DIE FURCHE · 33 4 Das Thema der Woche Liebes Tagebuch … 14. August 2024 Viele Anläufe Wie eine Person in einer Biografie beschrieben wird, sagt mehr über die Zeit des Biografen aus als über jene des Biografierten. Gegenüber dem Roman kann die Biografie viele Anläufe haben. Von Manuela Tomic Emma Bovary ist eine der berühmtesten Frauen der Welt. Dabei hat sie nie existiert. Aber das Denkmal, das Gustave Flaubert ihr gesetzt hat, eine Biografie im Gewand eines Jahrhundertromans, scheint dieses Faktum zu übertrumpfen. Flaubert hat eine fiktionale Biografie geschaffen, die in Echtheit übergegangen ist. Der Schmerz und die Leidenschaft der Bauerntochter aus der Normandie leben weiter (vgl. S. 13). Nicht nur machte sie Flaubert im Jahr der Entstehung 1857 zum Begründer des modernen Romans, die skandalöse Ehebruchsgeschichte erregte die Staatsgewalt und handelte Flaubert einen Prozess wegen „Unmoral“ ein. Doch ungeachtet all dessen schockierte Flaubert mit einem Satz. Häufig wurde er gefragt, wer hinter Madame Bovary steckt. Welche Frauenfigur mag den großen Schriftsteller wohl derart inspiriert haben? Welches Leben hat er aufgeschrieben? Oder sind es gar mehrere Frauen in einer fiktiven Figur zusammengefasst? „Madame Bovary, das bin ich“, antwortete Flaubert kurz und knapp auf diese Frage. Hat sich der Autor innerhalb einer Frauenbiografie gar eine Autobiografie geschaffen? Eine Geschichte in der Geschichte? Breites Spektrum Biografien gehören zum Kanon wie Romane, Novellen oder Lyrik. Und doch scheint sich diese Gattung immer leichtfüßig zwischen Wissenschaft, Geschichte und Literatur hin- und herzubewegen. Inwiefern ist Biografien die Literatur eingeschrieben? Mit dieser Frage beschäftigt sich die deutsche Autorin Angela Steidele in ihrem 2019 erschienenen Buch „Poetik der Biografie“ (Matthes & Seitz). „Biographische Textformen haben die europäische Literatur von ihren Anfängen an stark geprägt: vom antiken Herrscherlob bis zur pietistischen Leichenpredigt, von den Evangelien bis zum Gelehrtenporträt, von den mittelalterlichen Heiligenlegenden bis zum journalistischen Nachruf und Personenartikeln auf Wikipedia reicht das Spektrum“, schreibt Steidele. Erst im Biografen und Literaten gaben sich im Laufe der Geschichte immer wieder die Klinke in die Hand. Ein wechselseitiges Verhältnis, wie auch die Autorin Angela Steidele in ihrem Buch „Poetik der Biographie“ feststellt. „Das bin ich“ 19. Jahrhundert bildete sich die Biografie als große Monografie aus. In dieser Zeit entstand in Großbritannien auch der Beruf des Biografen. „Die Angelsachsen scheinen, schon aus Tradition, die geborenen Biografen. Als Pragmatikern, die allen Theoriebildungen ironisch oder dickfellig widerstehen und den viktorianischen Roman sozusagen im Blut haben, liegt ihnen das Genre“, schreibt die österreichische Publizistin und Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Literaturen- Heft „Biografien“. „ Indem die ‚Besinnung über den eigenen Lebensverlauf auf das Verständnis fremden Daseins übertragen wird, entsteht die Biografie‘. “ Die Frage, ob diese Gattung eher der Kunst oder der Wissenschaft angehört, lässt Steidele offen. In jedem Fall durchlebte die Biografie einige Umbrüche. Wurden in der Antike nur die Geschichten großer Herrscher (siehe auch Seite 2) erzählt, hatten Schriftsteller wie Emil Ludwig oder Stefan Zweig zur Zeit des Ersten Weltkrieges anderes im Sinn: Sie blickten auf die Helden mit all ihrer Tragik und nahmen ihnen das Pathos. Zum ersten Mal blickte etwa Zweig in seinen Biografien über Joseph Fouché, einen Politiker in der Zeit der Französischen Revolution, und sein Werk über Nächste Woche im Fokus: Foto: Canva (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) die schottische Königin Maria Stuart ohne großes Mitgefühl auf die Biografierten. Individuelle Lebensläufe wurden nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen immer uninteressanter. Statt des Lebens, Schaffens und Leidens eines Einzelnen standen nun das Kollektiv und die Struktur im Vordergrund. In den 1980er Jahren machten sich vor allem Frauen daran, Schriftstellerinnen, Physikerinnen und Künstlerinnen zu entdecken, um die Geschichte neu zu schreiben. Sie stöberten in Archiven, und die Biografie wurde ihr mächtigstes Werkzeug. So wundert es nicht, dass Steidele als eine der Thesen in ihrem Buch festhält, dass jede Biografie auf dem Verhältnis zwischen dem Biografen und seinem Helden basiert, „ja es bildet den eigentlichen Schreibanlass“. In jeder aufgeschriebenen Lebensgeschichte steckt also der Schreiber oder die Schreiberin selbst, mit ihren eigenen Beobachtungen, Wünschen, Sehnsüchten und Blickwinkeln. Der deutsche Theologe und Philosoph Wilhelm Dilthey erkannte 1910 in dieser Verflechtung nicht ein Problem, sondern eine Voraussetzung der Gattung: Indem die „Besinnung über den eigenen Lebensverlauf auf das Verständnis fremden Daseins übertragen wird, entsteht die Biografie“. Aber sind Biografien immer nur im Vergangenen verortet, oder erheben sie auch einen Anspruch auf die Gegenwart, ja sogar die Zukunft? In der Antike nutzte etwa Plutarch seine Geschichten über griechische und römische Helden, um seinem Publikum abschreckende Beispiele aufzuzeigen. Der Gattung liegen also durchaus moralische oder politische Interessen auf. Der Biograf nutzt sein Zielobjekt, um seine eigene Botschaft anzubringen. Lesen wir heute Biografien über den Schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King etwa, könnte der Aufruf zu einer politischen Teilhabe durchklingen. Beschäftigen wir uns mit Biografien von Bösewichten, wie dem österreichischen Frauenmörder Jack Unterweger, so suchen wir in ihm Spuren des Bösen, die auch heute sichtbar sind. Steidele entwickelt in ihrem Buch sogar die gewagte These, dass Biografien in der Zeit und Gesellschaft ihrer Entstehung spielen und nicht in der Zeit des Biografierten. Kann es dann noch eine Wahrheit geben? Durch die Sprache zur Wirklichkeit „Literatur ist deshalb so nah an der Wirklichkeit, weil ihr Medium die Sprache ist, derer wir uns auch im Leben bedienen“, schreibt Steidele. Viele Romane eifern großen Biografien in ihrem Stil, der Narration und Darstellung nach. Einen Vorteil haben Biografien gegenüber dem Roman als Gattung, erklärt Steidele: Es „ist die Möglichkeit, dasselbe Ausgangsmaterial immer wieder neu zu befragen“. Zum Stichjahr 1984 etwa zählte der kanadische Autor Ira Bruce Nadel 225 Biografien über Samuel Johnson, 57 über Charles Dickens und 71 über James Joyce. Heute dürften es ungleich viel mehr sein. Dabei sind die Großen wie Cäsar, Napoleon oder Wagner bei der Zählung ausgeklammert. Die schiere Fülle an Biografien lässt sich bei diesen drei und vielen anderen wohl gar nicht mehr fassen. Biografien sagen also mehr über unsere Zeit als über die Vergangenheit, wie Steidele attestiert. „Nicht die Quellen verändern sich, sondern die Gesellschaft und das Publikum und damit die Fragen, die an die Geschichte gestellt werden.“ Sie bleiben ein wertvolles Zeugnis für das Jetzt. Poetik der Biographie Von Angela Steidele. Matthes & Seitz 2019 106 S., kart., € 12,95 Vor 200 Jahren wurde Anton Bruckner geboren, der neben Sinfonien viele geistliche Werke schuf. Wie wird Göttliches in der Musik hörbar? Und gibt es in den Religionen unterschiedliche Zugänge? Zum runden Geburtstag des großen Kirchenmusikers.
DIE FURCHE · 33 14. August 2024 Politik 5 Von Christoph Konrath Es muss sich etwas ändern, es braucht neue Verbote, die Politik muss auf die Menschen hören, wir brauchen mehr politische Bildung: All das wird gefordert, wenn bei Wahlen Parteien gewinnen, die die liberale Demokratie infrage stellen. Ähnliches ist zu hören, wenn Umfragen oder Erschütterungen wie (geplante) Terroranschläge darauf hindeuten, dass ein Teil der Gesellschaft individuelle Lebenskonzepte oder „unsere Werte“ ablehnt. Wie das alles gehen soll, was vermittelt werden soll und vor allem wen es dafür braucht, bleibt meist offen. Respektvoll, dialogbereit, informiert: So wünschen sich viele die Politik. Doch was politisches Handeln ausmacht, wird in den Analysen über den Zustand der Demokratie oft gar nicht diskutiert. Meist setzen die Debatten auf Prozessoptimierung, bessere Kommunikation sowie das Wissen von Expertinnen und Experten. Andere verweisen auf den Ausspruch des Juristen Ernst- Wolfgang Böckenförde, wonach der demokratische Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. In diesem Satz stecken tiefe Einsichten; er wird aber oft so verstanden, als ob Demokratie nur aufgrund gewisser Traditionen und kultureller Homogenität möglich sei. Die Vielfältigkeit und die Konflikthaftigkeit moderner Gesellschaften werden – implizit – ebenso abgelehnt wie die Möglichkeit, dass der demokratische Staat selbst demokratische Traditionen schaffen und fortentwickeln könne. Unausgesprochen wird vielleicht sogar eingestanden, dass die eigene Vorstellung von Demokratie gar nicht mit Pluralismus umgehen kann. Zynisch durch „echte Politik“? Wenn es darum geht, wie demokratische Politik funktionieren kann, sind wir rasch „im Kleinen“ und gut Organisierten. Als gelungene Beispiele politischer Bildung in Österreich gelten etwa das Jugend- und das Lehrlingsparlament, die jeweils einmal pro Jahr im Hohen Haus stattfinden. An zwei Tagen diskutieren Jugendliche einen fiktiven Gesetzesvorschlag fast unter Realbedingungen. „Fast“, weil alles viel schneller gehen muss als im Echtbetrieb. Hier ist keine Zeit, um Verfahrensregeln oder Theorie zu lernen. Wichtig ist es, Fragen zu stellen, Meinungen zu bilden, Konsens zu suchen. Ob Autoritarismus oder Terror: Demokratische Gesellschaften stehen unter Druck. Ihr Fundament sind nicht nur Parlamente, sondern Engagement und Umgangsformen von uns allen. Siebenter und letzter Teil der FURCHE-Serie. Demokratie als Lebensform Dabei werden sie von Politikerinnen und Politikern begleitet, die in ihren Schlussstatements betonen, wie beeindruckt sie von der Ernsthaftigkeit und dem respektvollen Umgang der Jugendlichen sind. In Bezug auf Erwachsene erhalten professionell begleitete Beteiligungsverfahren wie Bürgerräte vermehrt Aufmerksamkeit. Hier werden Sachfragen intensiv diskutiert; Menschen erleben, wie es möglich werden kann, dass sie bei allen Unterschieden in der Lage sind, gemeinsame Ideen zu entwickeln. Anders als beim Jugendparlament gibt es aber oft Enttäuschungen: Politiker interessieren sich kaum dafür. Es sind vielleicht nette Initiativen, aber sie haben nichts mit high level politics zu tun. Menschen, die sich in einer Partei zu engagieren beginnen, berichten oft Ähnliches. Sie erleben zunächst, dass sie wirksam sein können. Aber bald treten sie in eine neue und widersprüchliche Welt ein, in der Ideale und persönliche Erfahrungen, aber auch das Wissen über Recht nicht viel zu zählen scheinen. Emma Crewe, die als Anthropologin in Parlamenten forscht, beschreibt, wie Politikerinnen und Politiker damit kämpfen, dann nicht zynisch zu werden. Sie analysiert, wie die Konfrontation mit „echter Politik“ verläuft, wie Menschen lernen, mitzuspielen – und hoffen, sich dabei nicht zu verlieren. In der FURCHE-Serie „Sommer der Demokratie“ wurde Till van Rahden und sein Verständnis von Demokratie als Lebensform mehrfach erwähnt (vgl. Nr. 27 und 31). Für ihn steht im Vordergrund, Demokratie nicht primär von Fragen der Moral und der Norm zu sehen. Es geht ihm um Umgangsformen und Rituale, die Menschen sicher machen, mit Konflikten, Widersprüchen und Enttäuschungen zu leben, einander als Gleichberechtigte anzuerkennen und einander zuzuhören. Die Anthropologin Crewe weist in ihrer Forschung darauf hin, dass die vielen Ansprüche und Eindrücke, die politisches Handeln ausmachen, ohne solche Formen nicht bewältigt werden können. Sie können lehren, wie wichtig Innehalten und Aufeinanderhören für demokratisches Zusammenleben sind. Das sind auch jene Elemente, die Menschen in Simulationen, Bürgerräten oder lokaler Politik hervorheben. Demokratie ist, wie alle Institutionen, durch Regeln, konkrete Praxis und Narrative geprägt. Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren oder politisch betätigen, weisen vor allem auf Praxis und Narrative hin: Sie lernen durch das Miteinander-Tun. Die Herausforderung des Lebens in einer Demokratie ist aber, dass wir gleichzeitig in vielen anderen Institutionen leben, die durch andere Praktiken und Narrative geprägt sind. Die Philosophin Elizabeth Anderson weist auf die Dominanz nichtdemokratischer Lebensformen in demokratischen Staaten hin. Am Beispiel der Arbeitswelt argumentiert sie, wie Ungleichheit statt Gleichberechtigung, Durchsetzungsvermögen statt Lastenteilung und autoritäre Entscheidungen statt Kooperation das Leben der meisten Menschen prägen. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, warum es in der Politik anders sein soll. Politische Kommunikation ähnelt seit Langem Vorstellungen erfolgreicher und durchsetzungsstarker Unternehmen. Die Forderung nach Professionalisierung von Politik bringt oft genau das zum Ausdruck. Besteht da nicht das Risiko, dass mit der Rede von demokratischen Lebensformen und etwas mehr Beteiligung auch die Realität der Demokratie verschleiert wird? Dazu kommt, dass viele Menschen gar keine Zeit und Möglichkeiten haben, dem allen zu folgen. Der Philosoph Axel Alle sieben Folgen der Serie „Sommer der Demokratie“ finden Sie unter diesem Titel auf furche.at sowie unter folgendem QR-Code: „ Es geht in der Demokratie nicht nur um Moral und Normen, sondern auch um die Fähigkeit, mit Konflikten zu leben und einander zuzuhören. “ Honneth weist daher darauf hin, dass in Diskussionen über Demokratie vergessen wird, dass Menschen arbeiten, lernen, sich um sich selbst und andere kümmern müssen. Es wird gar nicht nachgedacht, ob der demokratische Staat Möglichkeiten hat, auch anders vorzugehen. Er könnte etwa Schulen als Orte gestalten, in denen nicht bloß über Demokratie gelehrt wird, sondern die so organisiert sind, dass demokratische Gewohnheiten erlebt werden. In den Schulen steckt noch immer viel Geschichte staatlicher Disziplinierungsanstalten. Was, wenn sie ganz auf die Bildung kritischer demokratischer Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet wären? Nur „gespielte“ Teilhabe? Wenn ich die Bedeutung von Lebensformen betone, setze ich mich aber auch dem Vorwurf aus, dass diese nur aufgesetzt und gespielt sein können. Das kann die Distanz zwischen dem, was im Kleinen möglich ist, und dem, was im Großen passieren muss (und oft nur mehr von wenigen verstanden werden kann), noch größer machen, als sie ohnehin schon ist. Dieser Vorwurf ist berechtigt und erinnert daran, dass vieles, was demokratische Politik am Leben hält, auf Fiktionen beruht – schon weil es nie möglich sein wird, dass sich alle Menschen eines Staats verständigen oder vertreten fühlen können. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah erinnert daran, dass Formen und Rollen dann nicht aufgesetzt sind, wenn unser Bekenntnis zu ihnen echt ist. Er betont, wie wichtig es in einer Demokratie ist, kritisch auf ihre Formen zu achten. Es wird zu einem Problem für die Demokratie, wenn wir ihre Formen nur mehr durchschauen wollen, aber nicht mehr bereit sind, ihre Bedeutung zu sehen. Auch wenn manches gespielt wirkt, so kann es doch die Erinnerung daran wachhalten, dass wir der Dominanz anderer – autoritärer – Lebensformen entgegenwirken können. Der Autor ist Jurist und Politikwissenschafter. Gemeinsam mit Marianne Schulze hat er die Serie „Sommer der Demokratie“ für DIE FURCHE konzipiert. Collage: R M (unter Verwendung von Bildern von iStock/spastonov, /sasar, /JacobH, /Luftklick, / Ralf Geithe, /Alfonso Sangiao und /D-Keine)
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