DIE FURCHE · 37 10 Gesellschaft 14. September 2023 Klare Worte Mit ihren Aufklärungsbüchern will Josefine Barbaric kindgerecht vermitteln, dass man Nein sagen darf. Auch in der Präventionsarbeit legt sie Wert auf klare Worte, denn: „Meine Erfahrung ist meine Expertise.“ Von Victoria Schwendenwein im Hangar-7“. Wenige Tage nach dem umstrittenen Urteil gegen den ehemaligen Burg-Schauspieler Florian „Talk Teichtmeister will man auf ServusTV die Frage klären: „Freiheit für den Täter, lebenslang für die Opfer?“ Zum Gespräch geladen sind neben Rudolf Mayer, dem Rechtsanwalt von Florian Teichtmeister, auch der Gerichtspsychiater Reinhard Haller – und Josefine Barbaric, Kinderschutzaktivistin und Autorin aus Deutschland. Es ist ein hitziges Gespräch, in dem vor allem Mayer und Haller zu Wort kommen und für niedrige Haft strafen für pädophile Rechtsbrecher plädieren. Barbaric will dagegen argumentieren, verweist auf ihre eigene Erfahrung als Betroffene von Kindesmissbrauch, Haller fällt ihr ins Wort – dann fällt ein Schlüsselsatz: „Es geht hier nicht da rum, Ihr Leid zu relativieren, aber ...“ Nur wenige Stunden zuvor hat Barbaric in einem Telefonat mit der FURCHE gemeint: „Ich erlebe oft, dass Gesprächspartner nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen. Viele tun sich schwer, eine Betroffene als Expertin zu sehen.“ Als das Gespräch in einem Videotelefonat einige Tage später fortgeführt wird, sagt sie, der Talk habe sie in dieser Meinung bestätigt. Dennoch: Ihren Einsatz für die Rechte und den Schutz von Kindern und ihre eigene Vergangenheit kann die 49-Jährige nicht so einfach voneinander trennen. Ihre Erfahrung ist ihre Expertise Barbaric weiß, wovon sie spricht. Missbrauchserfahrungen und Menschenhandel sind auch Teil ihrer Biografie. Mit 19 Jahren kann sie die Dynamiken durchbrechen. „Ich war selbst eine Dunkelziffer“, meint sie im Rückblick. Lange Zeit spricht sie nicht über das Erlebte. Einen geeigneten Therapieplatz zu finden, gestaltet sich schwierig; ebenso wie Vertrauen aufzubauen. Sie sagt: „Die einzigen Menschen, denen ich heute bedingungslos vertraue, sind meine Kinder.“ Durch medial intensiv besprochene Missbrauchsfälle wird sie vor einigen Jahren zurückgeworfen, die eigenen Erfahrungen holen sie ein. So sehr, dass sie ihre Stimme verliert. Die Ärzte sind ratlos, bis schließlich ein HNO-Arzt eine psychosomatische Ursache für möglich hält: „Es hat mir im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen“, erinnert sich Barbaric. „ Die Gesellschaft stellt die Aussagen von Kindern infrage. Wir sind nicht gut darin, Kinder zu schützen, sie zu hören und angemessen zu begleiten. “ Josefine Barbaric Lesen Sie zum Thema auch die Aufarbeitung „Wenn Mütter zu (Mit-)Täterinnen werden“ (11.8.21) von Victoria Schmidt auf furche.at. Der Fall Florian Teichtmeister bringt Josefine Barbaric in Rage. Die Gewaltpräventionstrainerin hat als Kind selbst Missbrauch erfahren. Heute gibt sie Betroffenen eine Stimme. „Ich war eine Dunkelziffer“ Foto: neinlassdas.com Den Rückschlag will sie so aber nicht hinnehmen. Sie beginnt, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Was daraus entsteht, ist das erste ihrer Aufklärungskinderbücher: „Nein! Lass das! Kraft gibt dir Kraft“. Das ist der Grundstein für ihren eigenen Verein, mit dem sie sich seit 2017 dafür einsetzt, dass Präventions- und Aufklärungsarbeit so früh wie möglich bei Kindern ankommen. Sie will der Gesellschaft schonungslos die Dynamiken hinter Kindesmissbrauch und Missbrauchsdarstellungen aufzeigen, vor den Gefahren warnen und Kindern vermitteln, dass sie frühzeitig „Nein!“ sagen dürfen, wenn eine Situation unangenehm ist. Das kann bereits ein Küsschen für den Opa sein, zu dem ein Kind gedrängt wird. Laut Barbaric fängt es oft bereits mit vermeintlich harmlosen Berührungen von Vertrauenspersonen an. „Der Mund ist etwas äußerst Intimes“, erklärt sie und benennt deutlich, welche Taten daraus resultieren können. „Am häufigsten werden Kinder oral missbraucht. Zuerst wird ihnen das Essen in den Mund geschoben, dann ein Penis, bis es zur Ejakulation kommt.“ Den meist sehr kleinen Kindern werde dann eingebläut, dass sie über das Erlebte nicht sprechen dürfen. Dabei ist ihre Aussage oft der einzige Beweis der schweren Straftat. Im Verborgenen bleiben die Verbrechen laut Barbaric vor allem auch deswegen, weil die Gesellschaft die Glaubwürdigkeit kindlicher Aussagen infrage stelle. „Wir sind nicht gut darin, Kinder zu schützen, sie zu hören und angemessen zu begleiten“, resümiert sie. Aus der einstigen Betroffenen ist eine Expertin geworden, die Workshops hält, als Referentin an Universitäten, in der Polizeiausbildung und an Kindergärten sowie Schulen spricht; und die auch nicht davor zurückschreckt, mit Täterpersonen in die Konfrontation zu treten. Ihre Erfahrungen sind wichtiger Bestandteil ihrer Expertise. Die drastischen Bilder, die sie zeichnet, sind echt und lassen das Gegenüber sprachlos zurück. Für Barbaric ist das Zeichen eines tiefergehenden Problems. Die Gesellschaft habe eine falsche Vorstellung davon, was bei Kindesmissbrauch tatsächlich geschehe. Dazu gehöre auch das Wissen, dass Frauen ebenso sexuell missbrauchen können wie Männer – und dass betroffene Kinder oftmals durch K.-o.-Tropfen sediert werden. Solche Fälle beschäftigen sie im Verein täglich. „Da komme ich dann auch persönlich an meine Grenzen.“ Außerdem will sie Eltern und Groß eltern sensibilisieren: „Fotos von Kindern gehören nicht ins Internet“, betont Barbaric. Vielen sei nicht bewusst, dass jedes Kinderfoto, das unbedacht in sozialen Netzwerken geteilt werde – ob mit Smileys unkenntlich gemacht oder nicht –, potenziell in die Hände Pädokrimineller fallen kann. 10.000 Verdachtsfälle in Österreich Wenn Barbaric von ihrer Tätigkeit erzählt, spricht sie entschlossen, findet klare Worte. Fälle wie jener von Teichtmeister bringen sie in Rage. Zwei Jahre bedingte Haft und Einweisung in ein therapeutisches Zentrum lautete das Urteil. Besonders ärgert Barbaric, „dass hier zwischen Hands-on- und Hand-off-Taten unterschieden wird“. Die Frage, wie Täter zu kinderpornografischem Material und somit zur Darstellung von sexuellem Missbrauch an Kindern kommen, werde zu wenig beleuchtet. Denn: Um in einschlägige Foren im Dark net zu kommen, brauche es eine Verifizierung. Und die funktioniere meist nur mit neuem Material. „Je jünger die Kinder und je näher verwandt, desto geiler. Das ist doch krank!“, erklärt Barbaric in energischem Ton. Die Gewaltpräventionstrainerin macht deutlich: „Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Jedem Kind, das auf diesen Datenträgern zu sehen ist, wird größtes Leid zugefügt – und die Tendenz ist steigend.“ Die Statistik gibt ihr recht. Während der Coronajahre wurde ein deutlicher Anstieg der Anzeigen wegen „Online-Kindesmissbrauchs“ verzeichnet. Allein in Österreich wurden im Vorjahr 2061 angezeigte Fälle registriert. Dazu kommen 10.000 Verdachtsfälle, die die NGO „US National Centre for Missing and Exploited Children“ (NCMEC, „Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder“) im Jahr 2022 nach Österreich gemeldet hat. Mehr als 780 Verdächtige sollen daraufhin ausgeforscht worden sein. Vielfach gestaltet sich die Tätersuche aber schwierig. In Deutschland etwa können laut offiziellen Zahlen derzeit lediglich zehn Prozent der Hinweise ausermittelt werden. Grund dafür sei das Verbot der IP-Adressen-Speicherung. Barbaric hat daher eine Petition gestartet: „Datenschutz darf kein Täterschutz sein.“ Die 49-Jährige wünscht sich eine Welt, in der Kinderschutz als Standard etabliert ist. Derzeit sei man davon noch weit entfernt. „Betroffene kriegen lebenslänglich“, fasst sie zusammen. Neben der lebenslangen seelischen Belastung werden sie oft auch von der Gesellschaft stigmatisiert. Solange sich das nicht ändert, bleibt Josefine Barbaric laut. Hinweis Wenn Sie online Darstellungen sexuellen Missbrauchs an Kindern oder Jugendlichen entdecken, melden Sie diese an meldestelle@interpol.at oder www.stopline.at/de/melden. Nein, lass das! Kraft gibt dir Kraft Von Josefine Barbaric JoBa 2017 16 S., € 12,90 Franz und Marie und die Körperpolizei Von Josefine Barbaric JoBa 2020 28 S., € 15,90
DIE FURCHE · 37 14. September 2023 Bildung 11 Das neue Schuljahr bringt für die Pflichtschule neue Lehrpläne. Jene für die Sonderschule wurden für 2025/26 angekündigt. Bildungsaktivisten sehen darin grobe Versäumnisse und orten im Gastkommentar Diskriminierung mit System. Das lange Warten auf Inklusion Von Michael Doblmair, Barbara Hager und Nazime Öztürk Seit mehr als 15 Jahren müssen Artikel zum Zustand der Inklusion in Österreich mit dem Hinweis beginnen, dass Österreich 2008 beschlossen hat, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Wesentlicher Punkt dieses internationalen Vertrags ist es, „ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu schaffen, in dem alle Schüler(innen) „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben“, lernen können. Vorsorglich wurden 2014 neue Curricula für das Lehramt eingeführt, die für eine solche Schule vorbereiten sollen. Seitdem heißt es jedoch, warten, denn in all dieser Zeit bewegte sich die alte segregierte und segregierende Schule keinen Millimeter. In den letzten Jahren, so stellte der Monitoring-Ausschuss unlängst fest, müssen wir sogar gravierende Rückschritte hinnehmen. An positive Maßnahmen knüpfte der 2021 beschlossene „Nationale Aktionsplan Behinderung“ nicht an, dafür werden schwammige Kennzahlen ohne zu erkennende Zahlen definiert. Zwei Beispiele: Mit dem Schuljahr 2018/19 wurden Deutschförderklassen eingeführt. Seitdem müssen in der Regel vorwiegend Kindergartenkinder mit vermeintlich nichtösterreichischer Herkunft vor der Einschulung das „Messinstrument zur Kompetenzanalyse – Deutsch“ (MIKA D) bestehen. Dieses soll messen, ob ein Kind dem deutschsprachigen Unterricht folgen können wird. Ohne an das vorhandene Wissen zu Diagnoseinstrumenten anzuknüpfen, hat der damalige Minister Faßmann einen Test entwickeln lassen, der weniger das Sprachverständnis als die Syntax der deutschen Grammatik misst. Wie sehr das Verstehen eines Satzes jedoch an der richtigen Verbplatzierung hängt? Jeder selbst darf entscheiden. Im Alltag herrscht noch immer Exklusion Bescheinigt dieser mangelhafte Test acht eingeschüchterten Kindern an einer Schule „mangelhafte“ Deutschkenntnisse, werden diese vom Regelunterricht ausgeschlossen, segregiert und exkludiert. Zum motivierten Aufspüren der Mangelhaftigkeit wurde die finanzielle Unterstützung zur Sprachförderung an den Misserfolg beim Test gekoppelt. In diesen Klassen pauken dann Schüler(innen) die Syntax des Deutschen, schließlich gilt es, den nächsten MIKA-D-Test zu bestehen. Wer nach zwei Jahren noch immer „mangelhaft“ ist, darf dann in die Regelschule übergehen, Deutschförderung wird dann jedoch keine mehr finanziert. Bereits vor der Einführung haben viele Expert(inn)en auf „Othering“ und Ausschluss hingewiesen, und auf die lerntheoretischen wie pädagogischen Nachteile dieser Aussonderungsveranstaltungen. Mit Stefan Hopmann darf dies getrost stupid public policy genannt werden oder noch schlimmer: rassistische Diskriminierung. Das zweite Beispiel: Am 17. Juni 2021 wurde im österreichischen Parlament ein Entschließungsantrag von allen fünf Parteien für neue kompetenzorientierte Lehrpläne zur Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) beschlossen. Die Freude war groß, denn der zwölf Lernjahre umfassende alte Sonderschullehrplan war lediglich für den kleineren Personenkreis tauber Schülerinnen und Schüler entwickelt worden. Dieser bevorzugte die ÖGS als Erstsprache in der Kommunikation. Ausgeschlossen hat dieser schwerhörige bzw. hörende Schülerinnen und Schüler, deren Eltern zum Beispiel taub sind. „ Schön, dass Expertinnen und Experten gefragt wurden. Bei den nun beschlossenen Lehrplänen sind ihre Vorschläge aber an keiner Stelle zu finden. Inklusiv ist an diesen wenig. “ Der Entschließungsantrag sah vor, dass das Bildungsministerium bis zum Schuljahr 2023/24 einen bedarfsgerechten Lehrplan zu ÖGS unter Einbindung von Expert(inn)en festlegt. Eine Zeitlang ist es dann still um die Lehrpläne geworden. In diesem Schuljahr durften der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) und Verena Krausneker von der Universität Wien eine Stellungnahme für das Bundesministerium schreiben. Aufmerksame Beobachter(innen) der österreichischen Politik wissen allerdings schon, was jetzt kommt: schön, dass Expert(inn)en gefragt wurden. Bei den nun beschlossenen Lehrplänen sind ihre Vorschläge aber an keiner Stelle zu finden. Inklusiv ist an diesen wenig, und das, obwohl dasselbe Bildungsministerium nun seit mittlerweile sechs Jahren eine Gleichstellung der ÖGS mit allen anderen Sprachen versprochen hat. Die Lehrpläne wären eine wichtige Voraussetzung für eine inklusive Bildung tauber und hörbehinderter Schüler(innen). Um die Exklusion für die nächsten Jahre zu verfestigen und die nachrangige Wichtigkeit noch einmal zu unterstreichen, wurden modernisierte Sonderschullehrpläne nun auf 2025/26 verschoben. Ohne die Verbreitung von ÖGS bleiben hörbehinderte und taube Menschen kommunikativ segregiert und exkludiert. Freundschaften mit nicht ÖGS-Sprechenden zu schließen, bleibt schwierig. Analog zum ersten Beispiel kann so eine Politik nur fähigkeitsorientierte Diskriminierung genannt werden. So eine Politik des „Normalismus“ separiert und exkludiert Menschen. Einer solidarischen Gemeinschaft ist sie nicht zuträglich. Zuträglich wären die nächsten Schritte auf dem Weg zur Inklusion. Zurzeit beschreitet lediglich ein zivilgesellschaftliches Bündnis aus Bildungsarbeiter(inne)n und Inklusionsaktivist(inn)en diesen Weg. ZUM SCHULANFANG 2023 Entdecken Sie Lesestoff aus dem FURCHE-Navigator: Starten Sie mit einem Artikel und blättern Sie durch Beiträge von 2023 bis 1945. 1945 Eine kleine Geschichte von der Treue 26. Jänner 1946 von Ilse Aichinger Notruf: Zuwenig Lehrer! 05. November 1964 von Dr. Anton Burghardt Adalbert Stifter und die Schule 23. März 1950 von Professor Dr. Wilhelm Kosch und Nymwegen Schule: Ein flirrendes, schwebendes Kollektiv 30. November 2020 von Katharina Tiwald Bildung - der Rohstoff des 21. Jahrhunderts 28. Jänner 1999 Elisabeth Gehrer Interview: Heiner Boberski furche.at
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