DIE FURCHE · 11 6 International 14. März 2024 Von Viktor Funk Im Sommer 2006 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das künftige Wahlen stark beeinflussen würde: Die seit 1991 bestehende Wahloption „gegen alle“ auf jedem Wahlzettel wurde gestrichen. Es war nicht der erste Schritt zum Ausbau der politischen Kontrolle im Land, aber es war ein wichtiger. Denn nachdem Regime-kritische Kandidaten kaum noch Chancen hatten, zu Präsidentschaftswahlen zugelassen zu werden, wurde die letzte Möglichkeit genommen, an der Wahlurne Protest auszudrücken. Seitdem spielen die Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen in Russland keine große Rolle; dafür der Wahlprozess an sich. Wie stabil die Macht des 71-jährigen Wladimir Putin ist, zeigt nicht das Wahlergebnis. Wichtiger für das Regime ist es zu sehen, wie das gewünschte Ergebnis bei der Abstimmung vom 15. bis 17. März erreicht wird. Funktioniert der Apparat? Treibt er genügend Menschen an die Urnen? Gibt es Störungen im System? „Dort herumstehen, dann umkehren“ Spricht man mit Russlandbeobachtern oder hört den Exil-Russen zu, die aufgrund ihrer politischen Überzeugung das Land verlassen haben, taucht die Idee eines Wahlboykotts gar nicht erst auf. Im Gegenteil. Julija Nawalnaja, Witwe des ermordeten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, ruft ausdrücklich zur Wahl auf: Am Sonntag, 17. März, sollen all die, die Putin loswerden wollen, im Wahllokal erscheinen und dort „jeden beliebigen Kandidaten außer Putin wählen. Sie können auch den Wahlzettel ungültig machen, Sie können in Großbuchstaben Nawalny draufschreiben, Sie können auch einfach zum Wahllokal kommen, dort herumstehen, dann umkehren und nach Hause gehen.“ Der Sinn des Ganzen: „Sie zeigen damit Millionen anderen, dass sie nicht allein sind.“ Nawalnaja weiß, dass diese Aktion keine Auswirkungen auf das Ergebnis haben wird, deswegen ruft sie zur Störung des Wahlprozesses auf. Ein symbolischer Akt, ein Ersatz für „gegen alle“. Es gibt vier Kandidaten. Neben dem absehbaren Sieger Putin sind es Wladislaw Dawankow (Partei Neue Menschen), Leonid Slutsky (LDPR) und Nikolai Charitonow (KPRF). Und dann gab es da noch Boris Nadeschdin von der Partei Bürgerinitiative. Zwar war er am 21. Februar von der Zentralen Wahlkommission als Kandidat nicht zugelassen worden; doch sein Auftauchen auf der politischen Bühne ist beachtenswert: Der 60-Jährige hatte aus dem Nichts KLARTEXT Lesen Sie hierzu das Dossier „Krieg und Frieden“ mit zahlreichen Beiträgen zum Thema auf furche.at. Russland beobachtet den Westen Was Russland beim Blick auf den Westen sieht, ist ermutigend: eine ziemlich lahme Partie. Schließlich befinden wir uns in einer Epoche, in der Waffen, Militär und Gewalt wieder zu den entscheidenden Jokern auf dem internationalen Parkett geworden sind. Die Ressourcen müssen freilich unterfüttert werden durch Entschlusskraft und Koordination. Aber der Westen, insbesondere Europa, hat sich bei vielen Krisen als Papiertiger gezeigt. Am Schicksal der Nachbarregionen Russlands war man nicht interessiert. Syrien hat man aufgegeben, ebenso Afghanistan. Alles verlorene Partien. In der Migrationspolitik hat man nichts weitergebracht, in der Ökologiepolitik hat man sich auf Versprechungen beschränkt, bei der Epidemiepolitik war Europa weitgehend abgemeldet. Die Trumpoiden tun ihr Bestes, Amerika und den Gesamtwesten zu schwächen. Aus russischer Sicht waren die Signale klar: Der Westen bringt nichts auf die Reihe. Wenn man Fakten setzt, weicht er zurück. Da mag man selbst eine Fehlkalkulation wie in der Ukraine Dass Putin bei den Präsidentschaftswahlen wiedergewählt wird, steht außer Frage. Warum lässt er sie überhaupt durchführen? Ein Erklärungsversuch. Organisierte Zustimmung Von Manfred Prisching verschmerzen, wenn sich das Problem auf Dauer ausbügeln lässt. Europäische Ukrainepolitik bietet schon auch Hilfe, aber vor allem viel Geschwätz. Jedenfalls bringt der reiche, dynamische und flexible Westen es nicht einmal zustande, hinreichend Munition zu produzieren, geschweige denn eine effiziente Waffenproduktion in die Gänge zu bringen. Dabei bräuchte er in der aktuellen Lage noch nicht einmal Personalressourcen einzusetzen, das machen die Ukrainer selbst. Denn die Mehrheit der Bevölkerung Westeuropas würde sich, empirischen Umfragen zufolge, ohnehin nicht mit der Waffe in der Hand wehren, sondern sich Putin gleich unterwerfen. Europa ist, im schlechten Sinn, „einladend“. Russland beobachtet das mit Vergnügen. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz. mehr als 200.000 Unterschriften für seine Kandidatur gesammelt – nicht zuletzt aufgrund seines „Njet“ zum russischen Krieg gegen die Ukraine. Ob Nadeschdin ein Fehler im System war, oder ob die Kreml-Technologen seinen kurzen, aber prominenten Auftritt bewusst zugelassen und seine Kampagne analysiert haben – darüber zu streiten, wäre müßig. Entscheidend ist, dass der Kreml die Unzufriedenheit mit dem Krieg, die sich in der Unterstützung für Nadeschdin zeigte, registriert hat. Die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung, die auch der russische Soziologe Lew Gudkow feststellt, dürfte Putins „Rede zur Lage der Nation“ beeinflusst haben. In zwei Stunden und sieben Minuten kündigte Putin – drei Wochen vor den Wahlen – zahlreiche soziale Förderprogramme an und widmete nur wenige Minuten dem Krieg. Er will ihn im Alltag vergessen machen. Zumindest vor der Wahl. Und das scheint ihm zu gelingen. Putins Zustimmungswerte sind hoch. Laut den Erhebungen des unabhängigen Lewada-Instituts, für das Gudwkow tätig ist, sind 86 Prozent der Befragten zufrieden mit seinem politischen Kurs. Das ist der höchste Wert seit der Vollinvasion in die Ukraine im Februar 2022. Damals sprang die Zustimmung von 71 auf 83 Prozent hoch, ging dann auf 77 Prozent im September 2022 runter, als das Regime eine „eingeschränkte Mobilmachung“ ausgerufen hatte und stieg dann wieder an. Erreicht hatte das Regime das auch damit, dass in der öffentlichen Sphäre Russlands der Krieg verdrängt wird. „ Die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung dürfte die ,Rede zur Lage der Nation‘ beeinflusst haben. So wurden etwa zahlreiche soziale Förderprogramme angekündigt. “ Foto: APA / AFP / Natalia Kolesnikova Dreitägiger Urnengang Es besteht kein Zweifel daran, dass der Gewinner von Russlands Präsidentschaftswahl ( sie findet vom 15. bis 17. März statt) Wladimir Putin heißen wird. Der Krieg existiert in Form von Heldengeschichten, in der Änderung von Gesetzen zur Einberufung und durchaus auch als reale Gefahr, weil ukrainische Drohnen regelmäßig ins russische Territorium eindringen, im Einzelfall sogar bis nach Moskau. Aber im Großen und Ganzen ist der Krieg ein fernes Ereignis. Außerdem habe sich die Einstellung vieler Menschen geändert, erläuterte der Soziologe Gudkow kürzlich in einem Interview mit dem kritischen russischen Medium „The Insider“, dessen Redaktion ins Ausland verlegt wurde. Gerade die gebildete Schicht habe begonnen, die eigene Machtlosigkeit, den eigenen Opportunismus, die eigene Kriecherei zu rechtfertigen und übernehme die alten imperialen Mythen. Gudkow sieht Russland auf dem Weg zu einem totalitären System, das sich aus den Scherben der Vergangenheit wiederherstellt. Dieser Wiederaufbau setzt nicht nur auf Informationskontrolle, sondern nutzt auch Repression. Sie zeigt sich im Mord an Alexej Nawalny, in den Dutzenden Strafverfahren gegen Kriegs- und Regimekritiker, in den Verboten von Nichtregierungsorganisationen und auch in den mehr als 2200 Gerichtsverfahren gegen Soldaten wegen unerlaubter Abwesenheit vom Einsatzort oder Desertion. Diese Repressionen seien kein Ausdruck eines gefestigten Regimes, sagen Fachleute. Vielmehr seien sie Ausdruck von Unsicherheit und Misstrauen. Und hier kommen wieder die Wahlen ins Spiel. Sie sind ein Test für die Stabilität und zugleich ein Mittel zur Stabilisierung der Macht. Damit das geplante Wahlergebnis legitim erscheint, muss die Wahlbeteiligung hoch sein. Traditionell sorgen staatliche Einrichtungen und staatsnahe Konzerne für eine hohe Wahlbeteiligung mit eigenen Beschäftigen. Über ein weiteres Werkzeug berichtet die Organisation „Golos“ (Stimme): Die größte und Putin-treue Partei „Einiges Russland“ soll ihre Mitglieder aufgerufen haben, die Abstimmung zu bestätigen, und zwar aus dem Wahllokal über eine bestimmte Internetseite, die vom Handy aus aufgerufen werden muss. So kann „Einiges Russland“ tracken, ob die registrierten Mitglieder abgestimmt haben. Korrektur der unerwünschten Ergebnisse Ein anderes Mittel sind erzwungene Wahlen in den besetzten ukrainischen Gebieten. Sie haben bereits am 25. Februar begonnen. Dass in diesen Gebieten die Wahlen überhaupt stattfinden, hat die G7- Gruppe dazu veranlasst, klarzumachen, dass sie „diese sogenannten ,Wahlen‘, vergangene wie zukünftige“ niemals anerkennen würden. Umgekehrt heißt es aber auch, dass es offenbar keine Überlegungen im Westen gibt, die Wahlergebnisse in Russland selbst nicht anzuerkennen. Die effektivste Möglichkeit zur Wahlmanipulation bietet die „elektronische Abstimmung auf Distanz“. Sie findet in 29 Regionen Russlands statt, in denen 43 Prozent aller Wahlberechtigten leben. Laut der Organisation „Golos“ sei der elektronische Wahlprozess intransparent, der Code des Programms geheim, die Möglichkeiten zur Manipulation groß. In den Regionen würden besonders staatliche Einrichtungen auf eigene Mitarbeiter Druck ausüben, elektronisch abzustimmen. So ließe sich ein unerwünschtes Ergebnis leichter korrigieren, berichtet das Online- Magazin Cholod. Eigentlich könnte Putin der Wahl ohnehin ruhig entgegenblicken. Laut „Russian Field“ haben in einer Umfrage Anfang März unter mehr als 2070 Befragten 66 Prozent angegeben, dass sie für Putin stimmen würden, wenn sie zur Wahl gingen. Und unter denen, die definitiv zur Wahl gehen wollen, sind es sogar 81,8 Prozent. Interessant ist aber das zweitstärkste Ergebnis der Umfrage: Addiert man zusammen, wer gegen alle Kandidaten ist, nicht zur Wahl gehen will, den Wahlzettel ungültig machen sowie die Frage nicht beantworten kann oder will: Dann sind das 19,2 Prozent der Befragten. Diese Stimmen sind ein Problem für Putin. Und deshalb werden sie seit 2006 nicht mehr berücksichtigt. Sie werden in der Masse der organisierten Zustimmung unsichtbar gemacht.
DIE FURCHE · 11 14. März 2024 Politik/Philosophie 7 Die Philosophin Hannah Arendt kritisierte die Idee einer Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina. Historikerin Annette Vowinckel über Arendts Israel-Kritik, ihre alternativen Vorschläge zum Nationalstaat und Visionen für Frieden im Nahen Osten. „Einen rein jüdischen Staat lehnte Arendt ab“ Das Gespräch führte Philipp Axmann In Nahost scheint der Frieden in weiter Ferne zu liegen. Ohne die heikle Frage nach der Staatlichkeit Israels und Palästinas zu stellen, wird es ihn freilich nicht geben. Die Philosophin Hannah Arendt antizipierte den Konflikt bereits in den 1940er Jahren. Die Historikerin Annette Vowinckel ist Mitherausgeberin der Arendt-Gesamtausgabe und eine der besten Kennerinnen der Philosophin. Im Interview erklärt sie Einsichten Arendts, die einen neuen Blick auf die aktuellen Ereignisse erlauben. DIE FURCHE: Die Jüdin und frühere Zionistin Hannah Arendt betrachtete die alleinige Staatsgründung Israels mit Sorge und prophezeite einen ewigen Konflikt – woran stieß sie sich? Annette Vowinckel: Dass 1948 nur der jüdische, nicht aber der arabische Staat gegründet wurde, sah Arendt sehr kritisch. Sie argumentierte schon damals, ohne Verständigung mit der arabischen Seite würde es zu einem unlösbaren Konflikt kommen – damit hat sie leider bis heute Recht behalten. Aber selbst die Zwei-Staaten-Lösung war für Arendt nicht die bevorzugte Variante. Einen rein jüdischen Staat nach dem Vorbild anderer klassischer Nationalstaaten lehnte sie jedenfalls ab. DIE FURCHE: Was war ihre Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung? Vowinckel: Ihre Lösung war ein binationaler Staat, in dem jüdische und arabische Menschen mit gleichen Rechten auf dem gesamten Gebiet des heutigen Israels und Palästinas leben würden. Arendts Ideen trieben aber auch Blüten, die aus heutiger Sicht eher absurd erscheinen. Etwa, dass dieser binationale Staat Teil des Commonwealth werden sollte, oder dass man ihn in eine Mittelmeer-Konföderation mit den Anrainerstaaten einbetten würde. Doch für diese Idee gibt es bis heute kaum politische Unterstützung. DIE FURCHE: Eine EU für den Nahen Osten also? Vowinckel: Die Idee war, dass die Teilstaaten wechselseitig als Checks and Balances fungieren, damit demokratische Strukturen gefördert werden und nicht ein Staat in der Region völlig wegdriftet. Aber wie beispielsweise Algerien, Libyen und Israel/Palästina zu einer solchen Konstruktion zusammenfinden sollten, ist völlig unklar. Arendt wurde hier nicht sehr konkret. Der Vergleich mit den Anfängen der EU bringt uns weiter: Es ging um Kooperation statt nationaler Alleingänge und Abgrenzung. DIE FURCHE: Wie geht man in Israel mit Arendts Erbe um – insbesondere ihrer Haltung zum israelischen Nationalstaat? Vowinckel: Arendt wurde in den jüdischen Gemeinden Nordamerikas und vor allem in Israel stets sehr kritisch rezipiert. Das lag aber weniger an ihren Ansichten zum Nahostkonflikt als vielmehr an der Kontroverse um „Eichmann in Jerusalem“. Die Debatten um die Zukunft Israels und Palästinas waren in den 1940er Jahren noch viel offener als sie das heute sind. Damals hatte Arendt zwar nicht allzu viele, aber immerhin sehr bedeutende Mitstreiter in der jüdischen Community. Dazu gehörten der Religionsphilosoph Martin Buber oder Judah Magnes, der erste Präsident der Hebräischen Universität Jerusalem. Beide haben sich intensiv für Frieden und Verständigung im Nahen Osten engagiert. DIE FURCHE: Wäre es in der aktuellen Debatte nicht aufrichtiger, Arendts Bedenken breit zu diskutieren? Könnten ihre Alternativvorschläge gar Ausgangspunkt für einen neuen Konsens werden – speziell was die antikolonialistische Israelkritik betrifft? Vowinckel: Die klügsten mir bekannten Kritiker Israels sind selbst Israelis, und die Fragen, die Arendt umtrieben, wurden von ihnen intensiv diskutiert, seit Israel 1967 zur Besatzungsmacht wurde. Dass Arendts Ideen einen neuen Konsens ermöglichen könnten, halte ich aber für ausgeschlossen. Dafür ist die israelische Gesellschaft zu weit nach rechts abgedriftet, und die Hamas ist als ein neuer Akteur dazugekommen, der vorrangig auf Gewalt mit dem Ziel der Vernichtung Israels und nicht auf Verhandlungen setzt. DIE FURCHE: Wie war Arendts Verhältnis zum Zionismus? Vowinckel: In ihrer Studienzeit engagierte sich Arendt für zionistische Ideen. Im Pariser Exil zwischen den Weltkriegen arbeitete sie für die Jugend-Alija, eine Organisation, die jüdische Kinder und Jugendliche nach Palästina brachte. Eine Gruppe begleitete sie auch selbst nach Palästina und verbrachte dort drei Monate. Arendt war aber nie Mitglied einer der zionistischen Großorganisationen. DIE FURCHE: Später verhielt sich Arendt deutlich kritischer zum Zionismus. Warum die Entfremdung? Vowinckel: Arendt beobachtete in den 1940er Jahren, wie sich die zionistische Bewegung im Foto: IMAGO / Bridgeman Images Kontext des Zweiten Weltkriegs weiter nach rechts bewegte. Ab der Biltmore-Konferenz in New York 1942 arbeitete die Zionistische Weltorganisation immer mehr darauf hin, in Palästina einen jüdischen – und zwar rein jüdischen – Staat zu schaffen, der sehr wenig auf Kooperation mit der arabischen Bevölkerung setzen würde. Das ist der Punkt, an dem sich Arendt vom zionistischen Projekt entfernt. „ Arendt meinte: Wo die Kommunikation aufhört und Gewalt einsetzt, ist die Politik zu Ende. “ DIE FURCHE: Einen rein jüdischen Staat lehnte Arendt also ab. Wie stand sie insgesamt zur Idee des Nationalstaats? Sah sie ihn an anderen Orten als geeignete Option? Vowinckel: Sie hatte damit immer ihre Probleme. Arendt war der Meinung, dass die Nationalstaaten des 18. und 19. Jahrhunderts an den modernen Problemen der Integration von Minderheiten völlig gescheitert sind. Sie war sehr skeptisch, dass nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall von Großreichen wie dem Habsburger- und dem Osmanischen Reich und der Gründung von Nationalstaaten auf demselben Gebiet eine Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen gelingen kann. Diese Skepsis hat sie auf den Nahen Osten übertragen – und wie man sagen muss: durchaus zu Recht. DIE FURCHE: Was wäre denn Arendts Alternative zum Nationalstaat? Vowinckel: Ihre Idealvorstellung war so etwas wie die Polis in der griechischen Antike. Dieses Modell des Stadtstaats ist für die moderne Gesellschaft aber nicht besonders gut geeignet. Ein Vorbild für Arendt waren die Vereinigten Staaten von Amerika – und zwar wörtlich als „Vereinigte Staaten“. Arendt legte viel Wert auf föderale Strukturen und Subsidiarität. Die regionale politische Selbstverwaltung steht im Vordergrund, aber es gibt auch eine Suprastruktur. Lesen Sie dazu Hans-Walter Ruckenbauers Text „Hannah Arendt: Das extrem Böse denken“ vom 12.10.2006 auf furche.at. Hannah Arendt (1906–1975) zählt zu den bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Die deutsche Jüdin flüchtete 1933 nach Paris und 1941 weiter nach New York. Arendts Arbeiten über den Eichmann-Prozess in Jerusalem und ihre These der „Banalität des Bösen“ wurden weltweit kontrovers diskutiert. DIE FURCHE: Was gefiel ihr an den USA besser als an europäischen Nationalstaaten? Vowinckel: Dass es nicht die Hegemonie einer Bevölkerungsgruppe über die anderen gibt, sondern eine Integration aller, die im Land leben, unabhängig von ethnischer, religiöser und nationaler Herkunft. Klar ist auch, dass das in den USA nicht immer so gelebt wird, wie Arendt es idealisiert darstellte. Als Arendt nach Amerika emigrierte, herrschte dort noch Rassentrennung. DIE FURCHE: Warum fokussierte sich Arendt so auf Subsidiarität und Föderalismus? Vowinckel: Arendt argumentierte, dass in solchen Strukturen die Politik dort ihren Ursprung nimmt, wo konkrete Probleme gelöst werden – ganz nach dem Vorbild der griechischen Agora, dem Marktplatz, an dem politische Fragen verhandelt wurden. Checks and Balances wie das Oberste Gericht Israels, gegen dessen Abschaffung bekanntlich letztes Jahr protestiert wurde, sah Arendts Modell ebenso vor. DIE FURCHE: Was war Arendts Politikverständnis? Vowinckel: Für sie war Politik immer Kommunikation. Politik ist die öffentliche Debatte, der Diskurs darüber, wohin sich ein Gemeinwesen entwickeln soll, wie es seine Konflikte und Probleme lösen will. Arendt meinte: Wo die Kommunikation aufhört und Gewalt einsetzt, ist die Politik zu Ende. Sie würde General Clausewitz also nie zustimmen, der sagte: „Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ DIE FURCHE: Was würde uns Arendt heute für eine Befriedung des Nahen Ostens raten? Vowinckel: Arendt hätte sicher zunächst auf die Kraft von Verhandlungen gesetzt, sie war aber auch keine Pazifistin. Die militärische Allianz gegen das „Dritte Reich“ war aus ihrer Sicht eine notwendige Voraussetzung dafür, dass man mit Deutschland nach dem Krieg überhaupt wie- FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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