Ichs über den Tod hinaus etc. Die Regisseurin macht das vor allem über die Frisuren und die Kostüme von Annelies Vanlaere kenntlich: Die in die Jahre gekommene Petra von Kant (Dörte Lyssewski) trägt die gleiche Unterwäsche wie die Modepuppe. Wenn ihre verflossene Liebe Sidonie (Stefanie Dvorak) vorbeikommt, ist diese in dem gleichen Anzug gekleidet wie Petra, und selbst Körperhaltung und Gesten der beiden werden dominiert von chiastischer Anordnung. Als Petra schließlich zum romantischen Tête-à-tête mit der jungen Karin (Nina Siewert) zusammentrifft, ist sie in das gleiche laszive rote Kostüm gekleidet. Von da an vollzieht sich das Liebesdrama als szenische Abfolge kon trastierender Gefühlsmomente des Verlangens, Sehnens und Verlassenseins. Wobei das melodramatische Repertoire vor allem Dörte Lyssewski Gelegenheit bietet, die Fallstricke zwischenmenschlicher Machtbeziehungen in emotionalen Zuständen durch Ausdrucksformen des pathetischen Körperspiels und großen deklamatorischen Gesten von Befehlen, Fordern, Werben, Schwärmen, Klagen und Wimmern durchzuexerzieren. Im Gegensatz zu Fassbinder aber, der sich selbst in seinen melodramatischen Stoffen für die Mechanismen des Sozialen Foto: © Marcel Urlaub // Volkstheater interessiert hat, vermisst man bei Rupprechts Zugriff den Reflex auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge. Ihre Konfigurationen gewinnen kaum soziale Dimension, statt Anklage und Konfrontation von Typen begnügt sie sich mit der Inszenierung eines privaten exaltierten Ichs. Bachmanns Alter Ego Auch in Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“ geht es um ein Ich. Aber dieses Ich ist viele. Regisseurin Claudia Bauer verteilt in ihrer fulminanten Adaption (zusammen mit Matthias Seier) dieses Ich – das äußerlich unverkennbar Züge der Autorin trägt (blonde Pagenfrisur, rote Lippen, gespreizte Finger zum Rauchen oder Tippen) – auf sieben Darsteller(innen). Das gibt Gelegenheit, bloß Gedachtes oder Selbstgespräche szenisch anschaulich zu machen oder auch Malina zu verkörpern, jene nach „Alter und Aussehen unbestimmbare“ Figur. Am Anfang sucht das siebenfache Ich seinen Platz. Einen Stuhl vor sich herschiebend hetzen die Darsteller(innen) über die Bühne und setzen sich hastig, wenn die Musik „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ im Akademietheater und „Malina“ im Volkstheater verhandeln das Wechselspiel von Macht und Liebe, Glück und Krisen. Über allem der Liebestod verstummt. Das Ganze erinnert an die Reise nach Jerusalem, in der bekanntlich derjenige ausscheidet, der keinen Platz ergattert. Immer wieder ist die Bühne während der kurzweiligen zweieinviertel Stunden in Rauchschwaden gehüllt, was einerseits der Kette rauchenden Autorin geschuldet ist, aber auch ihren frühen Tod 1973 durch ein Feuer evoziert. Das thematische Zentrum von Bauers Inszenierung bildet Bachmanns Leiden an der Welt, an der Gewalt der (verdrängten) Geschichte, der Gesellschaft, der Männer, von dem vor allem der zweite Teil, „Der dritte Mann“, handelt. Anders gesagt geht es in der großartig inszenierten Bearbeitung des Romans um den verzweifelten Versuch der Ich-Erzählerin/Bachmann, der Welt nicht abhanden zu kommen. Selbst im 7 × Ich In Claudia Bauers Inszenierung von „Malina“ wird die Ich-Erzählerin durch sieben Darstellerinnen und Darsteller verkörpert. Alle tragen unverkennbar Züge Ingeborg Bachmanns. „ Das thematische Zentrum von Bauers Inszenierung bildet Bachmanns Leiden an der Welt, an der Gewalt der (verdrängten) Geschichte, der Gesellschaft, der Männer. “ ersten Teil, „Glücklich mit Ivan“, mit dem Nachbarn und den zwei Kindern aus dem Ungargassenland, das die Bühne von Patri cia Talacko durch drei innen bespielbare bewegliche Würfel andeutet, auf deren Außenwände die intimeren Szenen aus dem Innern in anspielungsreicher Choreografie projiziert werden (Marvin Kanas), will sich das Glück nicht einstellen. Denn Ivan, der nie etwas fragt, hasst die Bücher in ihrer „Gruft“, mit Titeln wie „Herz der Finsternis“, „Erniedrigte und Beleidigte“, „Aus einem Totenhause“. Sein Wollen deckt sich immer weniger mit ihrem Wollen und ihrem Sein als Schriftstellerin. „Denk weniger, lach mehr“ oder „Sei ohne Sorge“ wird immer wieder skandiert. Bauer verdeutlicht diese Zerrissenheit musikalisch mit Mozarts Motette „Exsultate jubilate“ und Wagners „Liebestod“ aus dem „Tristan“. Unbedingt ansehen! Die bitteren Tränen der Petra von Kant Akademietheater, 14., 29.9., 8., 19., 25., 30.10. Malina Volkstheater, 16., 27.9., 6., 13., 28.10. LITERATUR Einsteins Hirn als Trophäe Von Maria Renhardt Mit seinen Lehren hinsichtlich Zeit und Raum hat er die Sicht auf die Welt und ihre Naturgesetze revolutioniert. Die Rede ist vom weltberühmten Physiker Albert Einstein. Nach seinem Tod rankt sich um sein Hirn eine äußerst merkwürdige Geschichte. Der österreichische Autor Franzobel, der bekanntlich ein Faible für das Skurrile hat, widmet sich diesem bizarren Geschehen in seinem Roman „Einsteins Hirn“. Als er einmal zum Stoff befragt wurde, beschreibt er ihn als „kosmisches Geschenk“. Er habe ihn so in Beschlag genommen, dass ein „einziger furioser Schreibrausch“ daraus entstanden sei. Wer Franzobel kennt, weiß, dass er für seine Werke sehr aufwendig vor Ort recherchiert. Wie nahe ist diese ungeheuerliche, seltsame Geschichte nun aber tatsächlich an der Wahrheit dran? Im Nachwort verweist Franzobel raffiniert auf Schrödingers Katze: „Alles ist faktisch fundiert und gleichzeitig auch ausgedacht.“ Diese Ambivalenz bestimmt somit den gesamten Roman. Die Handlung beginnt mit Einsteins Tod. Als er am 18. April 1955 in einem Krankenhaus in Princeton stirbt, soll Thomas Harvey die Autopsie vornehmen. Obwohl die Erben verfügen, dass der Leichnam vollständig verbrannt und die Asche an einer unbekannten Stelle bestattet werden soll, entnimmt der Pathologe das Gehirn, weil er den „Sitz der Genialität“ näher erforschen möchte. Bis hierher zumindest ist die Wahrheit verbürgt. Mit dem Schritt der Hirnentnahme beginnt jedoch das Desaster. Ein Begleiter der anderen Art Tief in seinem Inneren überwältigen Harvey, den Romanprotagonisten, plötzlich Ruhmsucht und Eitelkeit. Ohne recht zu wissen, was er tut, stiehlt er das Hirn und nimmt es heimlich mit nach Hause. Was nun folgt, gleicht einer Irrfahrt durch die Strudel des Lebens. Der Besitz dieses Organs bringt sein einförmig gewordenes Dasein zum Pulsieren. Obwohl er ständig zur Rückgabe des Hirns aufgefordert wird, weigert er sich beharrlich. Während einer Andacht bei der christlichen Gemeinde der Quäker beginnt das Hirn sogar mit ihm zu sprechen. Dieser Umstand katapultiert Harveys Obsession auf eine höhere Ebene, weil er sich fortan für Einsteins Denkorgan verantwortlich fühlt, obgleich er nie wissenschaftliche Ambitionen hegt. Privat und beruflich rast Harvey auf eine krachende Talfahrt zu. Er verliert seine Familie, seinen Job, verstrickt sich in neue abstruse Abenteuer und wechselt seine Wohnsitze – immer mit dem Hirn im Gepäck. Es ist beeindruckend, wie Franzobel Kurioses mit Fakten zu einer überschäumenden, grotesken Handlung verquickt. Fiktionale Fäden bettet er in eine historische Dimension ein und verbindet sie mit ontologischen und kosmischen Fragen. „Einsteins Hirn“ ist daher auch ein Roman über die Auseinandersetzung mit Gott, über Wissenschaft, Pazifismus und den Versuch, in den USA der 1970er Jahre gegen einen omnipräsenten Rassismus anzukämpfen. Mit seiner überbordenden Fabulierlust verliert sich Franzobel aber auch oft in den Seitenarmen des Geschehens, was Längen erzeugt. Schließlich gibt es doch „kein grundlegenderes und perfekteres Rätsel als das der Zeit“. Einsteins Hirn Roman Von Franzobel Zsolnay 2023 544 S., geb, € 28,80
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