DIE FURCHE · 33 14 Literatur 14. August 2024 Von Rainer Moritz Da wird nicht schlecht aufgetrumpft. Die 1993 geborene US-Amerikanerin Tess Gunty sei, so ihr Verlag Kiepenheuer & Witsch, der „neue Star am Literaturhimmel“. Und ja, ihr Roman „Der Kaninchenstall“, 2022 mit dem renommierten National Book Award ausgezeichnet, ist kein zaghaftes, stilistisch wie thematisch behutsam voranschreitendes Debüt, sondern der höchst ambitionierte Versuch, die amerikanische Gegenwartsgesellschaft, genauer: ihre vernachlässigten, explosiven Regionen, in ein großes Panorama zu fassen. Schauplatz des Geschehens ist der Bundesstaat Indiana, wo auch Tess Gunty geboren wurde, genauer gesagt das fiktive Städtchen Vacca Vale, dessen besten Tage lange zurückliegen. Wer dort seinen Fuß zum ersten Mal hinsetzt, erkennt unweigerlich ein „wüstes Land der Fabriken, Baustellen und vertrockneten Wiesen“, eine „dieser ausgemusterten Einwegstädte, derentwegen Demagogen gewählt werden, die ihr Land zu einem Müllfeuer dezimieren“. Einst florierten Vacca Vale und seine Automobilindustrie. Geblieben ist davon nichts, und die Versuche, die Gegend mit einem „Valley-Plan“ auf Vordermann zu bringen, stoßen auf erbitterten Widerstand. Bereits Guntys Landsmann Richard Russo hat vor mehr als zwei Jahrzehnten in „Diese gottverdammten Träume“ die Hoffnungslosigkeit und das Elend heruntergekommener Kleinstädte eindrücklich festgehalten. Besser geworden ist seitdem nichts, und so schlägt Guntys Besichtigung des „Schandflecks“ Vacca Vale schärfere Töne einer kompletten Desillusionierung an. Gestrandet Um diese darzustellen, greift die Autorin zu einem gern eingesetzten Erzählverfahren: Ein in die Jahre gekommener Wohnblock, von allen nur „Kaninchenstall“ genannt, und seine Mieter bieten sich an, von Kapitel zu Kapitel eine deprimierende Welt der Vereinsamung aufzufächern. Gunty streift durch die Apartments, zeichnet manche Figuren nur in groben Konturen nach und konzentriert sich letztlich auf einige wenige, deren Lebensgeschichten in Rückblenden ausgeleuchtet werden. Im Zentrum steht die achtzehnjährige Tiffany Watkins, die sich mit drei jungen, sie anschwärmenden Männern ein Apartment teilt. Nach und nach zeigt sich, was Tiffany in ihrem kurzen Leben alles durchgemacht hat. Von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht, wurde sie früh ein FEDERSPIEL Eine Vorsehung Meine Oma hatte zwei Reisen getan. Sie brachte die Plastikmaria mit dem blauen Krönchen aus Lourdes mit. Das Weihwasser muss über 50 Jahre alt sein, steht bei mir im Bücherregal. Der Rosenkranz liegt daneben, eine Art Freundschaftsband aus Rom. Mit Oma war ich nie je ins Gespräch gekommen, doch ihre Souvenirs sind Symbol, Anerkennung meiner Person, egal, auf welchen Wegen ich wandelte. So ging ich durch die Stadt, als ein Mädchenchor anhob und Gesänge anschwollen. In der Nähe der rosa geblümten Aida wölkte das Halleluja des Pops. Wohlbeleibte junge weiße Frauen prangten mit Freundschaftsperlenketten um das Handgelenk, als hätten sie die Perlen von Omas Rosenkranz neu aufgefädelt. Eine Masse auf Wallfahrt, dachte ich. Scheinheiligenstadt. Die Mädchen waren friedlich. Ich hätte eine Waage empfohlen, um Erkenntnisse ernährungswissenschaftlicher Standards mitzuteilen. Hochgehaltene Handys wurden hin und her geschwenkt, die Gemeinschaft zwischen Fassaden zur Erscheinung gebracht. Ich drängte mich bis Foto: iStock/vovashevchuk In ihrem preisgekrönten Debütroman „Der Kaninchenstall“ skizziert Tess Gunty im Spiegel exzentrischer Protagonisten den Zeitgeist der amerikanischen Gegenwart. Hildegard von Bingen im Rostgürtel Missbrauchsopfer, und als sie sich auf eine Affäre mit einem verheirateten Lehrer einlässt, führt dies zur nächsten Katastrophe. Ihr Geld verdient sie als Kellnerin in einem Diner, dessen Gäste Freude daran finden, das Servicepersonal zu schikanieren. Tiffany versucht ihrer Not auf ungewöhnliche Weise zu entkommen. Sie will ihre alte Identität ausmerzen und benennt sich um: „Sie ändert ihren Namen amtlich in Blandine, nach einer jugendlichen Märtyrerin, die stoisch die öffentliche Folterung durch die Römer ertrug.“ Ziel ist es, wie es zur Mitte vor. Und siehe da, die Mitte war leer. Ein Platz fürs Nichts. Taylor Swift hatte abgesagt, war aber durch ihre Lieder bei uns. Ein erhebendes Gefühl, als aus Mädchenkehlen die seltsamen Sätze über ein Vergessen, dass jemand existierte, drangen, dass dieses Vergessen einen früher gekillt hätte, aber es nun friedlich und still sei. Der sphärische Klang tröstete über die Erinnerung an den Wiener Anschlag vom 2. November 2020 hinweg, entlarvte die Protestrufe nach einem free Palestine from the River to the Sea junger freier Leute als gefährlichen Unsinn. Die Intifada galt nämlich dem Star der Mädchen und Buben, die dem rosa Traum von romantischer Liebe und selbstbestimmter Frau folgten. Der verhinderte Terroranschlag öffnete Augen. Die neue Maria erschien als milliardenschwere Dompteuse im schillernden Badeanzug und flehte für das Frauenrecht auf Abtreibung. Die Autorin ist Schriftstellerin. Von Lydia Mischkulnig im Text plakativ heißt, die „mühselige Körperlichkeit, in die sie hineingeboren war, zu überwinden und Unantastbarkeit zu erreichen“. Blandines Begleiterin auf dem Weg der Versenkung wird die Mystikerin Hildegard von Bingen, die helfen soll, die unerträgliche, quälende Gegenwart zu ertragen. Die zweite wichtige Figur, die Tess Gunty in den Fokus rückt, ist die „Kaninchenstall“-Bewohnerin Joan, eine vierzigjährige Frau, deren Alltagstristesse es mit der der jungen Blandine mühelos aufnehmen kann: „Joan lebt mit mehreren Plastikpflanzen im ersten Stock des Kaninchenstalls in Apartment C2. Eines Tages hofft sie echte Pflanzen zu besitzen, aber bisher bringt sie das nötige Selbstvertrauen nicht auf.“ „ ‚Der Kaninchenstall‘ ist ein lesenswerter Roman, der für Erschütterung sorgt und sich anschickt, die Gegenwart schonungslos zu durchleuchten. “ Sackgasse Wie viele Menschen im sogenannten Rust Belt, der ältesten und größten Industrieregion Amerikas, fühlen sich auch die Protagonisten in Tess Guntys Roman vom Erfolg abgehängt. Sie arbeitet für das Onlineforum „restinpeace.com“, das Nachrufe auf Verstorbene publiziert, und soll dafür Sorge tragen, dass die Kommentierungen die Toten nicht nachträglich in den Schmutz ziehen. In Bedrängnis gerät sie, als sie es, nachdem ein zu Lebzeiten von ihr selbst verfasster Nachruf der Schauspielerin Elsie Blitz erscheint, versäumt, die schmähenden Kommentare, die Elsies eigener Sohn Moses einstellt, zu löschen. Als sie das, gerügt von ihrer Vorgesetzten, schließlich doch tut, steigert sich Moses in eine Wut hinein und macht sich eigens quer durch Amerika auf, um es Joan heimzuzahlen. Es mangelt Tess Guntys Roman nicht an verstörten, durchgeknallten und frustrierten Gestalten, die – die Hinweise sind leider oft überdeutlich – den verheerenden Zustand des Hier und Jetzt spiegeln sollen. Viel Geschütz wird dabei aufgefahren. Gunty wechselt die stilistischen Register, zitiert seitenweise Onlinekommentare oder Hildegard von Bingens Schriften, baut die Handlung vorwegnehmende Zeichnungen ein und führt die Leserinnen und Leser nach und nach auf eine Katastrophe zu, auf die bereits der Romananfang unmissverständlich hindeutet: „In einer heißen Nacht verlässt Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper. Sie ist erst achtzehn Jahre alt, aber sie hat sich die längste Zeit ihres Lebens gewünscht, dass dies geschehen würde. Die Qualen sind süß, wie die Mystikerinnen versprechen.“ Wie es zu dieser Auslöschung, zu dieser Flucht aus dem eigenen Körper kommt, das führt der Roman in einem heftigen Showdown knapp vierhundert Seiten später aus. Blick ohne Scheuklappen „Der Kaninchenstall“ ist ein lesenswerter, mit allen Mitteln bester amerikanischer Schreibschulkunst verfasster Roman, der für Erschütterung sorgt und sich anschickt, die Gegenwart schonungslos zu durchleuchten. An vielen Stellen ist er zu dick aufgetragen, breitet zu viele Nebenstränge aus und berauscht sich an den erzählerischen Registern, die seine Verfasserin zu ziehen weiß. Blandine Watkins freilich, die Hildegard-von-Bingen-Followerin, ist dennoch eine Figur, die sich eingräbt. Ihr Schicksal mag von Tess Gunty zu stark mit Elendsmerkmalen versehen worden sein; vergessen aber wird man diese Frau, deren Leben verloren ist, ehe es begonnen hat, nicht so schnell. Der Kaninchenstall Roman von Tess Gunty Kiepenheuer & Witsch, 2023 416 S., geb., € 25,70
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