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DIE FURCHE 14.03.2024

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DIE FURCHE · 11 8 Politik/Philosophie 14. März 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 7 der kooperieren konnte. Auf den Nahen Osten übertragen würde das heißen, dass man die Hamas militärisch ausschalten müsste, bevor man Verhandlungen beginnt. Die Hamas ist aber nicht nur eine militärische Kraft, sondern eine von weiten Teilen der Bevölkerung in Gaza getragene Bewegung, und für jeden Kämpfer, den die israelische Armee tötet, rückt einer nach. Auf der anderen Seite hat die Bevölkerung von Gaza 30.000 Tote zu beklagen, die als „Kollateralschaden“ – ein zynischer Begriff – völlig inakzeptabel sind. Meine Einschätzung ist, dass man den Konflikt nur noch mit viel Druck von außen wird lösen können, denn die Akteure auf beiden Seiten haben sich so weit in Sackgassen manövriert, dass sie aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden können. Vor dem Hintergrund der erlittenen Traumata ist das nicht allzu überraschend. Aber deshalb steht nun die internationale Diplomatie in der Pflicht, pragmatische Lösungen zu suchen, die einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt ermöglichen. DIE FURCHE: Was können wir von Arendt für unsere heutige Demokratie mitnehmen? Vowinckel: Dass Politik immer auf Verständigung und Ausgleich hinauslaufen muss. Die Positionen driften heute in vielen Gesellschaften immer weiter auseinander, doch Arendt würde uns erinnern, zumindest einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen. Gegenwärtig ist das im Nahen Osten beinahe unmöglich, die Netanjahu-Regierung mit ihren rechtslastigen Ministern auf der einen Seite, und die Hamas auf der anderen mit dem erklärten Ziel, Israel zu vernichten. Da gibt es keine Schnittmenge mehr. DIE FURCHE: Zurück nach Europa: Spätestens seit 2015/16 zählen Flucht und Migration zu den kontroversesten politischen Themen. Arendt war selbst Flüchtling und theoretisierte später über diese Themen. Was können wir von ihrem Denken darüber lernen? Vowinckel: Das bringt uns zurück zu Arendts Kritik am Nationalstaat, der ja auf der Idee einer Einheit von Volk, Staat, Territorium und vielleicht Sprache oder ethnischer Herkunft basiert. Das funktioniert in Immigrationsgesellschaften natürlich nur begrenzt. Wenn die Frage, wer dazu gehört und wer nicht, nach ethnischen Kriterien beantwortet wird, dann bleiben Immigranten immer nur ein Anhängsel der Gesellschaft. Arendt würde uns raten, den Nationalstaat zu verwerfen und stattdessen in die USA zu blicken, die man früher als melting pot beschrieben hat und heute eher als salad bowl bezeichnet. Hier ist die Staatsbürgerschaft die einende Idee. Dem entsprechend müssten wir heute sagen: Jemand, der 2015 aus Syrien nach Deutschland gekommen ist und eingebürgert wurde, das ist ein Deutscher mit syrischer Vergangenheit, aber ein Deutscher. Punkt. DIE FURCHE: Aber wenn Einwanderer teilweise völlig andere Werte mitbringen – kann dann ein gemeinsamer Staat überhaupt funktionieren? Braucht es nicht auch eine gemeinsame Kultur oder zumindest Sprache? Vowinckel: Arendt hätte gemeint, ja, so ein Staat kann funktionieren. Einen kleinsten gemeinsamen Nenner für alle Bürgerinnen und Bürger nennt sie aber schon: Die Verfassung des Staates. Ansichten, die nicht der Verfassung widersprechen, fallen unter die Meinungsfreiheit, wir müssen sie tolerieren. In Deutschland etwa kommt die Meinungsfreiheit an ihre Grenzen, wo Gewalt verherrlicht oder die Würde anderer Menschen beeinträchtigt wird. DIE FURCHE: Was bedeutete Arendt ihre jüdische Identität? Vowinckel: Arendt wuchs in Königsberg in einem sozialdemokratischen, sehr liberalen Elternhaus auf. Sie begriff sich als säkulare, assimilierte Jüdin. Auch wenn sie nicht religiös war, hätte sie ihr Jüdischsein nie geleugnet. Es war mehr eine kulturelle Identität. S I N A I DIE FURCHE: Wie ging Arendt mit Antisemitismus um? Vowinckel: Ihre Mutter gab der Schülerin Hannah Arendt folgende Regel vor: Wenn sie in der Schule ein Lehrer antisemitisch angriff, sollte sie es einem Erwachsenen erzählen, wenn es Kinder waren, sollte sie sich selbst zur Wehr setzen. Arendt meinte auch später: Wenn sie als Jüdin attackiert werde, müsse sie sich auch als Jüdin verteidigen – und nicht als Staatsbürgerin allgemein. DIE FURCHE: Können wir etwas von ihren Verteidigungsstrategien gegen den Antisemitismus von heute verwenden? Vowinckel: Arendt hat sich immer mit Selbstbewusstsein, Witz und Ironie gegen Antisemiten gewandt. Statt sich bedroht zu fühlen, hat sie Antisemiten ausgelacht – und das in einer Zeit, in der Millionen von Juden ermordet wurden. Ich glaube, das ist eine gute Waffe gegen Autokraten und Diktatoren von Putin bis sonst wo hin: Sie schallend auszulachen. Foto: Gerd Illing Annette Vowinckel ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Abteilungsleiterin am Leibniz- Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Sie ist Mitherausgeberin der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hannah Arendt. Bir Lahfan Jüdischer Staat Arabischer Staat UNO verwaltet Waffenstillstandslinie Gaza Chan Yunis Abu Ujaylah Aschdod Aschkelon Ayn al Qusaymah Ägypten Gaza Herzlia Al Kuntillah Chadera Netanya Tel Aviv Jaffa Kirjat Gat Mitzpe Ramon Akkon Haifa Bat Jam Ramla Taba Golf von Akaba Dimona Jotvata Elat Tyros Tulkarm Ramallah Jericho Zin Naharija Bethlehem Hebron Be’er Scheva Zefa' Akaba Libanon Kirjat Schmona Tiberias Nazareth Afula Nablus Jerusalem Totes Meer Ras en Naqb Tiberiassee As Safi Madaba Ak Karak Ma'an Damaskus Syrien Quneitra Irbid Jarasch Amman Dar'a Al Mafraq Zarqa Jordanien Al Qatranah Al Jafr Prophetin des Konflikts Im Frühjahr 1948, nachdem im November 1947 die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas beschlossen, und noch bevor im Mai 1948 der Staat Israel ausgerufen wurde, schrieb Hannah Arendt den Essay „Zur Rettung der jüdischen Heimstätte ist es noch nicht zu spät“. Darin analysiert sie – aus heutiger Sicht prophetisch – die Risiken einer Zwei-Staaten-Lösung und stellt ihre Alternative eines föderativen Staats vor. DIE FURCHE bringt Auszüge aus Arendts Werk. „Auch wenn die Idee der arabischjüdischen Zusammenarbeit nie in großem Maßstab verwirklicht wurde und wenn ihre Realisierung heute ferner scheint denn je, so handelt es sich doch dabei um keine idealistische Tagträumerei, sondern um die nüchterne Feststellung, dass ohne sie das ganze jüdische Unternehmen in Palästina zum Scheitern verurteilt ist. […]“ „Welches Endergebnis ein massiv geführter Krieg zwischen Arabern und Juden haben wird, daran gibt es kaum einen Zweifel. Man kann in vielen Schlachten siegen, ohne den Krieg zu gewinnen. Und bislang hat noch keine richtige Schlacht in Palästina stattgefunden. Und selbst wenn die Juden den Krieg gewinnen sollten, dann wären an dessen Ende die einzigartigen Chancen und die einzigartigen Errungenschaften des Zionismus in Palästina zerstört. Das Land, das dann entstünde, wäre etwas ganz anderes als der Traum der Weltjudenheit, der Zionisten wie Grafik: Rainer Messerklinger (Quelle: Wikipedia) Am 29. November 1947 nahm die UN-Generalversammlung die Resolution 181 (II) an – und damit eine Version der Zwei-Staaten- Lösung für Palästina. Laut dem Teilungsplan sollte Jerusalem von der UNO verwaltet werden und eine Zoll- und Währungsunion von Israel und Palästina entstehen. „ Man kann in vielen Schlachten siegen, ohne den Krieg zu gewinnen. Und bislang hat noch keine richtige Schlacht in Palästina stattgefunden. “ Hannah Arendt der Nicht-Zionisten. Die „siegreichen“ Juden würden, von einer vollkommen feindlichen arabischen Bevölkerung umgeben, abgeschlossen innerhalb ständig bedrohter Grenzen leben und derartig von physischer Selbstverteidigung in Anspruch genommen sein, dass alle anderen Interessen und Aktivitäten erstickt würden. Das Wachstum einer jüdischen Kultur würde nicht länger das Anliegen des ganzen Volkes sein; gesellschaftliche Experimente müssten als unpraktischer Luxus verworfen werden; politisches Denken würde sich auf Militärstrategie konzentrieren; die Wirtschaftsentwicklung wäre ausschließlich von Kriegsbedürfnissen diktiert. […]“ „Ein Ausweg aus dieser Zwangslage könnte jedoch gefunden werden, wenn die Vereinten Nationen in dieser beispiellosen Situation den Mut zu einem beispiellosen Schritt aufbrächten und sich an jene jüdischen und arabischen Persönlichkeiten, die wegen ihres Rufes, aufrichtige Verfechter einer arabisch-jüdischen Zusammenarbeit zu sein, gegenwärtig isoliert sind, mit der Bitte wendeten, sie sollten einen Waffenstillstand aushandeln. […] Ein derartiger Waffenstillstand oder besser: eine derartige Vorverständigung […] würde den Juden und den Arabern zeigen, dass man es schaffen kann. Wir kennen die sprichwörtliche Unbeständigkeit der Massen; es gibt eine echte Chance für einen raschen und radikalen Stimmungswandel, welcher die Voraussetzung jeder wirklichen Lösung ist. Eine solche Wendung könnte indes nur eintreten, wenn gleichzeitig von beiden Seiten Zugeständnisse gemacht würden. […]“ „Es stimmt, dass viele gemäßigte und mit einer guten Portion Goodwill gesegnete Juden geglaubt haben, die Teilung sei vielleicht ein Mittel, den arabisch-jüdischen Konflikt zu lösen. Angesichts der politischen, militärischen und geografischen Realitäten war jedoch diese Einstellung immer ein Stück Wunschdenken. Die Teilung eines derart kleinen Landes hieße bestenfalls, den Konflikt zu zementieren, was bei beiden Völkern zu einer blockierten Entwicklung führen würde; im schlimmsten Fall bedeutete sie eine Übergangsperiode, in welcher beide Parteien sich auf einen weiteren Krieg vorbereiten würden. Der Alternativvorschlag eines föderativen Staates […] ist sehr viel realistischer; trotz des Umstands, dass in ihm die Errichtung einer gemeinsamen Regierung für zwei verschiedene Völker vorgesehen ist, vermeidet er die problematische Mehrheiten-Minderheiten-Konstellation, ein definitionsgemäß unlösbares Problem. Eine föderative Struktur müsste darüber hinaus auf jüdischarabische Gemeinderäte gegründet sein, was hieße, dass der jüdisch-arabische Konflikt auf der untersten und meistversprechenden Ebene, auf der Ebene persönlicher Nähe und Nachbarschaft, gelöst werden würde. Ein föderativer Staat könnte schließlich die natürliche Vorstufe einer späteren, umfassenderen föderativen Struktur des Mittleren Ostens und der Mittelmeerregion sein. […]“ „Das eigentliche Ziel der Juden in Palästina ist der Aufbau einer jüdischen Heimstätte. Dieses Ziel darf niemals der Pseudosouveränität eines jüdischen Staates geopfert werden. […] Örtliche Selbstverwaltung und gemischte jüdisch-arabische Gemeinderäte in Stadt und Land, in kleinem Rahmen, aber doch so zahlreich wie möglich, sind die einzigen realistischen politischen Maßnahmen, die schließlich zur politischen Emanzipation Palästinas führen können. Es ist noch nicht zu spät.“ Wir Juden Schriften 1932 bis 1966 Von Hannah Arendt, Hg. von Marie Luise Knott, Ursula Ludz. Piper 2021 464 S., kart, € 18,95

DIE FURCHE · 11 14. März 2024 Religion 9 Von Andreas G. Weiß Die Vorgänge rund um den texanischen Bischof Joseph Strickland , der seit Jahren gegen Papst Franziskus auf diversen Medien wetterte und schließlich 2023 vom römischen Pontifex des Amtes enthoben wurde, haben jüngst für Aufsehen gesorgt. Die kirchenpolitischen Querschüsse von Kardinal Raymond Burke stehen indes schon fast an der Tagesordnung katholischer Grabenkämpfe. Selbst innerhalb der US-Bischofskonferenz scheinen dauernde Auseinandersetzungen und Richtungsstreitigkeiten der Normalzustand geworden zu sein . „Amerika ist anders“ – so der Titel einiger Reiseführer, die sich mit den Vereinigten Staaten beschäftigen. Ähnliches könnte ebenso gut vielen Kreisen der römischen Kirche in den USA attestiert werden: Selten ist sogar der leitende Klerus einer Ortskirche (von immerhin knapp 70 Millionen Gläubigen) so offen polarisiert wie die katholische Obrigkeit in den USA. Von den Gläubigen ganz zu schweigen. Neben stark konservativen Strömungen ringen liberale Bewegungen, neue geistliche Gemeinschaften, reaktionäre Traditionalisten wie auch parteipolitisch verankerte Netzwerke um die Deutungshoheit in der Blase der US-Kirche. Nicht-amerikanische Beobachter können hier oftmals nur unverständlich die Achseln zucken – zu unübersichtlich die Gemengelage der ständigen Tumulte. Eintauchen in eine fremde Welt Nur wenige haben bisher den Versuch unternommen, aus deutschsprachiger Perspektive in diese amerikanische Sonderwelt des römischen Katholizismus vorzudringen. Der deutsche Theologe Benjamin Dahlke stellte sich in einer jüngst erschienenen Publikation dieser Mammutaufgabe: „Katholische Theologie in den USA“ heißt sein Werk und stellt ein Novum am deutschen Büchermarkt dar. Dahlke, Professor für Dogmatik an der Katholischen Universität Eichstätt, versucht in seinem Projekt, etwas Licht in die fremden Welten der katholischen Theologie in den USA zu bringen. Schnell wird in den einzelnen Abschnitten seines Buches klar, dass dieses Unterfangen keine steril wissenschaftliche, ausschließlich formal intellektuelle Auseinandersetzung sein kann, sondern in einem umfassenden Zusammenhang mit der gesellschafts- und religionspolitischen Geschichte des US-Katholizismus zu geschehen hat. Dahlke gelingt es dabei zu zeigen, dass sich die vielen Schichten und Linien der katholischen Glaubenswissenschaft in den USA nicht unabhängig von sozialen, politischen, ethnischen und nicht selten auch wirtschaftlichen Entwicklungen verstehen lassen. Die Leistung seines Buches ist weniger eine vollständige Katalogisierung katholischer Schul- und Methodentraditionen in der amerikanischen Theologie zu präsentieren (was ohnedies wohl zum Scheitern verurteilt wäre) oder ihre in den Details sehr komplexen Einzelheiten kartographisch offenzulegen. Dahlke schafft es vielmehr, in einer theologisch äußerst detailreichen, zugleich aber um die größe- Foto: Getty Images Franco Origlia Was macht die US-amerikanische Kirche bis heute so anders – und verstörend? Der deutsche Theologe Benjamin Dahlke sucht in einem neuen Buch nach Erklärungen. Befremdliche Seiten der US-Katholiken Raymond Burke, Kurienkardinal aus den USA und einer der schärfsten Kritiker von Papst Franziskus. ren Zusammenhänge bemühten Übersicht den deutschsprachigen Interessenten einen Zugang in diese oftmals fremde Welt der römischen Kirche und Theologie in den USA zu ermöglichen. Warum ist die katholische Theologie in den USA so anders? Ein großer Teil der Antwort lässt sich recht schnell ausmachen: Die katholische Kirche in den USA wurde nach 1960 nicht nur mit dem enormen Wandel durch das 2. Vatikanische Konzil konfrontiert, sondern auch ihre eigene Stellung in Politik und Gesellschaft wurde grundlegend neu geordnet. Scheinbar über Nacht wurden die katholischen Teile der US-Gesellschaft von Parteien und politischen Handelnden umworben, zu den theologischen Auseinandersetzungen mischten sich beinharte gesellschaftspolitische Agenden und moralische Richtungsstreitigkeiten. Bis heute zeigt sich in zentralen politischen Fragen, wie sehr sowohl republikanische als auch demokratische Machtstrategen auf die Bedeutung katholischer Theologie und der institutionellen Kirche setzen: Ob dies die Frage der Lesen Sie auch Otto Friedrichs Leitartikel vom 15.11.2023 zur Absetzung von Bischof Strickland, siehe „Politisierende Religion“ auf furche.at. „ Abtreibung, Israelpolitik etc.: Republikaner wie Demokraten sind bemüht, die katholischen Wählerblöcke auf die je eigene Seite zu ziehen. “ Abtreibung, der Israelpolitik, Einwanderung oder das Verhältnis zu Russland betrifft – jegliche politische Positionierung ist darum bemüht, die katholischen Wählerblöcke möglichst auf die eigene Seite zu ziehen. Die akademische Theologie fand sich hier zudem vor besondere Herausforderungen gestellt, da zahlreiche Institutionen, an denen sie bis heute betrieben und gelehrt wird, gänzlich unabhängig von staatlichen Eingriffen sind und teilweise auch vonseiten diözesaner Führung oder monastischer Leitungsmaßnahmen weitgehend unberührt als eigenständige Unternehmen, Stiftungen oder Privateinrichtungen geführt blieben. Hier entstanden viele privat finanzierte Vereine, hinter denen sich aber nicht selten wiederum politische Anliegen, wirtschaftlich potente Geldgeber oder bloße Machtinteressen verbergen. So entwickelte sich eine bis in die Gegenwart ebenso schulmäßig und institutionell fragmentierte Bildungslandschaft, deren theologische Gallionsfiguren mehrfach zu Steinen des Anstoßes wurden. Nicht zuletzt die politische Verwobenheit der katholischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg hat zu etlichen Auseinandersetzungen um scheinbar zu moderne und liberale Theologien (z.B. Roger Haight, die feministische Theologin Elizabeth A. Johnson oder der Moraltheologe Charles E. Curran) geführt. In den folgenden Diskussionen um deren Angemessenheit traten wiederum unverkennbar amerikanisch angehauchte Richtungen in der Glaubenswissenschaft zutage. In Europa werden dabei oftmals nur die Auswirkungen und finalen „Kämpfe“ um diese Positionen wahrgenommen, die spezifisch Lesen Sie auch die Rezension zum Buch „Playing God“ am 21.6.2023, siehe: „US-Bischöfe: Kein Stil à la Franziskus“ auf furche.at. US-amerikanischen Kontexte, aus denen diese hervorgegangen sind, bleiben bis heute oftmals im Dunkeln. Auch wenn es etwa um die enorme Fokussierung weiter Teile der amerikanischen Katholiken auf der vorkonziliaren Liturgie (nach dem Messbuch von 1962) geht, übersehen weltweite Reaktionen oftmals, dass deren Ursachen nicht primär in den medial reißerisch präsentierten Äußerungen gegenwärtiger Vorreiter dieser Anliegen zu finden sind. Vielmehr sind ähnlich stark retrozentrierte Haltungen tief in den sozial- und gesellschaftspolitischen Erfahrungen der Gläubigen in den USA begründet, die aus dieser Liturgie lange Zeit für ihr eigenes Selbstbewusstsein eine stärkende Identität erhalten haben. Turbulente Gegenwart Wer in der turbulenten Gegenwart katholischer Theologie und Kirchenpolitik in den USA oftmals mit staunendem und ungläubig geöffnetem Mund reagiert, sei beruhigt: Dieses Unverständnis um die Umstände und Gründe zahlreicher theologischer Kämpfe in den Vereinigten Staaten ist selbst in akademischen Kreisen immer noch weit verbreitet. Hier ist es dennoch wichtig zu erkennen, dass auch Personen wie Burke oder Strickland, wie der LGBTIQ*-Vorreiter James Martin oder der Religionsphilosoph John Caputo in ihrem Leben, Denken, Handeln und Schreiben aus einem höchst wechselvollen Kontext stammen, von dem sie nicht gelöst werden können. Diese Hintergründe erscheinen uns Europäern in vielerlei Hinsicht fremd, zugleich können in ihnen nicht selten wenig beachtete Aspekte genuin deutschsprachiger oder europäischer Kirchengeschichte und Theologien ins Bewusstsein gerufen werden. Benjamin Dahlke ermöglicht in seinem Buch einen ersten, äußerst aufschlussreichen Einstieg in diesen Kontext, zugleich aber auch in die wichtigsten Strömungen der US-amerikanischen katholischen Theologie, dem viele interessierte Leser zu wünschen sind, die auch nach der Lektüre dieses Buches die Tiefen des US-Katholizismus nicht scheuen werden. Der Autor ist Erwachsenenbildner, Theologe und Publizist in Salzburg. Katholische Theologie in den USA Von Benjamin Dahlke. Herder 2024. 262 S., geb., € 39,95

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