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DIE FURCHE 14.08.2024

DIE

DIE FURCHE · 33 12 Diskurs 14. August 2024 ZEITBILD Leopoldstädter Traum Foto: APA / Tobias Steinmaurer IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Die Jagdgesellschaft Von Doris Helmberger, Nr. 32, S. 1 Aus diesem Leitartikel möchte ich zwei Punkte herausgreifen: 1. Für die Ermordung der drei kleinen Mädchen in Southport waren weder Nigel Farage noch die konservativen Tories verantwortlich, sondern einzig und allein der siebzehnjährige Mörder. Ohne Wenn und Aber. 2. In Rotherham sind Ordnungsbehörden, Schulen und Jugendhilfsorganisationen deshalb nicht eingeschritten, weil sie sich nicht dem Rassismusvorwurf aussetzen wollten. Sarah Champion, Abgeordnete der Labour Party, erklärte: „Beamte haben mehr Angst davor, als Rassisten bezeichnet zu werden, als davor, Kindesmissbrauch zu übersehen.“ Sie wurde als Rassistin beschimpft und verlor ihren Posten in der Labour-Partei. 2002 wurde ein Beamter, der höhere Polizeistellen auf die Missbrauchsfälle aufmerksam machte, suspendiert. Eleonora Brandl, via Mail Mehr als „klingendes Schweigen“ Von Andreas R. Batlogg Nr. 32, Seite 9 Mit Interesse habe ich den Beitrag zu Sexualmoral und Kirche gelesen und schätze die darin anklingenden vorsichtigen Versuche der Öffnung des Denkens und der Diskussion. Ich verzichte darauf, detailliert anzuführen, wie wir als katholische Ehe- und Elternpaare in den 1970er und 1980er Jahren (vergeblich) gehofft hatten, dass die Kirche hier einen menschenfreundlichen Weg einschlagen und uns praktikable Wege zu verantworteter Elternschaft aufzeigen würde. Die Diskussion kommt also reichlich spät, für viele Menschen wohl auch zu spät. Eines befremdet mich jedoch auch an Ihrem Beitrag: Sämtliche angeführten Experten sind Männer. Im zugehörigen Bild werden für „gleichgeschlechtlich Liebende“ ebenfalls Männer gezeigt. Das führt mich zu der Frage, ob es überhaupt Theologinnen/Forscherinnen/Expertinnen zu diesem Thema gibt. Oder ist es so, dass die „selbstbewusst und selbstbestimmt“ lebenden Frauen keine Lust mehr auf diese Diskussion haben? Dr. Charlotte Ennser 3550 Langenlois Kultstatus erlangte Richard Lugner durch die Bambis und Mausis an seiner Seite als Society-Löwe, der die Logen des Opernballs unsicher machte. Und durch seine beiden gescheiterten Ausflüge in die Politik. Wer an den Baumeister denkt, der verzieht die Mundwinkel zu einem Lächeln. Doch Richard Lugner war mehr als ein leutseliger „Seitenblicke“-Star. Er war Österreichs letzter Träumer des American Dream – in seinem Fall des Leopoldstädter Traums. Er begann zwar nicht als Tellerwäscher, doch sein Aufstieg war beeindruckend: Als Sohn eines im Krieg verschollenen Rechtsanwalts gründete er 1964 sein eigenes Bauunternehmen – mit bloß vier Mitarbeitern. Spätestens mit dem Bau der Wiener Moschee, der Renovierung des jüdischen Stadttempels und der Errichtung seiner „Lugner City“ setzte er sich die Mörtel-Krone auf. Richard Lugner war das letzte Mitglied einer verschwindenden Gattung: der öffentlichkeitsliebende reiche Mann. Während Lugner frei über Details aus Liebesbeziehungen tratschte, gaben Mateschitz oder Benko kaum je ein Interview. Opernball, Sektkorken, schöne Frau im Arm: Lugner lebte einen Traum, den kaum noch einer träumt. Oder zumindest leugnen wir ihn – es schickt sich nicht mehr, ihn auszusprechen. Dass Lugner allgemein geliebt wurde, sagt somit auch Ungesagtes über die geheimen Sehnsüchte unserer Gesellschaft. Am Montag ist Richard Lugner 91-jährig verstorben. (Philipp Axmann) Der fragwürdige Segen der E-Mobilität Von Josef Christian Aigner Nr. 32, Seite 11 Dem Gastkommentar Josef Christian Aigners kann zugestimmt werden. Trotzdem hier der Versuch einer Erklärung zur mangelnden Information über umweltschädliche Lithiumgewinnung: Erst entdeckten Verbrennerfans und Klimaleugner aus Auto- und Ölindustrie plötzlich ihre Liebe zur Umwelt und prangerten die mit Umweltschädigungen verbundene Produktion der E-Autos an. Die rückwärtsgewandte Absicht war leicht durchschaubar. Man wollte die Verbrennerindustrie erhalten. Reflexartig wurde (auch von mir) die mit jedem gefahrenen Kilometer verbesserte und weit bessere Umweltbilanz der E-Autos gegenüber Verbrennern ins Treffen geführt. Dass die notwendige Elektrifizierung des Verkehrs aber nur Hand in Hand mit der Verringerung der individuellen motorisierten Mobilität Sinn macht – dies zu betonen wurde oft vergessen. Die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene und andere öffentliche Verkehrsmittel ist auch die erklärte Absicht der Grünen, die leider durch ihren Regierungspartner schwerst behindert wird. Ich verstehe nicht, warum das in der Antwort des Klimaministeriums nicht enthalten war. Das wäre wichtig gewesen. Karl Wagner 2362 Biedermannsdorf Wenn Christentum zum Beleidigtsein wird. Von Otto Friedrich sowie Der Leib Crystal Von Isabel Frahndl Nr. 31, Seite 11 Ich habe die Eröffnung auch angesehen und kann Otto Friedrich nur beipflichten. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, einen Konnex zu Jesu Abendmahl zu sehen. Eher irritierte mich die dicke, aufgetakelte Frau, die in der Mitte saß. Ich dachte: Ist diese Zurschaustellung eine Verhöhnung von fülligen Leuten? Oder vielleicht als eine Art Erhöhung gemeint? Was dachte sich die Beleibte, als die gelenken Artisten vor ihr tanzten und atemberaubende Kunststücke vorführten? Als Trost offenbar gesellte sich dann der auch nicht gerade wohlproportionierte Bacchus dazu, der ebenfalls unbeweglich blieb. Eine Bemerkung noch zur Glosse daneben: „Der Leib Crystal“ finde ich sehr zynisch und grenzwertig zu blasphemisch, wenngleich gut geschrieben. Waltraud Fink, 3722 Straning Dreimal 20.000 Euro rot-weiß-roter „Traum-Bonus“ Neuartiges EuroDreams Special exklusiv für Österreich. Am Pool abhängen, sich einmal wie auf Wolke 7 fühlen, einfach einen Traum Wirklichkeit werden lassen – EuroDreams könnte dazu den Weg ebnen und ermöglicht drei Spielteilnehmer:innen aus Österreich die Erfüllung dieser Wünsche. Es ist wieder eine ganz spezielle und überdies neuartige Aktion, die die Österreichischen Lotterien exklusiv für Österreich durchführen: Unter allen Euro- Dreams Tipps, die in Österreich für die Ziehungen am Montag, den 19. und Donnerstag, den 22. August 2024 abgegeben werden, wird zusätzlich dreimal ein „Traum-Bonus“ in Höhe von jeweils 20.000 Euro verlost. 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Foto: Österreichische Lotterien IN KÜRZE LITERATUR RELIGION BILDUNG NEUE SERIE ■ Bodo Hell vermisst ■ EU-Papstbotschafter tot ■ Aus für Symposion Dürnstein? ■ DIE FURCHE in Alpbach Er ist einer der ganz großen Sprachkünstler der österreichischen Literatur und weiß mit seinen Auftritten stets zu begeistern. Die Sommer verbringt Bodo Hell seit vielen Jahren als Alpenhirt auf der Grafenbergalm im steirischen Dachsteingebiet. Seine Werke erkunden gleichermaßen das Gelände der Sprache wie das der Natur. Am 9. August ist der 1943 in Salzburg geborene und vielfach ausgezeichnete Schriftsteller von einer Wanderung nicht mehr zu seiner Hütte zurückgekehrt. Die Suche der oberösterreichischen und steirischen Einsatzkräfte im Dachsteingebiet dauert zu Redaktionsschluss noch an. Wir hoffen. Der päpstliche Botschafter bei der Europäischen Union, Erzbischof Noel Treanor, ist am Sonntag im Alter von 73 Jahren gestorben. Der Ire vertrat als Nuntius in Brüssel die Anliegen des Heiligen Stuhls bei den EU-Institutionen, unter anderem auf den Gebieten Integrationspolitik, Migration, Entwicklungszusammenarbeit und Schutz von Grundrechten. Umgekehrt hat die EU eine Botschafterin beim Heiligen Stuhl in Rom. In Brüssel kondolierten am Montag zahlreiche Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft, darunter etwa Caritas-Europa-Präsident Michael Landau oder der EVP- Fraktionsvorsitzende Manfred Weber. Als „Ort der Begegnung“ versteht sich das vor 13 Jahren gegründete „Symposion Dürnstein“ – mit dem DIE FURCHE mehrmals kooperierte. Nun droht nach einem Beschluss des Niederösterreichischen Landtags das Aus. „Mangelnder Mainstream, Überhang von Wienern und ein überaltertes Publikum“ wurden laut Kuratorin Ursula Baatz als Gründe genannt. „Doch mit diesen Argumenten kann man nahezu alle Kulturinstitutionen in Österreich zusperren“, so die regelmäßige FURCHE-Autorin. Ab 2025 soll es „Dialog Dürnstein“ als Tagesveranstaltung geben. Der zuständige LH-Stellvertreter Stephan Pernkopf (ÖVP) nahm noch nicht Stellung. Beim Europäischen Forum Alpbach diskutieren Nobelpreisträger, Politiker, Wissenschafter und hunderte Studierende aus aller Welt die Zukunft des Kontinents. Auch dieses Jahr ist DIE FURCHE wieder vor Ort und versorgt Sie ab 18. August täglich auf furche.at mit neuen Berichten aus dem „Dorf der Denker“. Mit dem QR-Code rechts gelangen Sie zu einem Dossier mit historischen FURCHE-Texten und Interviews aus Alpbach. Dort werden Sie auch alle Beiträge aus diesem Jahr finden.

DIE FURCHE · 33 14. August 2024 Literatur 13 Der Roman zu den Wahlen dieses Herbsts erschien 1920 in den USA, heißt „Main Street“ und wurde vom ersten amerikanischen Literaturnobelpreisträger, Sinclair Lewis, geschrieben. Der zeitgenössische Erfolg war gewaltig, ein Bestehen als zeitloser Klassiker war dem Buch nicht vergönnt. Zu Unrecht. Von Daniel Wisser In einem Jahr, dessen Herbst uns Wahlentscheidungen in den USA und Österreich bringt, sei einmal mehr auf eine in politischen Analysen sehr selten beachtete Realität verwiesen: Die Wahlen werden hier und dort in den Kleinstädten entschieden. Es sind Orte, die nicht über die Komplexität der Metropolen verfügen, aber auch nicht an der infrastrukturellen Deprivation der Dörfer leiden. Dort entscheidet sich mehrheitlich unser Schicksal. Den Geist der Kleinstadt einzufangen, ist niemandem so gut gelungen wie Sinclair Lewis. Und wenn wir seine Werke heute lesen – ein wenig mit dem Verfremdungseffekt, den unsere geografische Distanz und eine zeitliche Distanz von inzwischen etwas mehr als hundert Jahren ganz von selbst herstellen –, staunen wir über die Klarheit und allgemeine Gültigkeit seiner scharfsichtigen und scharfsinnigen Darstellung. Sinclair Lewis, der erste Literaturpreisträger der USA, sagte von sich selbst, er sei kein Schriftsteller der Großstadt, sondern einer der Kleinstadt. Lewis, der von 1885 bis 1951 lebte, hat zweiundzwanzig Romane geschrieben, von denen einige nicht nur bis heute interessant geblieben sind, sondern gerade für unsere Zeit interessant sind. Brigitte Schwens-Harrant hat an dieser Stelle bereits vor Jahren Lewis’ Roman „Das ist bei uns nicht möglich“ besprochen. Ich möchte mit dem Roman fortfahren, der dem Autor zum Durchbruch verholfen hat: „Main Street“. Lion Feuchtwanger, ein begeisterter Leser von Lewis’ Romanen, schrieb über „Main Street“: „Neu und rebellisch war an diesem Roman der Umstand, dass Lewis Amerika nicht im gloriosen New York fand, sondern im Alltagsleben und einer provinziellen Umgebung.“ Schmerzhaft scharfer Realismus Madame Bovary im Ödland „Main Street“ erzählt die Geschichte von Carol Kennicott, einer jungen Frau, die nach dem College-Abschluss Dr. Will Kennicott, einen Arzt aus der 3000-Einwohner-Kleinstadt Gopher Prairie, heiratet und mit ihm in dieses Städtchen zieht. Dort erkennt sie bald, dass sie mit dem kleinbürgerlichen Leben nicht zufrieden ist und etwas verändern will, und hat unweigerlich mit Anfeindung und Ausgrenzung zu kämpfen. Der schmerzhaft scharfe Realismus des Romans, seine detailgetreuen Schilderungen der Landschaften, Menschen, Häuser, Kleidung und ihre nicht enden wollenden Aufzählungen nehmen teilweise die Detailbesessenheit des Nouveau Roman vorweg: „Ihre Einsamkeit verlor sich angesichts des geschäftigen Treibens im Gewerbegebiet der Kleinstadt – da waren der Verschiebebahnhof, auf dem eben ein Güterzug rangiert wurde, der Weizensilo, Öltanks, ein Schlachthaus mit Blutflecken im Schnee, die Molkerei mit Farmerschlitten und unzählige Milchkannen davor, eine rätselhafte Hütte mit dem Schild Achtung – Pulvermagazin. Das nette Grabsteinwerk, wo ein praktischer Steinmetz in roter Kalbslederjacke lustig pfeifend einen prachtvoll glänzenden Granitstein bearbeitete.“ Doch das Schildern dieser Details entspringt keinem stilistischen Willen und keiner formalen Überlegung, sondern einzig allein dem Wunsch, das Universum Kleinstadt mit höchster Präzision literarisch abzubilden. Harry Sinclair Lewis wurde am 7. Februar 1885 in Sauk Center, Minnesota, geboren, einer Kleinstadt, die im Jahr der Geburt des Autors 2807 Einwohner zählte und in der sein Vater als Arzt praktizierte. Der große zeitgenössische Erfolg des Romans „Main Street“ hatte große Auswirkungen auf das Verhältnis des Autors zu seinem Geburtsort: Lewis wurde immer wieder von Frauen angesprochen, die sicher waren, dass er sie in „Main Street“ porträtiert hatte – manche davon kamen aus Sauk Center, andere aus anderen Kleinstädten. Er erhielt Briefe desselben Inhalts. In Sauk Center selbst wurde er zuerst als Nestbeschmutzer abgestempelt, später aber gefeiert. Bereits im Jahr 1925 ernannte Publishers Weekly „Main Street“ zum Buch des Jahrhunderts, und Malcolm Cowley schrieb: „Wenn man im Jahr 1921 in das Foyer eines Hotels oder einer Pension trat, stand dort eine Ausgabe von ,Main Street‘ zwischen der Bibel und ‚Ben Hur‘.“ Mark Schorer, einer der zwei Biografen Sinclair Lewis’, erzählt folgende Begebenheit. Einen Tag vor dem Tod seines Vaters saß Lewis mit seinem Freund Charles Breasted zusammen. Lewis konnte nicht schlafen und sagte zu Breasted: „Mein Vater hat mir ‚Main Street‘ niemals verziehen. Er wollte, dass ich einen ehrenwerten Beruf ergreife und Arzt werde. In seinen Augen war ich durch ‚Main Street‘ zum Verräter meiner Herkunft geworden.“ Auf der anderen Seite erhielt Lewis so viel Lob für diesen Roman, wie er Foto: iStock/timnewman „Das ist doch immer möglich: Sinclair Lewis’ Roman ‚It can’t happen here‘“ von Brigitte Schwens-Harrant (18.1.2018), furche.at. „ Der Roman zeigt, dass die Mechanismen des Neokonservativismus der heutigen Zeit vor hundert Jahren genauso funktioniert haben. “ es nie wieder bekommen würde. Begeisterte Leserinnen und Leser, Kolleginnen und Kollegen, da runter Scott Fitzgerald, H. G. Wells und John Glasworthy, schrieben ihm Huldigungsbriefe. Dennoch schien die Wiedererkennung seiner Geburtsstadt in Gopher Prairie ihn so zu belasten, dass er für seinen darauffolgenden Roman „Babbitt“ eine Fantasiestadt zum Handlungsort machte, die Kleinstadt Zenith. Für „Babbitt“ erhielt Lewis im Jahr 1930 den Literaturnobelpreis. Grünschattige Ignoranz Man könnte nun meinen, dass die Geschichte von Carol Kennicott – Lion Feuchtwanger nannte sie „eine Art Madame Bovary in provinziellem Ödland“ – eine Satire ist; scharfsinnig zwar und wahrhaftig, aber in ihrer Grundhaltung durchwegs derogativ und zynisch. Und in der Tat war Sinclair Lewis schon zu seinen Lebzeiten solcher Kritik ausgesetzt. Doch meiner Meinung nach ist der Roman nicht ironisch, sondern aufklärerisch und zeigt uns, dass die Mechanismen des Neokonservativismus der heutigen Zeit in der Tat schon vor hundert Jahren genauso funktioniert haben. Wir finden alle seine Ingredienzien in „Main Street“: bigotte Religiosität, Großstadtfeindlichkeit, antiaufklärerische und revisionistische Politik, nationalistische Demagogie, Xenophobie, Hass auf Sozialisten, Gewerkschaften und solidarische Bewegungen überhaupt, Kulturfeindlichkeit, die Ernennung von Märtyrern und die Verheißung der Rückkehr in eine angebliche goldene Vergangenheit („Make America Great Again!“) u. v. a. Lewis erzählt mit filmischen Mitteln, mit Close-up, Schwenk und Blende, geht immer wieder in eine auktoriale Totale, lässt aber trotz der sehr szenischen Schreibweise auch die Reflexion zu, etwa in einer langen Tirade Carols über die Kleinstadt Gopher Prairie: „Aber ein Dorf in einem Land, das sich alle Mühe gibt, ganz und gar genormt und reinrassig zu werden, das danach trachtet, das viktorianische England als größte Mediokrität der Welt abzulösen, ein solches Dorf ist nicht mehr bloß provinziell, daunenweich und friedlich in seiner grünschattigen Ignoranz. Nein, das ist eine Kraft, die danach strebt, den Erdball zu beherrschen …“ Heute gehen Kapitalismus und Provinzialismus wieder eine Allianz ein, die danach strebt, den Erdball zu beherrschen – wenn sie ihn nicht schon beherrscht. Eine scharfsinnige Darstellung dessen, was da vor sich geht, lesen wir in Sinclair Lewis’ „Main Street“. Main Street Von Sinclair Lewis Übersetzt von Christa E. Seibicke Manesse 2018 999 S., geb., € 28,80 Veranstaltungshinweis Am 20. September 2024 liest Daniel Wisser im Wiener Literaturhaus aus den Romanen von Sinclair Lewis und diskutiert anlässlich der bevorstehenden Wahlen in Österreich und den USA darüber mit dem Publizisten Armin Thurnher. 20.9.2024, 19 Uhr Literaturhaus Wien www.literaturhaus-wien.at

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